Kommentar

Ambivalenz der Zeitenwende

13.02.2025   Lesezeit: 4 min  
#krieg 

Politische Neuausrichtung in einer krisengeschüttelten Welt – oder Einstieg in eine Kriegs- und Aufrüstungslogik?

Von Mario Neumann

Was genau ist eine Zeitenwende? Das fragen sich wohl immer noch viele, seit vor knapp drei Jahren Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des deutschen Bundestages seine viel zitierte Rede zum Thema hielt und der Begriff daraufhin zum geflügelten Wort wurde. Nur wenige Tage auf die russische Invasion der Ukraine folgend erklärte er damals: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“

Als Reaktion auf den Beginn des größten Krieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg schwor der Kanzler das Land dann auf einen sicherheits- und außenpolitischen Kurswechsel ein. Und er kündigte neben der militärischen Unterstützung der Ukraine die Ausweitung deutscher Verteidigungsfähigkeit an.

Man kann sicher unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob die von Scholz bemühte „Welt davor“ tatsächlich erst im Februar 2022 untergegangen ist – oder ob der Ukraine-Krieg nicht vielmehr „nur“ einen der Kipppunkte im geopolitischen Machtgefüge darstellt, das schon zuvor von vielen Analysten als „konfliktueller Multipolarismus“ bezeichnet wurde. Die neue Zeit jedenfalls hat in Deutschland und Europa seitdem zweifellos begonnen. Doch ihre Bearbeitung hat eine unscharfe Kontur: Soll die Zeitenwende eine politische Neuausrichtung in einer krisengeschüttelten Welt bedeuten oder läutet sie vielmehr den Einstieg in eine Kriegs- und Aufrüstungslogik ein?

Der Bundeskanzler agierte in dieser Frage stets ambivalent. Mehrheitlich scheinen die Akteure der Berliner Republik jedoch einem Verständnis von Zeitenwende anzuhängen, das auf eine möglichst rasche Militarisierung der Politik abzielt und die Logik des Krieges festigt, in der vor allem Aufrüstung, Kriegstüchtigkeit und Waffenlieferungen die Mittel der Wahl sind, auf die geopolitischen Herausforderungen zu reagieren. Mit viel behauptetem Pragmatismus und viel behaupteter Alternativlosigkeit wurde die Aufrüstung der Ukraine gefordert und jeder Zweifel moralisch gegeißelt.

Der strategische Horizont dieser Logik scheint sich – allem behaupteten Pragmatismus zum Trotz – in einer recht undefinierten Idee eines westlichen „Sieges“ über Russland zu gründen, dem sowohl die eigenen politischen Vorhaben als auch das Schicksal der Ukraine geopfert werden müssen. „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben. Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben.“ So klingt das in den Worten Ursula von der Leyens aus dem Juni 2022.

Was auch immer vom „europäischen Traum“ oder seinem westlich-amerikanischen Spiegelbild heute übrig sein mag, gestorben sind für ihn mittlerweile tatsächlich viele Ukrainerinnen und Ukrainer. Die allermeisten von ihnen als Soldaten an der Front, an der sich mittlerweile ein Abnutzungskrieg abspielt, der von einigen schon – wohl nicht ganz zu Unrecht – mit Verdun verglichen wird. Das Ausmaß an Leid und Tod kann zwar nur geschätzt werden, denn „die militärischen Verluste der Ukraine sind eines der bestgehüteten Geheimnisse im Krieg“ (zdf heute). Unabhängige Zahlen, die meist auf Schätzungen und unterschiedlichen Hochrechnungen beruhen, geben dementsprechend keine genaue Auskunft, skizzieren aber zumindest eine recht eindeutige Dimension: Es dürften mittlerweile weit über 100.000 ukrainische Soldat:innen gefallen sein, auf russischer Seite noch einmal deutlich mehr.

Was angesichts dieses Ausmaßes des Krieges auffällt, ist die engspurige Logik, in der sich die deutsche Debatte um die Zeitenwende weiterhin bewegt. Die Vehemenz, mit der fast jede politische Vorsicht der Regierung als Schwäche ausgelegt und jeder Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Krieges in die Nähe des Putinismus gerückt wird, kann nur notdürftig kaschieren, dass aus der Sieges- und Selbstgewissheit der ersten Tage mittlerweile eine große Ratlosigkeit geworden ist. Die europäische Außenpolitik steckt tatsächlich in einer Sackgasse. Und diese betrifft nicht nur den Ukraine-Krieg, sondern auch andere globale Herausforderungen, vor denen Europa und Deutschland heute stehen.

Der illusionäre Traum von einem „Sieg“ über Russland, der zur Wiederherstellung vergangener Zeiten führen soll, versteht die Zeitenwende gewissermaßen als einen auf gegenwärtige Konflikte begrenzten Prozess. Doch das krisenhafte und kriegerische Geschehen, das den Verlust der globalen Hegemonie der USA begleitet, ist ein umfassender und unumkehrbarer Prozess, der neue und große Ideen jenseits des Schlachtfeldes erfordert. Es müssten dringend politische, intellektuelle und finanzielle Ressourcen freigelegt werden, die in Zukunft die Militarisierung schwelender Konflikte verhindern und deren politische Bearbeitung ermöglichen können. Dass die Zeitenwende in Deutschland derzeit von Rückbau beim Klimaschutz, Kürzungen humanitärer Hilfe und einer Debatte über die Abschaffung des Entwicklungshilfeministeriums BMZ begleitet wird, zeigt, wie kurzsichtig und einseitig man die globale Krise zu bearbeiten gedenkt. Mit ein paar Panzern mehr oder weniger wird man ihr nicht beikommen.

Zuerst erschienen im Security.Table Briefing vom 7. Februar 2025.

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell


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