Interview

Schuld und Schulden

25.11.2024   Lesezeit: 8 min  
#europa#klima#postkolonialismus

Warum das bestehende Finanzsystem eine klimagerechte Transformation verhindert – und wie sich Menschen dagegen organisieren.

Der Griff der globalen Schuldenkrise wird fester und allumfassender. Derzeit befinden sich 55 Länder des Globalen Südens inmitten einer Schuldenkrise. Es sind dieselben Länder, die auch besonders unter der globalen Klimakrise leiden. Es gibt eine weitere Überlappung: die Gläubiger dieser verschuldeten Länder sind die gleichen, die am stärksten zur Klimakrise beigetragen haben.

Das internationale Netzwerk Debt For Climate arbeitet mit Gruppen aus Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika daran, Macht von unten aufzubauen, um die Schulden des Globalen Südens zu streichen und eine selbstbestimmte, gerechte Transformation zu ermöglichen und damit den Weg für eine klimagerechtere Welt zu ebnen. medico international unterstützt sie dabei und sprach mit Dianx (aus Mexiko), Elaya und Robin (beide aus Deutschland), die Teil des Netzwerkes sind, über ihre Arbeit, ihre Ziele und die Herausforderungen ihres Vorhabens.

medico: Erzählt mal genauer von eurer Initiative. Welche Schulden sollen für wen gestrichen werden?

Dianx: Wir haben eine simple, wenn auch schwer durchzusetzende Forderung: Die bedingungslose Streichung aller Schulden der Länder des Globalen Südens. Die von den Gläubigern wie Weltbank und anderen an uns gerichtete Forderung nach der Zurückzahlung von Schulden erachten wir nicht als legitim. Es ist eher andersrum. Es ist der globale Norden, der eine historische, koloniale und klimatische Schuld gegenüber unseren Territorien trägt.

Elaya: Das Schuldensystem hat aus der kapitalistischen Ausbeutung etwas sehr Abstraktes gemacht. Es scheint zu komplex, um es zu verstehen und dagegen sprechen zu können. Die wenigsten sprechen heute noch von einer Kontinuität kolonialer Ausbeutungsverhältnisse, wenn sie auf die globalen Wirtschaftsbeziehungen schauen. Stattdessen ertönt seit den 1940er Jahren ein Entwicklungsdiskurs, der seit geraumer Zeit auch unter dem Begriff der Hilfe (Englisch „Aid“) läuft. Das Problem dabei: sowohl Entwicklung als auch Hilfe sind die Verlängerung dieses kolonialen Verhältnisses unter anderen Vorzeichen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und Weltbank spielen seit den 1970er Jahren bei der Konsolidierung einer internationalen Finanzarchitektur eine wichtige Rolle, die zu Privatisierung staatlicher Betriebe und Aufgaben, zur Verarmung der Bevölkerung und Umweltschädigung geführt hat. Zusammen mit den Ländern des globalen Nordens leihen sie an Bedingungen gekoppelte „Entwicklungshilfe“. Oftmals sind es Gelder für Großinfrastrukturprojekte, um die die lokalen Bevölkerungen selten gebeten haben.

Das Thema der Verschuldung ist klar geworden. Aber welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Schulden und der Klimakrise? Oder anders gefragt: Warum führt die radikale Schuldenstreichung zu Klimagerechtigkeit?

Dianx: Damit wir unsere Schulden bedienen können, die meistens in US-Dollar notiert sind, sind wir gezwungen Waren zu exportieren, oft Rohstoffe. Konkret bedeutet das eine Exportstruktur unserer Ökonomien. Wir müssen alle unsere Waren in Form von natürlichen Ressourcen oder in Form von billigen Arbeitskräften exportieren. 85 Staaten des globalen Südens sind strukturell abhängig von ihren Rohstoffexporten. Zu den Exportgütern zählen zum großen Teil fossile Energieträger, die mittels umweltschädlichem Extraktivismus gefördert werden. Das gilt etwa für Gas in Argentinien und Mosambik, Öl in Uganda, Kohle in Kolumbien und Nickel in Indonesien. Außerdem werden Staaten über Kreditkonditionen vom IWF dazu gezwungen, ihre Landwirtschaft auf sogenannte Cash-Crops umzustellen oder ihre Wälder abzuholzen. Diese ganze Exportstruktur führt zu einer Verschärfung der Klimakrise, zu einer Auslaugung der Böden, zu vergiftetem Wasser und zu zerstörten oder gewaltsam vertriebenen Gemeinden. Sie hindert uns zudem daran, selbst nachhaltige Produktionsweisen zu etablieren. Deswegen sind Schulden einer der zentralen Treiber der Klimakrise.

Elaya: Aufgrund der Dynamik internationaler Kreditmärkte, führt die starke Betroffenheit durch die Klimakrise noch zusätzlich dazu, dass Investitionen in Ländern des Globalen Südens als besonders riskant kategorisiert und entsprechend bepreist werden. Dadurch steigen die Zinssätze für Kredite und das treibt die Länder noch tiefer in die Schuldenfalle.

Dianx: Erschwerend kommt hinzu, dass seit dem Pariser Abkommen im Jahr 2015, der IWF in über 100 Fällen den Ausbau von fossiler Infrastruktur zur Bedingung seiner Kreditvergabe bei sogenannten Entwicklungsprogrammen gemacht hat. Dadurch wird verhindert, dass der Ressourcenreichtum der Länder für eine eigene, selbstbestimmte, gerechte Energiewende genutzt werden kann.

Robin: Andersherum bedeutet es natürlich nicht, dass fossile Energieträger Geschichte sind, sobald alle Schulden gestrichen sind – aber: Die Streichung der Schulden ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Kohle im Boden bleiben kann.

Oft werden Forderungen nach Begrenzung des Wachstums und Forderungen nach Arbeitsplätzen und wirtschaftlicher Entwicklung in Widerspruch zueinander gestellt. Welche Beziehung habt ihr vor diesem Hintergrund zu Gewerkschaften?

Elaya: Wir versuchen das Schuldensystem als einen gemeinsamen Bezugspunkt zu denken, der zwischen den Akteuren eine Brücke baut. Dazu gehören indigene und feministische Gruppen, die Klimagerechtigkeitsbewegung – und eben auch die Gewerkschaften. Die finanziellen Mittel fehlen allen Bereichen der Gesellschaften im Globalen Süden.

Dianx: Ein großer Teil der Arbeitsleistung der Leute geht dafür drauf, die Schulden und die Schuldentilgung zu leisten. Auf dem afrikanischen Kontinent beispielsweise werden durchschnittlich 11 Prozent der Staatsausgaben für die Schuldentilgung aufgebracht, während in das Gesundheitssystem lediglich 8 Prozent investiert wird. Das ist dramatisch. Dank dem Verschuldungsmechanismus entscheidet der IWF sogar mit, in welchen öffentlichen Bereichen Kürzungen gemacht, rationalisiert oder umstrukturiert werden soll, damit die Schulden zurückgezahlt werden. An dieser Stelle vermischt sich ein koloniales Verhältnis mit einer neoliberalen Logik, wie dieses Verhältnis politisch organisiert werden kann.

Robin: Im Gegensatz zu unserer Genossin Dianx in Mexiko, haben wir bei Debt for Climate in Deutschland, einem Land, welches von dem Schuldensystem strukturell profitiert, andere Hebel. Wir machen klar: Die Forderung nach Schuldenstreichung ist eine Forderung, die nicht auf die unteren Einkommensschichten, sondern auf die obere Klasse und den Finanzsektor abzielt. Arbeiter:innen in Deutschland sind davon erstmal nicht negativ betroffen. Ganz im Gegenteil – in von der Schuldenlast befreiten Staaten im Globalen Süden könnten so die Löhne steigen. Unternehmen in Deutschland hätten es schwerer, ihre Arbeit ohne weiteres an Billiglohnländer outzusourcen. Das ist natürlich vereinfacht dargestellt, aber es zeigt auf, wie ein Bruch mit dem Schuldensystem zu einer gerechteren globalen Wirtschaft beitragen würde, von der auch die lohnabhängigen Menschen in Deutschland profitieren.

Ihr setzt euren Fokus auf die Weltbank und den IWF. Mittlerweile ist China einer der größten Schuldner in Afrika und auch viele neue private Investoren mischen mit. Wie verändert sich eure Kampagne angesichts dessen?

Robin: Zunächst: der allergrößte Teil der Staatsschulden des Südens läuft nach wie vor auf US-Dollar und wird von privaten Finanzmarktakturen und multilateralen Organisationen wie dem IWF gehalten. Aber es stimmt: China gewinnt geopolitisch immer mehr an Einfluss. Schulden werden dafür als Unterpfand genutzt. Möglich ist die Ausweitung des chinesischen Einflusses aber nur aufgrund des Erbes der Staatsschulden, mit dem die meisten ehemals kolonisierten Länder zu kämpfen haben. So wurden zum Beispiel die Schulden aus der indischen Kolonialzeit einfach so auf das unabhängige Indien übertragen. Vielen anderen Ländern, die sich vom Kolonialismus befreiten, erging es ähnlich. Wir richten unsere Forderung deswegen vor allem an IWF und Weltbank, weil es hier eine politische Einflussmöglichkeit gibt. Aber wir fordern auch die privaten auf, sich an Streichungen zu beteiligen. Jede Streichung, die wir erwirken können, reduziert die Druckmittel– egal ob nun von China, dem IWF oder BlackRock –, um die Rückzahlung einzufordern.

Ihr habt es bereits erwähnt, die bedingungslose Streichung aller finanzieller Schulden ist zwar eine einfache Forderung, aber gerade in der radikalen Form auch eine Forderung die schwer durchzusetzen ist. Was sind eure konkreten Strategien und Pläne, um diesen Druck auf deutscher und internationaler Ebene aufzubauen?

Dianx: 2025 ist das nächste so-genannte Erlassjahr. Ende nächsten Jahres findet zudem die COP30 im Amazonasgebiet in Brasilien statt. Wir planen eine große Karawane nach Belém do Pará, dem Austragungsort der COP30. Dafür wollen wir in Mexiko beginnen und auf dem Weg dorthin alle unsere Bündnispartner:innen einsammeln. Eines unserer Ziele ist, dass wir den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva bis dahin soweit unter Druck gesetzt haben, dass er sich mit einer öffentlichen Rede für eine Schuldenstreichung ausspricht. Unser erster Schritt ist es also, gesellschaftliche Macht von unten und ein öffentliches Bewusstsein aufzubauen, um damit die Politik unter Druck zu setzen. Im zweiten Schritt wollen wir die Staaten und Regierungen, deren Menschen und Regionen unter dem Schuldensystem leiden, dazu bringen, sich gegen das ausbeuterische Schuldensystem zu stellen und zu sagen: „Wir beugen uns euch nicht! Wir streichen eure Forderungen nach Rückzahlung der finanziellen Schulden!“

Robin: Wir beginnen also nicht bei den Gläubigerstaaten, damit diese unter dem Vorwand der Wohltätigkeit die Schulden erlassen. Die entscheidende Möglichkeit zur Handlung und Veränderung liegt in den Ländern des globalen Südens, Schulden müssen selbstbestimmt gestrichen, nicht erlassen werden. Ein solcher Zahlstreik würde sicherlich politische Turbulenzen auslösen. Unsere Aufgabe in Deutschland ist es dann zu sagen: „Diese Entscheidung ist legitim – und richtig.“

Auf der aktuellen Weltklimakonferenz wurde über die Notwendigkeit von Klimafinanzierung verhandelt, also über die Unterstützung der finanziellen Kapazitäten der am meisten betroffenen Länder sich an die Klimakrise anzupassen, Katastrophen vorzubeugen und mit entstandenen Schäden umzugehen. Wie denkt ihr darüber?

Robin: Die Weltklimakonferenzen ist zwar eine wichtige politische Bühne, aber bestimmt nicht der zentrale Hebel, durch den sich die Lage der Länder des Globalen Südens verbessert. Klimafinanzierung, wie auf der COP diskutiert, bedeutet, dass die Länder Kredite mit sehr hohen Zinssätzen zugewiesen bekommen, um Anpassungsmaßnahmen vorzunehmen, für eine Krise, die sie nicht mit verursacht haben. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun?

Das Interview führte Karin Zennig. Übersetzung Gunnar Bantz.


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