Der syrische Bürgerkrieg hat längst die Züge eines zerstörerischen Mahlstroms angenommen. Die Zukunft verspricht nur weiteren Schrecken. Was aber bewegt heute jene, die in Syrien vor zwei Jahren begannen, ihren Traum von Freiheit praktisch werden zu lassen? Taha Khalil, Schrifsteller und Journalist im syrisch-kurdischen Qamishli, zeichnet die letzten zwei Jahre in Syrien nach.
Vor der Revolution: Ein Syrer lehrt schweizerische Sitten
Damaskus, Syrien. Viele Jahre habe ich fern meiner Heimat in der Schweiz verbracht. Ich arbeitete beim Schweizerischen Roten Kreuz, wo ich für Flüchtlingsfragen zuständig war und die Flüchtlinge bei der Integration unterstützte. Ich unterwies sie in schweizerischer Etikette und klärte sie über ihre Rechte und Pflichten auf, Pflichten, die sie meist schnell wieder vergaßen, um unermüdlich auf ihre – wie sie meinten – nicht genügend beachteten Rechte hinzuweisen. Im Unterricht schauten sie mich misstrauisch von der Seite an, voller Geringschätzung darüber, wie es sein könne, dass ich, ein Orientale wie sie, ihnen Gesetze beibringen wolle. Obwohl es ermüdend war, das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen, fand schließlich alles ein gutes Ende, wenn sie Fragen der Demokratie nicht mehr so diskutierten, wie sie sie verstanden und wie sie ihnen von den totalitären Regimen eingetrichtert worden waren, Regimen, in denen Menschen kein Wert beigemessen wird, und vor deren Unterdrückung sie – nach ihren eigenen Worten – in die Schweiz geflohen waren.
Jahrelang habe ich in der Fremde Gedichte und Artikel geschrieben, in denen ich meinen Schmerz über mein Land zum Ausdruck brachte und mich fragte, warum die Menschen dort nicht ebenso in Sicherheit und Freiheit leben können wie die Menschen in der westlichen Welt – auch wenn die Dinge am Ende relativ sind. Dann kehrte ich in meine Heimat zurück, nach Syrien. Das Wichtigste, was ich in der Schweiz gelernt hatte, war der gegenseitige Respekt; den Anderen zu respektieren, einmal weil er verschieden von mir ist, und zum anderen, weil er ein Mensch ist. Gelernt habe ich auch, dass die Unterdrückung, die Überwachung und die Unmenschlichkeit, wie wir sie in unserem Land erleben, Teil einer jahrelangen Zähmung der Menschen durch die herrschenden Regime sind. Sie verwandeln die Bürger in reine Untertanen, die nur deshalb leben können, weil der Staat mit ihnen zufrieden ist, die irgendwelchen mysteriösen Männern (meist Militärs) Dank, Anerkennung und Gehorsam schulden, dafür dass diese ihnen Wasser, Elektrizität und ein wenig alltägliche Sicherheit zur Verfügung stellen. Als Gegenleistung müssen die Untertanen allmorgendlich in den Schulen und am Arbeitsplatz den Namen des „Führers von Staat und Gesellschaft“ skandieren, der nicht seinesgleichen kennt und neben dem es im Diesseits nur Puppen, Verschwörungen, Sexualität, Drogen sowie Kolonial- und Willkürstaaten gibt.
Ich habe versucht, eine Weile in meiner Heimat zu leben und die Schönheit der Natur und der Menschen und ihrer Traditionen zu genießen, der ich mir vor meinem Auslandsaufenthalt gar nicht bewusst gewesen war. Die Situation verschlechterte sich jedoch zusehends, insbesondere in Bezug auf meine Arbeit als Journalist, da mein Broterwerb mit einer brutalen kollektiven und individuellen Sklaverei einher zu gehen schien. Trotz meines zunehmenden Widerwillens versuchte ich aber, mich so weit wie möglich an die Atmosphäre anzupassen, obgleich es mir mitunter schwer fiel und oft sogar unmenschlich war. Mit der Zeit begannen der Alltag und die schwierigen Lebensumstände mich mit ihren langweiligen alltäglichen Details aufzuzehren, bis die Revolution in Tunesien ausbrach und die arabische Welt wieder Hoffnung schöpfte. Für mich als Kurden bedeutete dies den Beginn der Umkehrung vieler Prämissen; viele Fragen zu Demokratie und Wahrung von Menschenrechten und Menschenwürde, über die niemand mehr diskutierte. In der Folge, so glaubte ich, würden viele meiner arabischen Brüder in Zukunft auch meine Rechte unterstützen.
Eine arabische Revolution folgte der anderen
Im Zuge der ägyptischen Revolution wurde ein jahrzehntelang unterdrücktes Murmeln wieder laut. Wie alle anderen verfolgte ich die Ereignisse und Entwicklungen, die unweigerlich auch mein Land erfassen würden, selbst wenn die Revolutionäre in Ägypten nicht ganz so viel erreichten, wie sie sich erhofft hatten. Doch diese abgestandenen brackigen Wasser in Bewegung zu versetzen, reichte allein schon aus, uns optimistisch in die Zukunft blicken zu lassen. Als die Revolution in Libyen begann, richtete sich die Aufmerksamkeit auf dieses Wüstenland, über dessen „Bruder-Führer“ Muammar al-Gaddafi wir uns immer lustig gemacht hatten: über seine kabarettistischen Erklärungen, seine abwegigen Theorien und über seine würdige Haltung vor den schlanken italienischen Schönheiten, die Sergio Berlusconi für ihn, seinen Freund, ausgesucht hatte, Damen, die halb nackt im Minirock vor ihm standen, denen er dann Koranexemplare überreichte.
Als die Nato in Libyen intervenierte, ergriff mich das Gefühl, dass die Revolution nun besudelt sei – auch wenn Gaddafi sie schon vom ersten Tag an besudelt hatte. Einige Wochen später begann die Revolution im syrischen Deraa und breitete sich auf unzählige Städte und Ortschaften aus. Wir hatten große Hoffnungen, doch die Ermordung Gaddafis widersprach unserer Meinung nach der Moral der Revolutionäre. Wir träumten davon, in unserem Land eine friedliche Revolution zu machen. Insbesondere deshalb, weil das syrische Regime die Menschen vom ersten Tag an dazu antrieb, zu den Waffen zu greifen, indem es Kalaschnikows in die unbewaffneten Menschenmengen in Deraa warf.
Die syrische Revolution war schön und wurde immer schöner
Die syrische Revolution war zu Beginn so schön und reif wie ein Mädchen in der Blüte seiner Jahre, und jeden Tag schien sie noch schöner zu werden als am Vortag. Es war eine der schönsten Revolutionen der Welt. Ohne Angst begannen wir Gedichte zu schreiben und hier und dort Artikel zu veröffentlichen. Die freie libanesische Presse war für viele syrische Schriftsteller und Journalisten, die auf der Seite der Revolution standen und ihre Friedfertigkeit unterstützten, wie ein Ventil. Im Verlauf der Wochen und Monate nahm die Gewalttätigkeit des Regimes jedoch zu und die Zahl der getöteten Zivilisten und wehrlosen unschuldigen Menschen stieg rapide an. Die Medienmaschinerie des Regimes begann über Islamisten, Salafisten sowie Terroristen zu reden und Damaskus wurde von Explosionen erschüttert, die deutlich die Fingerabdrücke des Regimes trugen.
Wir bemühten uns nach allen Kräften, darauf hinzuweisen, dass die syrische Revolution unbedingt friedlich bleiben müsse und nicht in die Gewalttätigkeit abrutschen dürfe. Doch mit der zunehmenden Skrupellosigkeit des Regimes und dem mangelnden internationalen Schutz des syrischen Volkes vor dem täglichen systematischen Töten wurden die Menschen gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um sich zu verteidigen. Die Freude des Regimes über diese Entwicklung war unbeschreiblich. Wenn in den Nachrichten über die „Märtyrer“ der Armee berichtet wurde, lächelte der Nachrichtensprecher, als hätte das Regime einen Sieg errungen und stünde auf der Seite des Rechts. So gelang es dem Regime, die Richtung der Revolution zu verändern und sie mehr und mehr in die Militarisierung zu drängen.
Dann tauchten bewaffnete Gruppen mit „islamischen“ Namen auf, die besonders den Menschen im Westen und in den USA Angst einjagten. Und wieder verbreitete das Regime seine Propaganda, nur es selbst könne den verschiedenen Religionsgemeinschaften der syrischen Gesellschaft Sicherheit gewährleisten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie in Homs ein christlicher Junge durch das Regime getötet wurde, das den Mord jedoch der bewaffneten Opposition in die Schuhe schob. Einen ganzen Monat lang wurde im staatlichen Fernsehen immer wieder die Leiche des Kindes sowie die Mutter gezeigt, die auf melodramatische Weise um ihren Jungen weinte und den Tod für dessen Mörder forderte. Obwohl die Mutter die Mörder gar nicht nannte, übernahm an ihrer Stelle das Regime die Aufgabe: Mit dem Ziel auch das Mitgefühl der westlichen Welt hervorzurufen, wurde behauptet, die Alternative zur jetzigen Regierung seien Leute, die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften wie Alawiten, Drusen und Christen ermordeten. Insbesondere bei jenen, die die täglichen Spielchen des Regimes nicht über fünfzig Jahre lang verfolgt hatten, zeitigte die Propaganda des Regimes relativ großen Erfolg.
Syrer werden zu Schiiten, Alawiten, Sunniten
So kam es, dass die Demonstrationen, auf denen die Lieder des Revolutionssängers Ibrahim Kaschusch gesungen wurden, in den Hintergrund rückten. Stattdessen begannen die Medien deutlich und offen die Anzahl der Getöteten. „Hau ab Baschar“ hatte Kaschusch zu Beginn der Revolution gesungen. Im Juli 2011 wurde der Sänger entführt. Seine Leiche wurde Tage später mit herausgeschnittenen Stimmbändern aufgefunden. Die Medien zählten jetzt die Toten sowohl der regulären Armee als auch der Freien Syrischen Armee. Plötzlich schienen wir uns zwischen zwei Armeen entscheiden und auf eine der beiden Seiten schlagen zu müssen. Die humoristischen Spruchbänder der Bewohner von Kafranbel in der Provinz Idlib oder die Lieder, die die Anhänger des getöteten Kaschuschs sangen, weckten kaum mehr unser Interesse. Das Blutvergießen wurde zu unserem Alltag.
Das Regime schreckte nicht mehr vor Massakern zurück, und die Menschen gewöhnten sich an konfessionell und ethnisch motivierte Morde. Alle Seiten beschuldigten sich gegenseitig und die Grenzen zwischen Feind und Freund waren klar. Wir kehrten zurück in die Geschichte, um zu erfahren, welcher Prophet in welcher muslimischen Strömung durch wen getötet wurde und was zu wem gesagt hatte. Vierzehn Jahrhunderte gingen wir zurück, um uns erneut die Fälle von Blutrache einer brutalen und blutbesudelten Geschichte zu vergegenwärtigen, die mit der Ermordung von Uthman Ibn Affan, dem dritten Kalifen, ihren Auftakt genommen hatten. Gleichzeitig tauchten neue Kennzeichnungen wie Schiiten, Alawiten und Sunniten und weitere religiöse Etiketten an der Oberfläche der syrischen Revolution auf.
Dann, nachdem das Regime die sogenannten Intellektuellen ins Visier genommen und ermordet oder verhaftet hatte, begannen diese das Land zu verlassen, während sich die „alawitischen Intellektuellen“ auf die Seite des Regimes stellten. Jetzt war die Sache eindeutig: Das syrische Regime ist ein alawitisches Regime, das vom schiitischen Iran unterstützt wird und an dessen Seite Kämpfer der schiitischen Hisbollah agieren. Andererseits strömen Islamisten und Extremisten zur Rettung der sunnitischen Bevölkerung nach Syrien. Revolution heißt jetzt: russische Gewehre, auf beiden Seiten, und leere Versprechungen des Westens, die syrische Bevölkerung zu unterstützen. Jener Westens, der dem Regime rote Linien setzte, diese jedoch stets weiter ausdehnte, wenn das Regime eine Grenze übertrat. Und alle verschlossen die Augen vor dem fortgesetzten Blutvergießen.
Syriens Revolution raubt Hoffnung und Worte
Heute blickt das verwundete blutüberströmte syrische Volk auf das Messer in der Hand des Mörders. Jeden Morgen trägt der Mörder ein anderes Gewand, mal das eines Russen, mal eines Syrers, mal eines Schiiten, eines Alawiten, eines Chinesen, eines Inders. Sogar Nordkorea, so erzählen sich die Menschen, schickte zwei Söldnerpiloten, um das syrische Volk beschießen zu lassen. Und all die Kriegsflugzeuge, die Scud-Raketen und Clusterbomben, die chemischen Waffen, das Cyanid- und das Senfgas haben keine rote Linie hinterlassen, hinter der sich die „Freunde des syrischen Volkes“ verstecken können. Alles ist bekannt, doch alle stecken den Kopf in den Sand. Und die Verzweifelten und Ängstlichen behaupten, hinter den Kulissen entscheide Israel alles.
Was soll ein Journalist also sagen, der sieht, wie seine Lieben zu Flüchtlingen wurden? Flüchtlingen in aller Herren Länder, zu denen eines Tages ein Angestellter kommen wird wie ich, um ihnen die Grundlagen von Etikette und Reinlichkeit beizubringen; sie zu lehren, mit Messer und Gabel zu essen. Oh Gott, wie hart wird das werden! Was kann ein Journalist schreiben, der das Gefühl hat, dass all seine Worte nur ein Seufzer sind angesichts der Augen einer Mutter, die, hingeworfen über ihr getötetes Kind, ihren letzten Atemzug tut, während die syrische Journalistin der Mutter das Mikro vors Gesicht hält. Und während sie fragt, „das haben doch die Terroristen getan, oder?“, hört die Mutter nur das Fließen ihres eigenen Blutes unter den Füßen der eleganten Korrespondentin, die sich in Schale geworfen und mit einem Bild ihres Präsidentenführers geschmückt hat.
Wie weit bist du fort, o Schweiz, und wie hart bist du! Von dir habe ich den Optimismus gelernt, der mich eines Tages an einen Sieg der Revolution glauben ließ. Ich glaubte, eines Tages meine Freunde zur Siegesfeier des syrischen Volkes und zum Essen von Auberginenpüree in einem kleinen Restaurant in der Damaszener Altstadt einladen zu können. Zum Essen ohne Messer und Gabel!
Übersetzerin: Larissa Bender / www.larissa-bender.de