Globale Gesundheit in der Krise

Die schleichende Katastrophe

09.09.2013   Lesezeit: 10 min

Die Nachrichten, die uns aus Griechenland erreicht haben, sind erschütternd: „Steigende Suizid-Zahlen aufgrund größter Wirtschaftskrise seit 1929“, „Chronisch Kranke ohne Zugang zu Medikamenten“, „Zahl an HIV-Infektionen verdoppelt“. Und sie rufen den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren und der Gesundheit der Menschen in Erinnerung. Die Politik des Sparens in Zeiten der Krise kostet nachweislich Menschenleben. Katastrophen wie Kriege, Hungersnöte oder Überschwemmungen werden ein weitaus tragischeres Ausmaß haben in einer von der Krise geschwächten Weltbevölkerung – wird dem Recht auf eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung aller keine Priorität eingeräumt.

„Die aktuelle wirtschaftliche Rezession hat eine tiefgreifende Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen und wird höchstwahrscheinlich die gesundheitliche Ungleichheit deutlich verstärken. Die vulnerabelsten und am stärksten benachteiligten Teile der Bevölkerung sind deutlich stärker betroffen von der globalen Wirtschaftskrise, die Auswirkungen sind vergleichbar mit einer Naturkatastrophe”, stellte der Gesundheitswissenschaftler Sir Michael Marmot in seinem Zwischenbericht für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2011 fest (Marmot 2011). Mit der Finanzmarktkrise Ende 2007 nahm eine Weltwirtschaftskrise ihren Anfang, die in ihrem Ausmaß durchaus an die Große Depression der 1930er Jahre erinnert. Hundert Millionen Menschen wurden bereits in den ersten Jahren durch die steigenden Kosten für Energie und Nahrungsmittel in Armut gestürzt (WHO 2009).

Die Erfahrungen der vergangenen Wirtschaftskrisen auswertend appellierte die WHO an die Mitgliedsstaaten sich dafür einzusetzen, dass „aus der Wirtschaftskrise keine soziale und gesundheitliche Krise“ werde (ebd.). Die Warnung fand kein Gehör.

Schlechte Voraussetzungen für Gesundheit

Die Wirtschaftskrise hat zwar in den Industrieländern begonnen, die dramatischsten Auswirkungen wird sie jedoch in Entwicklungsländern haben (Ortiz und Cummins 2013). Der Rückgang ausländischer Direktinvestitionen und Rücküberweisungen von Angehörigen aus dem Ausland oder die Abnahme von Entwicklungshilfegeldern addieren sich zu Krisenfolgen innerhalb der oft schon zuvor fragilen Gesundheits- und Sozialsysteme. So berichtet die medico-Partnerorganisation „Centro Ecuménico Antonio Valdivieso“ (CEAV) in Nicaragua, dass ein Großteil der Gelder, die sie von spanischen Organisationen zuvor erhalten hatten, nun ausbleibe.

In vielen Ländern machen Entwicklungshilfegelder für Gesundheit einen großen Anteil der Gesundheitsausgaben aus – oft bis zu 50 Prozent. In Zeiten der Krise kann diese Abhängigkeit schnell zum Verhängnis werden.

Die Ausgaben für Gesundheit weltweit spiegeln eine extreme Ungleichheit wider, die nicht durch den Mangel an Ressourcen erklärbar ist. Denn es ist genug für alle da – es ist nur extrem ungleich verteilt. In den Entwicklungs- und Schwellenländern des Südens leben 84 Prozent der Weltbevölkerung, die auf sich aber nur 29 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) vereinen. Sie tragen 92 Prozent der weltweiten Krankheitslast, verfügen aber nur über 16 Prozent der globalen Ausgaben für Gesundheit (Moon und Omole 2013). Aufschlussreich ist auch das Verhältnis der Pro-Kopf-Aufwendungen für Gesundheit: In Deutschland sind dies im Jahr 3.573 US-Dollar, in Uganda dagegen nur 10 US-Dollar, also 350 Mal weniger (WHO 2013). Eine Folge dieses Missverhältnisses: In Deutschland werden die Menschen durchschnittlich 81 Jahre alt, in Uganda liegt die Lebenserwartung bei 56 Jahren.

Nicht an Gesundheit sparen

Wirtschaftliche Krisen wie die Große Depression, die Schuldenkrise der Entwicklungsländer oder die Asienkrise Ende des 20. Jahrhunderts, aber auch plötzliche Transformationen wie in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion haben nachweislich vielen Menschen das Leben gekostet. Suizidzahlen, Kindersterblichkeit und die Fallzahlen chronischer Erkrankungen schnellten in die Höhe – jedoch taten sie dies nicht überall gleich. In ihrer im Mai 2013 publizierten Studie weisen die beiden Gesundheitswissenschaftler Stuckler und Basu nach, dass das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden der Bevölkerung durch „Wirtschaftskatastrophen“ eine Konsequenz der von den Regierungen getroffenen politischen Maßnahmen ist. Die Kernfrage lautet: Entscheiden sie sich für eine Politik des Sparens und der Haushaltskonsolidierung (Austerität) oder fördern sie soziale und gesundheitliche Programme? Von der Großen Depression bis zur Eurokrise – immer wieder lässt sich wissenschaftlich belegen, dass „die wirkliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit nicht die Rezession per se ist, sondern die Austeritätsprogramme“ (Stuckler und Basu 2013).

So wurden beeindruckende Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre in einigen afrikanischen Ländern – wie die Halbierung der Kindersterblichkeit oder der Ausbau öffentlicher Gesundheits- und Bildungssysteme – mit Beginn der Schuldenkrise 1980 mit einem Schlag zunichte gemacht. Ein massiver Anstieg der Ölpreise, steigende Zinsen, der Rückgang des Exports durch den Protektionismus der Industriestaaten gingen einher mit Kürzungen der öffentlichen Budgets. Ähnliches war in Lateinamerika in den 1980er und 1990er Jahren zu beobachten. Die großen Finanzakteure, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, entwickelten Strukturanpassungsprogramme, die Voraussetzung für den Schuldenerlass oder externe Investitionen In die krisengebeutelten Länder waren. Hierzu gehörte neben Handelsliberalisierung und Subventionsabbau auch die Kürzung der Gesundheitsbudgets. Die zweifelhafte These, diese Auflagen würden zu Wirtschaftswachstum führen, bewahrheitete sich nicht. Vielmehr forcierten die Auflagen einen neoliberalen Umbau der Wirtschaftsund Sozialsysteme und sicherten den Industrieländern den Zugriff auf Ressourcen. Länder wie Simbabwe oder Nicaragua gaben zeitweise ein Viertel bis die Hälfte ihrer Staatseinnahmen für die Schuldenrückzahlung aus – oft ein Mehrfaches ihrer Etatsumme für Gesundheit und Bildung.

In der aktuellen Krise in Europa formuliert nun der IWF zusammen mit der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank die Auflagen für die Entschuldung. Sie sind den Strukturanpassungsprogrammen von damals sehr ähnlich. Die von der Weltbank 1997 ins Leben gerufene SAPRI- Initiative („Structural Adjustment Participatory Review Intiative“), die die desaströsen Ergebnisse damals dokumentierte und vor weniger als zwei Jahrzehnten ein Umlenken einleitete, scheint wieder vergessen. Doch die Auswirkungen der Kürzung des griechischen Gesundheitshaushalts um knapp die Hälfte waren absehbar – vom Mangel an Medikamenten und Verbandsmaterial, über die Abwanderung von Gesundheitsfachkräften, die steigende Anzahl von HIV-Infektionen bis zur erhöhten Sterblichkeit an Influenza (Bonovas und Nikolopoulos 2012). Die Frage muss erlaubt sein, ob dies bewusst in Kauf genommen wurde.

Auch in vielen Entwicklungsländern ist der IWF mit Unterstützung der dortigen Regierungen weiterhin aktiv. Derzeit stehen folgende Strukturanpassungsprogramme des IWF auf der Agenda (Ortiz und Cummins 2013):

  • Elimination von Subventionen für Benzin, Landwirtschaft oder Nahrungsmittel (in 100 Ländern)
  • Lohnkürzungen, inklusive der Löhne in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und dem öffentlichen Sektor (in 98 Ländern)
  • Rationalisierung und weiteres Einschränken der sozialen Sicherungsnetze auf die ärmsten Teile der Bevölkerung (in 80 Ländern)
  • Rentenreformen (in 86 Ländern)
  • Reformen im Gesundheitswesen (in 37 Ländern)
  • Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (in 32 Ländern).

Strukturanpassung durch Privatisierung

Zu den geforderten Reformen im Gesundheitswesen gehören insbesondere Kürzungen staatlicher Leistungen und der Abbau von medizinischem Personal, die meist mit einer Erhöhung der privaten Zuzahlungen bei der Nutzung von Gesundheitseinrichtungen oder dem Kauf von Medikamenten einhergehen. Im Bereich des sozialen Sicherungssystems wird vom IWF oft empfohlen, die öffentlichen Sicherungsnetze und Sozialhilfe auf die ärmsten Teile der Bevölkerung zu begrenzen – so in 25 Industrieländern sowie in 55 Entwicklungsländern wie Nicaragua, Sudan, Sambia, Mali oder Haiti (Ortiz und Cummins 2013).

Dies ist oft administrativ wie politisch schwer durchzusetzen und angesichts der hohen Anzahl vulnerabler Bevölkerungsgruppen, auch oberhalb der Armutsgrenze, nicht empfehlenswert. Vielmehr wäre eine umfassende öffentliche Krankenversorgung dringend geboten – solidarisch im Voraus finanziert: Die Reichen für die Armen, die Gesunden für die Kranken. Dies ist, wie die WHO feststellte, zudem die effizienteste Form der Finanzierung (WHO 2010).

Zu den größten Problemen der Länder des Südens zählt, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung keine finanzielle Absicherung im Krankheitsfall hat (Moon und Omole 2013). Wer Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt, muss dafür in der Regel direkt und „aus eigener Tasche“ aufkommen („out of pocket payments“). Eine solche individualisierte Gesundheitsfinanzierung ist gesundheitspolitisch unsinnig und obendrein höchst ungerecht. Es schließt diejenigen von einer angemessenen Versorgung aus, die sie aufgrund ihrer Lage am meisten brauchen. Für Arme und Mittellose, die in der Regel häufiger krank sind, stellen „out of pocket payments“ oft unüberwindbare Barrieren dar. Weil sie es sich schlichtweg nicht leisten können, meiden Kranke den Weg zum Arzt oder ins Krankenhaus. Jährlich, so schätzt die WHO, werden 100 Millionen Menschen in die Armut getrieben, weil sie für „katastrophale Gesundheitsausgaben“ privat aufkommen müssen (WHO 2010).

Auch die von der Weltbank lange Zeit propagierten Nutzungsgebühren („user fees“) sind gesundheitspolitisch höchst umstritten. Ursprünglich sollten sie als Barriere fungieren und „Übernutzung“ der medizinischen Einrichtungen verhindern. Doch sie laden die Verantwortung für Gesundheit auf den Schultern der Einzelnen ab, oder, wie Margret Chan, die WHO-Generaldirektorin, es ausdrückte: „Nutzungsgebühren haben die Armen bestraft“ (WHO 2010).

Die Individualisierung der Gesundheitskosten durch private Zuzahlungen wird begleitet von der Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser, für die der klamme öffentliche Haushalt als Begründung dient. Während das öffentliche Gesundheitswesen unter Druck gerät, setzt sich der Ausbau des privaten Gesundheitssektors fort, wie ihn die Weltbank viele Jahrzehnte lange gezielt gefördert hat. Die Debatte um das Für und Wider einer privatisierten Krankenversorgung sei hochgradig von ideologischen Überzeugungen geprägt, wurde unlängst in einer Analyse von mehr als 2.300 wissenschaftlichen Artikeln festgestellt (Braithwaite et al. 2010). Insbesondere für die Entwicklungsländer mangelt es an Daten über die Auswirkungen der Privatisierung auf den Zugang zur Krankenversorgung. Es sind schwach entwickelte öffentliche Gesundheitssysteme, die das Bild in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens prägen. Unterfinanzierte marode öffentliche Krankenhäuser für den Großteil der Bevölkerung stehen gut ausgestatteten privaten Krankenhäusern für die Eliten gegenüber.

Wissenschaftlich kann jedoch nicht nachgewiesen werden, dass der private Sektor effizienter, belastbarer und medizinisch effektiver ist. Vielmehr werden im privaten Versorgungsbereich gehäuft medizinisch unnötige Untersuchungen und Eingriffe vorgenommen und dabei sogar medizinische Standards verletzt (Basu et al. 2012). Übersehen wird, dass Arme und Mittellose das Recht auf Gesundheit nur dort geltend machen können, wo ein öffentlich getragenes Gesundheitssystem existiert. Gesundheit ist ein hohes öffentliches Gut, das an gesellschaftliche Verantwortung und Verpflichtungen gebunden ist. Bei einem privaten Krankenhausträger oder philanthropischen Vereinen können Hilfsbedürftige hingegen Unterstützung bestenfalls noch beantragen, nicht aber einklagen. Ein gut ausgebauter öffentlicher Gesundheitsdienst ist zudem essentiell für eine gute Prophylaxe und Früherkennung („Surveilllance“) – insbesondere in Krisenzeiten. Profitorientierte private Träger von Gesundheitsdienstleistungen aber haben nur bedingt Interesse an der Vermeidung von Krankheiten – es sei denn, hierbei kommen pharmazeutische, medizintechnische oder nahrungsergänzende Produkte zum Einsatz, die ihnen Einnahmen bescheren.

Der Nutzen einer privaten Krankenversorgung misst sich auch daran, ob sie in Zeiten von Katastrophen und Krisen die Bevölkerung zu versorgen vermag. Menschen, die plötzlich ihr Hab und Gut oder ein gesichertes Einkommen verloren haben, können sich die privaten Zusatzversicherungen und Zuzahlungen nicht mehr leisten und wenden sich an öffentliche Einrichtungen, wie auch die WHO in ihrem Bericht von 2009 prognostizierte (WHO 2009). So nahm etwa in Griechenland die Zahl der Aufnahmen in öffentlichen Krankenhäusern zwischen 2009 und 2011 um 20 Prozent zu (Kentikelenis und Papanicolas 2012).

Umdenken lebensnotwendig

Eine öffentlich finanzierte, qualitativ hochwertige Krankenversorgung und Prävention sind essentiell, will man die Vulnerabilität einer Bevölkerung vermindern. Die WHO und viele renommierte Gesundheitswissenschaftler fordern daher eine antizyklische Gesundheitsfinanzierung: mehr Geld in Zeiten der Krise – zumal der Bedarf ohne Frage deutlich erhöht ist (WHO 2009). Generell muss die Frage der nachhaltigen Gesundheitsfinanzierung dringend geklärt werden. Die oben beschriebenen Ungleichheiten sind menschenrechtlich nicht haltbar und sorgen für unnötiges Leid. Einen Ausweg böte, die interessengeleitete Entwicklungshilfe durch verpflichtende Ausgleichfinanzierungssysteme zu ersetzen. Diese von medico international bereits Ende der 1990er Jahre entwickelte Forderung hat Anand Grover, der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, 2012 in seinem Bericht der UN-Vollversammlung vorgetragen: „Das Recht auf Gesundheit hängt in Entwicklungsländern auch von der Verfügbarkeit einer nachhaltigen internationalen Finanzierung von Gesundheit ab, welche letztendlich durch ein obligatorisches, vertragsbasiertes Regime ermöglicht werden sollte. Dies ist auf dem Prinzip der internationalen Solidarität begründet.“ (Grover 2012)

Systeme umfassender öffentlicher, solidarischer Gesundheitsfinanzierung, ob durch Steuern oder Krankenversicherungen, fehlen weiterhin in den meisten Ländern der Welt. Nicht umsonst hat die WHO das Ziel der „Universal Health Coverage“ ganz oben auf die Agenda auch bei der geplanten Überarbeitung der globalen Entwicklungsziele, die 2015 neu vereinbart werden sollen, gesetzt. Im schroffen Gegensatz dazu werden soziale Sicherungssysteme aktuell in Europa und vielen anderen Ländern abgebaut. In Griechenland sind mittlerweile über 30 Prozent der Menschen nicht mehr krankenversichert.

Das Menschenrecht auf Gesundheit ist in Artikel 12 des UN-Sozialpakts verankert. Nur wenn die Gesellschaft – also auch ihre Regierung und ihre Institutionen – Krankenversorgung und Gesunderhaltung als kollektive Aufgabe anerkennt, als Gemeingut, das nicht dem Markt überlassen werden darf, kann sie Realität werden und bleiben. Diese einfache Erkenntnis gilt in Zeiten der Krise umso mehr.


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