„Klimagerechtigkeit ist für uns kein Zustand, sondern ein andauernder Kampf gegen Strukturen, die Ungerechtigkeit erzeugen.“ So sagt es Mir Keerio, Mitarbeiter der sozialmedizinischen Hilfs- und Entwicklungsorganisation HANDS in Pakistan. Wie mühsam und frustrierend dieser Kampf sein kann, zeigt das Dorf Quadirkot im Norden der Provinz Sindh. Es liegt fast 100 Kilometer entfernt von Sukkur, einem der größten Staudämme zur Regulierung des Indus, der mitsamt einem weitverzweigten Kanal- und Bewässerungssystem von der ehemaligen britischen Kolonialmacht errichtet wurde. Während die Ländereien am Anfang der Kanäle damals an die dem Regime wohlgesonnenen Großgrundbesitzer und Militärs verteilt wurden, liegt Quadirkot am Ende eines solchen Kanals. Noch heute sind die Menschen, die hier leben, arm. Sie besitzen nur kleinste, wenig fruchtbare Parzellen oder sind landlos und leben in Abhängigkeit.
Vier Jahre lang ist mit medico-Unterstützung in Quadirkot und Umgebung eine dezentrale Gesundheitsversorgung aufgebaut worden. Getreidesilos sollten die Bauernfamilien vor schwankenden und durch Großbauern dominierten Marktpreisen schützen, eigene Samenbanken sie unabhängiger von teuren genmanipulierten Produkten der Saatgutkonzerne machen. Doch dann, im Jahr 2022, gingen die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in einer Überflutung ungekannten Ausmaßes unter. Überschwemmungen verwandelten beinahe die ganze Provinz in einen gigantischen See. Heute, zwei Jahre später, sind die Schäden noch immer unübersehbar. Den meisten Häusern in Quadirkot fehlen Wände, die Schule ist einsturzgefährdet. Auch die Silos haben die drei Monate im Wasser nicht überstanden, das Saatgut verdarb. Noch immer ist der Boden von einer Salzkruste bedeckt. Weil Nährstoffe ausgespült wurden und die Fluten stattdessen Schadstoffe und Chemikalien übers Land verteilten, haben sich Qualität und Ertrag der Ernten drastisch reduziert. Immerhin: Die mit der Dorfgemeinschaft erarbeiteten Pläne für Katastrophenschutz und Prävention haben in Quadirkot zur Pflasterung des Dorfzugangs geführt und 2022 die Evakuierung aller Bewohner:innen ermöglicht.
Neben Quadirkot hat es tausende andere Dörfer getroffen. Die bislang größte durch die Klimakrise hervorgerufene Katastrophe hat sie um Jahrzehnte zurückgeworfen. Schon jetzt haben unzählige Familien ihre mühsam errungene Souveränität gegenüber Großgrundbesitzern eingebüßt: Kleinbauern und Landlose stehen wieder in direkter Schuldknechtschaft. Allein in diesem Jahr wurden in der Provinz Sindh über 1.500 Menschen aus den Privatgefängnissen von Großgrundbesitzern befreit, wo sie als Unterpfand für ausstehende Zahlungen eingekerkert waren. Die Anzahl der Menschen unter der Armutsgrenze ist von 55 auf 75 Millionen gestiegen. Ein neuerlicher Wiederaufbau, so sagt es Mir Keerio, wird dauern. Das von der Provinzregierung versprochene Hausbauprogramm hat Quadirkot bis heute nicht erreicht. Nicht nur den Einzelnen fehlen die Mittel, die Schäden zu beheben, sie fehlen der Gesellschaft als Ganzer.
Wie in einem Brennglas wird in Pakistan die zerstörerische Wucht der Klimaveränderung deutlich. In den letzten zehn Jahren hat das Land fast jährlich unter den Auswirkungen von Extremwettern zu leiden. Laut Weltrisikobericht des „Bündnis Entwicklung Hilft“ ist das Land eine Zone des permanenten Ausnahmezustands – eine Katastrophenzone. Gleichzeitig gehört Pakistan zu den Ländern, die die Schäden am schlechtesten bewältigen können. Für die Menschen in Quadirkot bedeutet das, dass sie nicht mehr nur der historischen Ungerechtigkeit der Landverteilung und der Willkür der Großgrundbesitzer, sondern auch den Folgen ungehemmten CO2-Ausstoßes und Umweltzerstörung von weltweiten Unternehmen und Industrienationen ausgesetzt sind. Ging es einst um eine bessere Zukunft, stehen viele Dörfer jetzt vor der Frage, ob sie überhaupt eine Zukunft haben, fasst es Mir Keerio zusammen. „Natürlich setzt Klimagerechtigkeit nicht alles auf null, aber sie ist die Voraussetzung dafür, dass Entwicklung auch für Menschen wie in Quadirkot möglich ist.“
Handlungsfähig werden
Nach der Flutkatastrophe 2022 flossen zwar internationale Hilfsgelder nach Pakistan – zu großen Teilen aber als Kredite. Auch das lässt sich verallgemeinern: Nach dem Bericht über Klimafinanzierung der Weltklimakonferenz werden ab 2030 jedes Jahr weltweit Schäden in Höhe von 2,4 Billionen US-Dollar aufgrund der Klimakrise entstehen. Die geplante Finanzierung durch Fonds für Verluste, Schäden und Klimaanpassung deckt bisher weniger als 1 Prozent davon. Und der klimabedingte Veränderungsprozess steht erst am Anfang. Bis 2050 wird für Pakistan in Folge von Überschwemmungen, Extremhitze und Luftverschmutzung mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 20 Prozent gerechnet.
Die bittere Gegenwart und noch düstere Aussichten lassen viele erstarren. Deshalb konzentrieren sich die medico-Partnerorganisationen in Pakistan neben dem Aufbau praktischer Resilienz auch auf den Kampf gegen die Schicksalsergebenheit. Um den Kampf für Gerechtigkeit zu führen, müsse sich etwas im Kopf verändern, betont Nasir Mansoor von der nationalen Gewerkschaftsföderation NTUF, die seit Jahren auch die Organisierung von Kleinbauern und Landlosen unterstützt. „Wenn wir schon im Kleinen nicht handlungsfähig sind, unsere Rechte nicht kennen, uns von Großgrund- oder Fabrikbesitzern anschreien lassen, wie sollen wir es da mit internationalen Playern aufnehmen, die hauptverantwortlich für die Klimakrise sind?“ Der Ansatz der medico-Partner:innen: Mit dem Aufbau demokratischer Strukturen soll das Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge gestärkt und Erfahrungen von Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit ermöglicht werden. Der Kampf um Klimagerechtigkeit beginnt hier im Kleinen. Das Bewusstsein vom Recht auf die eigene Zukunft und die Vorstellung von der Veränderbarkeit der Verhältnisse schafft die Voraussetzungen für die noch zu führenden Konflikte. Etwas, das bleiben wird, auch über die Zerstörungen kommender Katastrophen hinweg.
Das gilt für Länder wie Pakistan – in viel höherem Maße aber für die Länder, die die Klimakrise zu verantworten haben. Schließlich wird hier darüber entschieden, ob es einen Schuldenschnitt, ein Ende der Finanzierung fossiler Industrien oder eine rechtsverbindliche Übernahme der Verantwortung für Schäden nach dem Verursacherprinzip gibt. Doch auch das wird höchstens die Folgen der Katastrophe mindern, in die Pakistan und mit ihm die Welt schlittert, verhindern wird es sie nicht. „Einen wirklichen Raum für Entwicklung wird es nur geben können, wenn sich auch die Zerstörung nicht fortsetzt“, kommentiert Mir Keerio. Dafür braucht es einen Wandel des kapitalistischen Entwicklungsmodells als solchem, das auf der Vernutzung der Welt basiert und dem globalen Süden die Entwicklungslast der Industrienationen aufbürdet. Vielleicht ist der Satz des pakistanischen Kollegen, dass Klimagerechtigkeit ohne einen Kampf gegen Unrecht erzeugende Strukturen nicht möglich ist, eine wichtige Erinnerung: Noch ist Handeln möglich.
Projekte für Klimagerechtigkeit
medico unterstützt klimapolitische Initiativen aus Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika, die alle die Frage stellen, wer für die Zerstörung der Welt eigentlich Schuld und Verantwortung zu tragen hat – „wer eigentlich wem was schuldet“. Unsere Partner:innen fordern einen radikalen Schuldenschnitt, organisieren den tagtäglichen Kampf um lokale Ernährungssouveränität und streiten für die Anerkennung der ökologischen Schuld durch den globalen Norden.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!