Globale Gesundheit

Eine Bewegung der Straßen

18.06.2024   Lesezeit: 5 min

Breite Allianz trotz inhaltlicher Differenzen: Bericht von der People’s Health Assembly in Argentinien.

Von Felix Litschauer

Es sind die letzten warmen Tage Anfang April, bald wird in der Mar del Plata der Herbst beginnen. Bis auf ein paar Einheimische wirkt die Touristenhochburg Argentiniens wie leerfegt. Für sie ist die Ankunft von mehr als 600 Gesundheitsaktivist:innen aus 61 Ländern anlässlich der 5. People’s Health Assembly (PHA) sicherlich ein außergewöhnliches Ereignis. Drei Hotels, inklusive des Gewerkschaftshauses der Elektroarbeitergewerkschaft, das als Tagungsort fungiert, haben ihre Pforten für die Teilnehmer:innen geöffnet. Sie sind Teil des People’s Health Movement (PHM), das im Jahr 2000 von medico mitgegründet wurde. Es ist durchaus paradigmatisch, dass die PHA in Argentinien stattfindet. Die Wahl des ultraliberalen Präsidenten Javier Milei führte zu einem gravierenden und weitreichenden Ausverkauf des Sozialstaates. Das führt zur Verelendung zehntausender Argentinier:innen mit direkten Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand, den Armut macht bekanntlich krank. Auch während der Konferenz ist die argentinische Politik immer wieder präsent: so erreichen uns Nachrichten von Verhaftungen im Rahmen von Protesten gegen Entlassungen im Öffentlichen Dienst.

Das People’s Health Movement schafft das, woran viele linke Bewegungen scheitern: eine breite Allianz trotz inhaltlicher Differenzen. Gewerkschafter:innen, Kämpfer:innen für sexuelle und reproduktive Rechte, indigene Landlosenbewegungen und Klimaaktivist:innen finden hier einen gemeinsamen Nenner im Kampf für das Menschenrecht auf Gesundheit. Dass dieses weltweit bedroht ist, darin sind sich die Teilnehmenden der PHA einig: bedroht durch neoliberale Politiken, die die Privatisierung von Gesundheitsleistungen vorantreiben, medizinische Versorgung zu einer Ware machen und das Recht auf Profit vor das Recht auf Gesundheit stellen; bedroht durch die Folgen klimatisch bedingter Hitzewellen, Dürren und Überschwemmungen, welche die Lebensgrundlagen für Millionen Menschen insbesondere im Globalen Süden zerstören; bedroht durch Kriege, die ganze Gesundheitssysteme zerstören und Nährboden für Infektionskrankheiten sind. Und nicht zuletzt bedroht durch einen globalen rechtsextremen Backlash, der die Arbeit linker Gesundheitsaktivist:innen zu einem bisweilen lebensbedrohlichen Unterfangen macht.

Gesundheit ist ein Menschenrecht

Seit über 20 Jahren prangert das PHM die sozialen und politischen Ursachen schlechter Gesundheit an. Gegründet wurde es aus der Empörung darüber, dass sich die Welt immer mehr von den Verhältnissen entfernt, die die Staatengemeinschaft 1978 auf der Konferenz von Alma-Ata als notwendig für die Verwirklichung bestmöglicher Gesundheit begriff: Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit und bedarf globaler Gerechtigkeit in sozialer und ökonomischer Hinsicht. Dieses politische Verständnis von Gesundheit spiegelt sich auch in den Debatten auf der PHA in Argentinien wider.

Als antiimperialistische Süd-Süd-Bewegung solidarisiert sich das PHM deshalb in besonderer Weise mit denjenigen, die für Frieden und Freiheit als Grundlagen eines gesunden Lebens kämpfen. Und auch wenn die palästinensischen PHM-Aktivist:innen aufgrund verweigerter Visa nur online teilnehmen können, weht doch ein Geist der Solidarität durch das Kongressgebäude. medico-Partner:innen wie die Palestinian Medical Relief Society berichten von den systematischen Angriffen der israelischen Armee auf den Gesundheitssektor und von getöteten Kolleg:innen. Es sind Momente geteilter Trauer und Wut.

Gewalt gegen Gesundheitsarbeiter:innen steht auch im Fokus des von medico organisierten Workshops zu Gesundheitsaktivismus in Zeiten zunehmender Repression. Vier Vertreter:innen von medico-Partnerorganisationen teilen Erfahrungen, die unter die Haut gehen. Die Berichte aus Südafrika, Kenia, den Philippinen und der Türkei stehen exemplarisch für die weltweite Verfolgung von Gesundheitsarbeiter:innen und -aktivist:innen. Die Kolleg:innen berichten von willkürlichen Verhaftungen, Folter, physischer und psychischer Gewalt bis hin zu Tötungen. Was ihr Erleben eint: Der Einsatz für das Recht auf Gesundheit zieht zum Teil drastische staatliche Repression nach sich.

Das Engagement für ein Recht auf umfassende Gesundheit legt zudem immer wieder das Versagen der staatlichen Fürsorgepflicht offen, etwa wenn basale Gesundheitsleistungen kommerzialisiert werden. Diese Folgen der letzten 50 Jahre Neoliberalismus als Hauptursache schlechter Gesundheit immer wieder zu dokumentieren und anzuprangern, darin hat sich das PHM mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen und dem weltweit einzigartigen alternativen Gesundheitsbericht Global Health Watch besonders verdient gemacht. Im Interview mit der brasilianischen medico-Partnerorganisation Outra Saúde bringt es Román Vega, globaler Koordinator des PHM, auf den Punkt: „Der extraktive transnationale Kapitalismus verhindert die Verwirklichung der bestmöglichen Gesundheit für alle“. Ihm zufolge geht es dabei gleichermaßen um die Privatisierung von Gesundheitsdiensten wie auch um die Verletzung des Rechts auf gesunde Ernährung etwa durch intensive Agroindustrie und die Zerstörung der biologischen Vielfalt.

Dass der Kampf für Gesundheit in erster Linie auch ein Kampf gegen die politische Kontrolle von Körpern ist, dafür steht die Zeug:innenschaft der zahlreichen queerfeministischen Aktivist:innen, insbesondere aus den lateinamerikanischen Bewegungen, aber auch aus Indien oder Uganda. Sie klagen die Epidemie der Feminizide an und erinnern daran, dass der Kampf gegen das Patriarchat nicht mit dem legalen Zugang zu Abtreibungen gewonnen ist: "Ein Recht auf Gesundheit in der Verfassung ist nutzlos, wenn es keine Instanz gibt, die für die Umsetzung dieses Rechts verantwortlich ist“, sagt Adsa Fatima von der indischen Sama – Resource Group for Women and Health.

Veränderung von Machtverhältnissen

Verantwortlichkeiten offenlegen, Widerstand gegen gesundheitsschädliche Praxen organisieren, gesundheitliche und rechtliche Aufklärungsarbeit in den Communities: Auf der PHA werden zahlreiche Strategien diskutiert, um die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne bestmöglicher Gesundheit für Alle zu verändern. Einen wichtigen Anteil daran hat die Veränderung von Machtverhältnissen im Gesundheitssystem, so die Präsidentin des argentinischen Verbands der Allgemeinmediziner:innen, Pilar Galende Villavicencio.

Fünf Tage intensiven Erfahrungsaustauschs, des Teilens politischer Analysen und der Versicherung gegenseitiger Solidarität münden in einen starken Call to Action mit konkreten politischen Absichten, die die PHM-Aktivist:innen mit in ihre regionalen Netzwerke nehmen. Bei der gemeinsamen Demonstration zum Abschluss der Konferenz mischen sich die Rufe der Landlosenbewegung mit „Viva Palästina“-Chören und lauten Forderungen aus dem globalen feministischen Kampf. Die Stimmung ist sichtlich gelöst, überall lächelnde Gesichter. „Im Mittelpunkt unserer Versammlung steht die Kraft sozialer Bewegungen“, sagt Carmen Báez, regionale PHM-Koordinatorin für Südamerika. Hier zeigt das PHM noch einmal eindrücklich, dass es eine Bewegung der Bewegungen ist, deren Aktivist:innen sich zwar gerne auf Konferenzen treffen, ihre Kämpfe aber vor allem auf der Straße austragen.

Das People’s Health Movement ist die deutlich vernehmbare Stimme in der globalen Gesundheitspolitik, die sich dem Ziel „Gesundheit für Alle“ verschrieben haben. medico hat das Netzwerk mitgegründet und unterstützt dabei, die strukturellen Ursachen von Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu analysieren und anzuprangern.

Felix Litschauer

Felix Litschauer ist Referent für Globale Gesundheit bei medico international. Er ist Friedens- und Konfliktforscher und war lange aktiv in der Medinetz-Bewegung, die für das Recht auf Gesundheit von Geflüchteten kämpft. Zurzeit beschäftigen ihn besonders die Zusammenhänge von Klima- und Gesundheitsgerechtigkeit.

Twitter: @LitschauerFelix


Jetzt spenden!