Interview

Überraschender Freispruch

27.05.2024   Lesezeit: 5 min

Nach dem Schiffsuntergang vor der griechischen Stadt Pylos im Sommer 2023 mit über 600 Toten wurden 9 Ägypter als vermeintliche Schmuggler verhaftet. Interview mit Anwältin Natasha Dailiani.

medico: Vergangene Woche wurden die Pylos9 vom Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Menschenschmuggel und illegalem Grenzübertritt freigesprochen. Als Legal Centre Lesvos habt ihr ihre Verteidigung mitorganisiert. Wer waren die neun Angeklagten?

Natasha Dailiani: Angeklagt waren neun Männer aus Ägypten im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Sie waren keine Schmuggler, sondern haben selbst Geld bezahlt, um von Libyen nach Italien zu gelangen. Auf dem Schiff befanden sich Menschen aus Syrien, Pakistan, Palästina und Ägypten.

Leider ist der Freispruch ein Erfolg, der nicht richtig gefeiert werden kann. Auch mehr als eine Woche nach dem Urteil sind die Betroffenen noch immer im Gefängnis. Die griechische Polizei stuft sie weiterhin als Gefahr ein. Sie hätten keine Reisedokumente, keine Meldeanschrift in Griechenland und ihr Asylantrag laufe noch. Nun sollen sie bis zum Tag ihres Asylinterviews inhaftiert bleiben – obwohl sie bereits mehr als elf Monate in Untersuchungshaft saßen. Das ist eine Form der Rache. Wir versuchen gerade alles, sie möglichst schnell freizubekommen.

Normalerweise werden Geflüchtete, die in Griechenland wegen illegalem Grenzübertritt angeklagt sind, zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt. Tausende sitzen deswegen hinter Gittern. Wie erklärt ihr euch den überraschenden Freispruch der Pylos9?

Juristisch gesehen ist es schlicht die richtige Entscheidung. Wir hatten als Verteidigungsteam argumentiert, dass das griechische Gericht gar nicht zuständig ist, weil das Schiff in internationalen Gewässern untergegangen ist. Das Gericht hat diesem zentralen Einwand stattgegeben. Selbst der Kapitän des Schiffes der griechischen Küstenwache, das beim Untergang vor Ort war, bestätigte dies ebenso wie das zivilgesellschaftliche Notrufprojekt Alarm Phone und sogar Frontex, die jeweils Hilfegesuche erhielten. Es war also eine juristisch korrekte, eine mutige und auch eine sehr menschliche Entscheidung.

Zweitens gibt es hier eine politische Dimension. Denn der Freispruch rettet das Gericht davor, den Kern des Verfahrens untersuchen zu müssen: die Gründe für den Schiffsuntergang, für den die Männer auch verantwortlich gemacht worden waren. Wäre das Verfahren weitergegangen, hätte der Kapitän der griechischen Küstenwache befragt werden müssen zur Rolle seines Schiffes, das eine große Verantwortung für den Untergang trägt. Dazu haben wir sehr viele Zeug:innenaussagen und Dokumente. Das wäre eine große Sache geworden. Aber für unsere Klienten ist der Freispruch natürlich das beste Ergebnis.

Ein dritter Grund dafür war die große Aufmerksamkeit, die das Verfahren hatte. Im Gerichtssaal waren internationale Beobachter:innnen, ägyptische Diplomaten, Politiker:innen der Opposition, der UNHCR und viele andere Expert:innen. Jeder Satz, der gesagt wurde, erhielt auch mediale Aufmerksamkeit.

Welche Rolle hat die internationale Solidaritätskampagne gespielt?

Die Kampagne war sehr wichtig für uns, denn es gab viele Zweifel an der Unschuld der Betroffenen. Die Solidaritätskampagne schützte uns vor der Isolation und schuf ein Netzwerk, das auch materielle Unterstützung für die Angeklagten und ihre Angehörigen leistete. Wenn es diese Strukturen nicht gegeben hätte, wäre es um den Fall sehr still geworden. Es gab zwar ehrenamtliche Übersetzer:innen, aber es bleiben sehr viele Hürden, wenn man die Sprache nicht spricht. Jede Kommunikation aus dem Gefängnis braucht Geld.

Wie habt ihr als Legal Centre Lesvos geholfen?

Wir haben zwei von neun Anwält:innen gestellt, viel Koordinations- und Öffentlichkeitsarbeit gemacht, um die Unschuld der Angeklagten auch in der Öffentlichkeit zu beweisen. Ich habe sie mehrmals im Gefängnis besucht; außerdem standen wir in ständigem Austausch mit den Familien der Betroffenen. In Zusammenarbeit mit dem Unterstützungsnetzwerk und Teil der Pylos9-Kampagne haben wir die Inhaftierten mit Kleidung und Telefonkarten versorgt. Für das Verfahren haben wir eine unabhängige Experteneinschätzung zu den Gründen des Schiffuntergangs organisiert.

Offenbar hat die griechische Küstenwache den Untergang verursacht, indem sie das Boot durch ein riskantes Manöver in italienische Gewässer ziehen wollte. Gibt es eine Chance, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden?

50 der 104 Überlebenden des Schiffsuntergangs haben Griechenland verklagt. Die Verantwortung soll jetzt vor einem Marinegericht geklärt werden. Der Prozess befindet sich aber seit fast einem Jahr im Vorverfahren und wir wissen nicht, wie entschieden wird. Nach Abschluss unseres Verfahrens wird sich der Fokus jetzt auf die Küstenwache richten – und wir werden Druck machen, damit das Verfahren nicht einfach einstellt oder nur eine oberflächliche Untersuchung durchgeführt wird. Hunderte Menschenleben wurden ausgelöscht. Das macht eine sehr tiefgreifende und ernsthafte Untersuchung notwendig.

Schön zu sehen war, dass die Anwält:innen der Überlebenden letzte Woche im Gerichtssaal dabei waren. Sie haben verstanden, dass diese neun Menschen nur Sündenböcke waren und unterstützt werden müssen.

Als Legal Centre Lesvos verteidigt ihr die Rechte von Geflüchteten juristisch. Was kann eure Arbeit angesichts der anhaltenden Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen noch leisten?

Der Fall der Pylos9 ist nur ein Beispiel der vielen Rechtsverletzungen, die jeden Tag an den europäischen Außengrenzen geschehen. Zwar sollen die Pushbacks nach dem Schiffsuntergang zurückgegangen sein, aber die Kriminalisierung von Geflüchteten an den Grenzen geht weiter. Die Behörden sind jetzt vielleicht etwas vorsichtiger, aber wenn man sieht, wie die Freigesprochenen behandelt werden, ist klar, dass ihre Rechte nicht geschützt werden. Dafür braucht es tiefgreifende Veränderungen in Europa, im politischen Feld aber auch in der Gesellschaft. Dafür streiten wir als Anwält:innen vor allem im Gerichtssaal, aber auch darüber hinaus.

Das Interview führte Kerem Schamberger.

medico-Partnerorganisationen leisten humanitäre Nothilfe, medizinische Versorgung, psychologischen Beistand und Rechtsberatung für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten. In Herkunfts- und Transitländern, bei uns, in Netzwerken der Solidarität. Für das Recht auf ein Leben in Würde – überall.


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