Das Attentat von Solingen ist grausam und erschütternd und unsere Gedanken sind mit den Opfern und ihren Angehörigen. Doch anstatt über die Ursachen islamistischer Gewalt nachzudenken, ist die Reaktion durch die politischen Parteien hindurch ein pauschales Abstrafen all jener Menschen, die hier Schutz suchen oder als fremd markiert werden.
Beim Thema Migration sind wir es gewohnt, dass nicht mit Fakten und auf Basis der internationalen wie nationalen Rechtsordnung argumentiert wird, sondern mit rassistischen Bildern und Phantomforderungen. Wenn zudem in der Wahlkampfzeit ein islamistisches Attentat passiert, scheint gar jegliche weitere Rationalität fallen gelassen zu werden. So fordern die Vorsitzenden der christdemokratischen Parteien seitdem nichts anderes als den offenen Verfassungsbruch, wenn sie verlangen, gerade für jene Flüchtlinge die Grenzen zu schließen, die immer noch mit einer 88 Prozent Gesamtschutzquote in Deutschland rechnen können. Solange Deutschland noch Teil des internationalen Völkerrechts und der europäischen Grundrechtscharta ist, ist dies gerade nicht möglich – das verbietet der Grundsatz des Non-Refoulement, das völkerrechtliche Verbot der Zurückweisung von Schutzsuchenden. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus und der Ermordung von Millionen von Menschen. Mit ihr steht und fällt auch das Verhältnis eines Staates zur Menschenwürde.
Die SPD hat sich vor der CDU hertreiben lassen. Auf Anordnung von Nancy Faeser sollen ab dem 16. September wieder systematische Grenzkontrollen an allen deutschen Landgrenzen stattfinden. Die von der Ampel-Regierung vorgeschlagenen Grenzverfahren sind kaum besser als die Vorstöße von Friedrich Merz und ebenso europarechtlich höchst problematisch. Sie sind ein Revival von Seehofers Transitzonen, die 2018 aus guten Gründen abgelehnt wurden. Wenn sie umgesetzt werden, bedeuten sie monatelange de-facto Haft geflüchteter Menschen in grenznahen Infrastrukturen. Und doch werden sie nichts daran ändern, dass Menschen weiter nach Europa und Deutschland kommen werden.
Andere Forderungen, wie die vollständige Streichung der finanziellen Unterstützung für bestimmte Gruppen von Geflüchteten, zielen darauf ab, ihnen die Lebensgrundlage zu entziehen. All diese Vorschläge, den Sozialstaat für Geflüchtete immer weiter einzuschränken, folgen dem Prinzip der »hostile environments« – es geht offen darum, feindliche Umwelten zu schaffen. In England und Dänemark hat diese Politik zwar etwas die Zahlen derer gesenkt, die noch in der Migrationsstatistik auftauchen – vor allem hat es aber zu einem grassierenden Rassismus und einer sich ausbreitenden direkten Gewalt gegen diese Menschen geführt. Zusätzlich sind die vorgeschlagenen Maßnahmen auch noch sozialrechtlich verfassungswidrig. Leistungskürzungen als Abschreckungsmaßnahmen sind nicht vereinbar mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot, so urteilte schon 2012 das Bundesverfassungsgericht mit dem zitierwürdigen Satz: »Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«. Auch der Vorschlag, Asylverfahren in Länder wie Ruanda auszulagern, ist in Deutschland rein rechtlich nicht umsetzbar. Bislang ist er auch überall dort gerichtlich abgewiesen worden, wo er wie in England am lautesten verfolgt wurde.
Aber vor allem in Bezug auf die Prävention islamistischer Gewalt sind die Abschiebungen nach Afghanistan – und in Zukunft wahrscheinlich auch nach Syrien – ein grundlegend falscher Weg: Wer ein Terror-Regime wie die Taliban, und sei es auch über Vermittlung anderer autoritär regierter Staaten wie Katar, politisch legitimiert, fördert den Islamismus. Wer Menschen, die von Traumata belastet und von Rassismus betroffen sind, in immer prekärere und aussichtslosere Lebenssituationen zwingt, betreibt auch keine Präventionsarbeit gegen Gewalt, sondern erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit vonGewalttaten. Die Absage an das Bundesaufnahmeprogramm aus Afghanistan, das eingepferchte Leben von Geflüchteten in Unterkünften, der rassistische Diskurs, Ausgrenzung und ständig drohende Abschiebungen sind Gift für ein friedliches Zusammenleben.
Sicherlich wurde die Gefahr eines wiedererstarkenden IS unterschätzt. Doch dem lässt sich nicht mit einer restriktiven Flüchtlingspolitik entgegenwirken. Eine hundertprozentige Sicherheit vor islamistischen Anschlägen lässt sich nicht erreichen. Aber es können diejenigen gestärkt werden, die die reaktionäre Ideologie des IS bekämpfen. Dies sind gegenwärtig vor allem die demokratische Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien, die aber unter ständigem Bombardement des türkischen Staates steht. Ebenso können wir diejenigen stärken und unterstützen, die vor dem Terror von IS oder islamistischen Regimen wie den Taliban geflohen sind und sich gegen ihre Ideologie stellen: dem Großteil von afghanischen und syrischen Geflüchteten, die in Deutschland Schutz suchen.
Das eigene Grab schaufeln
Doch das Erschreckendste ist, dass die Parteien der selbst »extrem gewordenen Mitte«, die immer drastischere Forderungen vor sich hertragen, nicht erkennen, wie sehr sie damit zu den Erfolgen der AfD selbst tagtäglich beitragen. Wenn die Regierungs- und Oppositionsparteien Erwartungen wecken, die mit einem liberalen Rechtsstaat nicht vereinbar sind – wie der mantraartige Ruf »die Grenzen zu schließen« und »im großen Stil abzuschieben« – ist es ein Leichtes für rechte Parteien, diese vor sich herzutreiben. Kaum etwas hätte die Erfolge der AfD so steigern können, wie die migrationsfeindliche Dauerdebatte, die seit letztem Sommer tobt. Die Menschen wählen das Original wie AfD und CDU/CSU, nicht die Kopien wie SPD, Grüne und FDP.
Wer es miterlebt hat, fühlt sich in die 1990er zurückversetzt. Im Schein brennender Flüchtlingsunterkünfte und wütenden Protesten auf den Straßen Mannheim-Schönaus oder Rostock-Lichtenhagens wurde auch damals an das grundgesetzlich verbriefte Asylrecht Hand angelegt. Konservative trieben die Sozialdemokrat*innen vor sich her, bis es zu einem großen Schulterschluss aller Parteien kam und ein »Asylkompromiss« getroffen wurde – eine Verfassungsänderung, die das Recht auf Asyl massiv einschränkte. Gegenwärtig zeichnet sich ein ähnlicher Schulterschluss innerhalb des Parteienspektrums ab. Zudem ist das Innenministerium mitten in der nationalen Umsetzung des auf EU-Ebene beschlossenen »Pakts für Migration und Asyl« zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, der sowieso schon zahlreiche Spielräume für die Aushebelung von Grundrechten beinhaltet.
Gegen menschenverachtende Ideologien vorgehen
Doch gleich wie sehr Grundrechte beschnitten werden – Migration lässt sich nicht einfach so stoppen. Das besagt nicht nur die Forschung, es bezeugen vor allem auch die alltäglichen Lebenswelten von Millionen von Menschen hierzulande – ebenso ist dies für die komplette Welt außerhalb Europas selbstverständlich. Kurzum, wir leben schon lange in einer Migrationsgesellschaft, in der sich Vielfalt nicht mehr ausradieren lässt. Es gibt kein Zurück in eine »heile Welt der harten Grenzen«, die alle Bedrohungen vor dem Zaun halten kann, wie es selbst Rechtswissenschaftler*innen gerade fordern. Und die Bevölkerung war noch nie homogen, wie es die Rede von beschaulicher Heimat intendiert, selbst nicht im NS.
Gewalt und Hass können wir nur entgegentreten, indem wir für den Erhalt von Grundrechten einstehen, nicht für ihren Abbau. Wer die pauschalen Forderungen nach Abschottung und Abschiebung mitträgt, ebnet den Weg für das »Remigrations-Konzept« der Rechten: Der Ausweisung aller, die nicht als »bio-deutsch« betrachtet werden. Gerade jetzt braucht es ein überzeugendes Bekenntnis aller demokratischen Parteien, für Grundrechte und die Verteidigung der Menschenwürde einzustehen. Es braucht ein Bekenntnis, das sich nicht länger in hohlen Phrasen genügt, sondern Worten Taten folgen lässt. Dafür braucht es ein Mindestmaß an Vernunft und Haltung. Hoffen wir, dass dies noch irgendwo zu finden ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Analyse&Kritik vom 17. September 2024.