Die Wiederkehr des Auschwitz – Code

Zum Problem von Gedächtnis und Geschichte. Von Ronit Lentin.

01.09.2002   Lesezeit: 12 min

»Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trüm­mer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte

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Eine der zentralen Fragen in der Debatte um die Erinnerung der Shoah wurde aufgeworfen durch das (oft mißverstandene) Diktum Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1949, es sei »barbarisch«, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben« und durch das Insistieren von Überlebenden wie Elie Wiesel, nur sie dürften über die Shoah sprechen (1984). In der Auseinandersetzung um die Möglichkeit, beziehungsweise Unmöglichkeit, über die Shoah zu reden, vertreten Autoren wie George Steiner (1969) die Ansicht, die einzige Antwort auf die Shoah sei Schweigen.

Ich schließe mich denjenigen Autoren an, die argumentieren, sich angesichts von Auschwitz der Stille zu ergeben, stelle eine Kapitulation vor dem Zynismus dar und damit vor den Kräften, die Au­schwitz verursacht haben (Celan,1968) – eine Position, die später auch Adorno teilte. Obgleich die zur Verfügung stehende Sprache ganz offensichtlich dem historischen Ereignis nicht gerecht zu werden vermag, ist es unzureichend, wenn nicht unmöglich, auf die Shoah mit einer »Archäologie des Schweigens« (Foucault) zu reagieren. Wenn nach der Angemessenheit von Poesie nach Auschwitz gefragt werden kann, steht, so Saul Friedländer (1992), auch zur Disposition, ob es angemessen ist, die Shoah in theoretischen Diskussionen zu thematisieren und mit Raul Hilberg (1988) danach zu fragen, wie es sich mit der »Barbarei der Fußnoten« nach Auschwitz verhält. Obwohl wir es, so Friedländer, mit einem »Grenzereignis« zu tun haben, das konventionelle Begriffe in Frage stellt, muß die Shoah einer Darstellung und Interpretation zugänglich sein. Zygmunt Bauman erinnert uns daran, daß der »Holocaust inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt (wurde), in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher, kultureller Leistungen; er muß daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden«. Er »war das Resultat eines einzigartigen Zusammentreffens im Grunde normaler und gewöhnlicher Faktoren«. Rationalität, Technologie, Bürokratie und staatliche Gewalt wurden in der Shoah auf »normale«, das heißt in der europäischen Kultur vertraute Weise wirksam. Nach Bauman hat die Soziologie die Bedeutung der Shoah in mehrfacher Hinsicht marginalisiert. Zum einen betone sie, die Shoah sei ausschließlich den Juden wiederfahren, dies mache sie zum einzigartigen, uncharakteristischen und für die Soziologie irrelevanten Ereignis. Hier werde die Shoah als Konsequenz des europäischen (oder wie Goldhagen argumentiert, deutschen) Antisemitismus gesehen und trage als singuläre, herausragende Episode nicht zu unserem Verständnis von der Normalsituation der modernen Gesellschaft bei. Die andere Sichtweise präsentiere die Shoah als vorhistorische und kulturell irrelevante, natürliche Prädisposition der menschlichen Art, vorsozial und immun gegenüber kulturellen Einflüssen und als solche von keinem Interesse für die Soziologie.

»Grenzereignis«

Was die Endlösung jedoch zu einem »Grenzereignis« macht, ist genau jene »radikalste Form des Genozids in der Geschichte. Der beabsichtige, systematische, industriell organisierte und weitgehende erfolgreiche Versuch; eine ganze Gruppe von Menschen in einer westlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts vollständig zu vernichten. Gegenstand einer weiteren zentralen Auseinandersetzung ist die Dichotomie von Kontinuität und Kontingenz. Emil Fackenheim (1984) konzeptionalisiert die Shoah als einzigartiges, epochales Ereignis, das unwiederbringlich unser Vertrauen in die menschliche Natur verändert habe, während Bauman darauf insistiert, daß der Holocaust kein Novum in der Geschichte war, sondern das Ergebnis technischer Rationalität in einer modernen Gesellschaft und der aus ihr folgenden normativen Sozialisation moderner Subjekte. Ich stimme mit Bauman darin überein, die Shoah »als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten«. Bauman verweist auf das »sprichwörtliche Rätseln der Historiker.., die darüber klagen, sie bekämen das spektakulärste Kapitel der Geschichte des Jahrhunderts nicht in den Griff«. Ähnlich verhält es sich mit der populären Rede von der Unaussprechlichkeit der Ereignisse, während tatsächlich über kaum eine andere Episode in der europäischen Geschichte so viel gesprochen worden ist. Die Shoah wurde als die »einzige epochale Metapher« internalisiert. Der Rekurs auf diese Metapher stellt unser Vertrauen in die menschliche Natur unwiederbringlich und dauerhaft auf die Probe, aber er lotet, wie Friedländer sagt, auch die »Grenzen der Repräsentation« aus. Weil, wie Habermas (1987) betont, in Auschwitz »etwas geschah, was bis dahin niemand für möglich halten konnte..« und »Auschwitz die Bedingungen für die Kontinuierung ge­schichtlicher Lebenszusammenhänge verändert« hat, ist Auschwitz, neben seiner historischen Bedeutung für die Annalen der Vernichtung, zu einer Metapher, einem Code geworden.

»Ich denke, auf bestimmte Weise folgt Saddam Hussein Hitlers Spuren. Aber ich möchte die beiden nicht vergleichen. Nicht wegen der moralischen Aspekte, sondern wegen der Ausmaße von Hitlers Verbrechen.« Amos Oz, zitiert in Zuckermann,(1993), S. 76 »Anders als die Vietcong, haben die Taliban wenig Unterstützung im Volk. Tatsächlich haben sie sich in das Äquivalent von Hitlers SS verwandelt.« David Quinn, »Can we stop listening to the left wing after Kabul?«, in: The Sunday Times, 18. November 2001 »Willkommen in unserem Konzentrationslager. Was die Deutschen uns angetan haben, das werden wir euch antun.« Sergei, IDF-Offzier (israelische Armee), zitiert von Gideon Levy, »The Groom was late to the wedding«, in: Ha’aretz Magazine, 31. Mai 2002

Zygmunt Bauman bezweifelt die Möglichkeit, den Dämon des Holocaust auszutreiben, denn »besessen zu sein bedeutet, die Welt eindimensional zu sehen«. Diese Besessenheit wird, wie die Sicht der Welt in einer Dimension, illustriert durch Moshe Zuckermanns Begriff des »kulturellen Gedächtnisses« als Code, der es uns erlaube, das Unverständliche zu verstehen, gerade weil das Gedächtnis selbst unzugänglich bleibt. So wie die Überlebende es sich nicht leisten kann, die Schrecken ihrer Holocaustvergangenheit in ihrer Alltagsexistenz zu erinnern, so tendiert auch das Kollektiv dazu, die wirkliche Erinnerung der Katastrophe durch ein »kollektives Gedächtnis« mit Zeremonien, Bildern, Ritualen und Mahnmalen zu ersetzen. Während aber der individuelle Überlebende keine andere Wahl hat, als den Horror der Shoah zu unterdrücken, um nicht wahnsinnig zu werden und nach der Nazihölle weiterleben zu können, hat das Kollektiv ein direktes Interesse an der Unterdrückung, damit das Gedächtnis die neu aufgeschlagene Seite, auf der seine Geschichte eingeschrieben wird, nicht beschmutzt. Zuckermann spricht über den Versuch, die Shoah aus unserem Bewußtsein zu verbannen, indem sie auf ein Set von ideologischen Codes reduziert wird. Der ideologische Gebrauch des Gedächtnisses dient in unterschiedlichen Kollektiven unterschiedlichen Zwecken, aber überall wird die Shoah in eine politische Ideologie verformt, in einen Code: Der Shoah-Mythos ersetzt die Shoah selbst.

Zuckermann analysiert die unangemessene Gleich­set­zung von Saddam Hussein mit Hitler in der israelischen Presse während des Golfkriegs. Sein Argument lautet, daß, weil es unmöglich sei, die Shoah als konkrete Realität und Auschwitz als konkrete, routinierte Todesfabrik zu erinnern, in al­lem, was zu erinnern übrigbleibt, die Shoah zum Paradigma der condition humaine werde, zur Matrix, die die permanente Bedrohung der Mensch­­lichkeit symbolisiere. Wenn »die Shoah die ultimative Verdinglichung der Beziehung zwischen Mördern und Ermordeten, zwischen Tätern und ihren Opfern darstellt, indem sie den Höhepunkt der Unterdrückung symbolisiert«, dann verneinen partikularistische Lektionen (wie der israelisch-jüdische Imperativ, daß »es« »uns« »niemals wieder passieren« wird), das universalistische Edikt von der Heiligkeit menschlichen Lebens: »Menschen, die, zur Entschuldigung oder um Akte der Unterdrückung zu rechtfertigen, anführen, ‚meine Logik wurde in Auschwitz verbrannt’,… vergehen sich am Gedächtnis der Opfer.« In anderen Worten: Repräsentationen der Vergangenheit führen nicht deren Erinnerung herbei, sondern die Auslöschung der Erinnerung. Überträgt man Youngs Idee der »vermittelten Erinnerung« vom Individuum auf die Politik, läßt sich meiner Auffassung nach feststellen, daß die Erzählung und Wiedererzählung der Shoah nicht nur benutzt wurde, um eine bestimmte Form des Gedächtnisses zu konstruieren, sondern auch zur Rechtfertigung bestimmter Handlungen, vielleicht weil in der westlichen Imagination kein anderes Lexikon zur Verfügung steht, um Katastrophen zu erzählen. Im Fall des Staates Israel wird das Gedächtnis der Shoah routinemäßig eingesetzt, um die Dichotomie Israel/Diaspora zu recht­fertigen und damit – unbeabsichtigt, aber unausweichlich – die Fortsetzung und die Ausschreitungen der Besatzungspolitik. Nach Zuckermann hat Israel niemals die Shoah erinnert, obwohl es die »Lehren von Auschwitz« bemüht, um seine Politik zu gestalten.

Zur Aktualität des »Auschwitz Code«

Ein schmerzvolles Beispiel der jüngsten extremen Verwendung des »Auschwitz-Code« war der Vorschlag eines hohen Offiziers der israelischen Armee (IDF), den er während des zweiten Jahrs der Al-Aqsa-Intifada machte: Es sei sinnvoll, sich anzusehen, wie die deutsche Armee den Aufstand des Warschauer Ghettos niedergeschlagen habe, wenn man ein palästinensisches Flüchtlingslager oder die Altstadt von Nablus ohne eigene Verluste erobern wolle. In seinem Kommentar zu diesen Vorschlägen bemerkte der Journalist der Zeitung Ha’aretz, Amir Oren, daß dieser Offizier nicht allein dastände. Andere Offiziere hätten ähnliche Äußerungen getan, und ihre Überlegungen deuteten auf größere Dilemmata, wie die Verwendung deutscher Wiedergutmachungsfonds: »Militärhilfe – und wenn ja, welche (U-Boote aus der Flotte von Reichsadmiral Dönitz – nein; Hilfe von Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß zum Bau des AKW Dimona – ja)«? Israel hat keine ko­loniale Vergangenheit, aber wie der israelische Schrift­steller Itzhak Laor (2002) erklärt, »haben wir unser Gedächtnis des Bösen«. Kann das erklären, warum israelische Soldaten Kenn-Nummern auf die Arme von Palästinensern stempelten? »Warum wurde während des letzten Gedenktages des Holocaust ein lächerlicher Vergleich zwischen den im Warschauer Ghetto Eingeschlos­senen und den Belagerern des Flüchtlingslagers von Jenin gezogen?« – Israelis empfinden ein extremes Unbehagen bei jedem Vergleich mit der Shoah, dennoch kommt der Auschwitz-Code in der alltäglichen Konfrontation zwischen israelischen Soldaten und Palästinensern zum Vorschein.

Glaubt man dem palästinensischen Menschenrechtsaktivisten Abed al Ahmad, der zum vierten Mal ohne Anklage verhaftet und eingesperrt wurde, als er im Begriff war, seine jüdisch-amerikanische Verlobte zu heiraten, so teilte im Mai 2002 ein Offizier der IDF namens Sergei palästinensischen Gefangenen in Ofer, nachdem diese 16 Stunden gefesselt und mit verbundenen Augen auf dem Boden gesessen hatten, mit: »Will­kommen in unserem Konzentrationslager. Was die Deutschen uns angetan haben, das werden wir euch antun. Was wir durchmachten, werdet ihr durchmachen. Dann könnt ihr nach einer anderen Nation suchen, um sie zu quälen, wie wir euch quälen werden.« Ein Sprecher der Armee bestritt, daß diese Äußerungen gefallen seien und verurteilte derartige Haltungen, die einem in der Tat das Blut gefrieren lassen (Gideon Levy, 2002). Obwohl die Shoah kommerzialisiert, glorifiziert, aus der Wirklichkeit herausmetaphorisiert und von den historischen Fakten abgetrennt wurde, war sie nach Irena Klepfisz (1990) »kein Ereignis, das 1945 endete – jedenfalls nicht für die Überlebenden. Nicht für mich.«

Außer sich über die »Verwässerung« und das »mainstreaming« der Shoah, möchte Klepfisz hinausschreien: »Ihr treibt Schindluder mit meinen Schmerzen, mit meinen wirklichen Schmerzen, meinem wirklichen Leben. Vergeßt die Metapher. Denkt nach über die Realität.« Jenseits der Vorstellung vom »Holocaust als Gespenst« muß man fragen, ob der Dualismus des verführerischen Traums von absoluter Macht und der Angst vor ihr, der nach Friedländer die anhaltende Faszination des NS und der Shoah ausmacht, auch, wann immer unsere Weltordnung bedroht scheint, das Bedürfnis weckt, die Welt als einen »Kampf der Kulturen« darzustellen, was uns allerdings auf das metaphorische Universum des Nazismus zurückwirft. Es gibt eine Verbindung zwischen der Rassifizierung im Verlauf des »Krieges gegen den Terrorismus« nach dem 11. September und einer unbeabsichtigten Rückkehr zur Metaphorik des NS und zum Auschwitz-Code als zentraler Metapher.

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten

Vergleiche zwischen Bin Laden und Hitler oder zwischen den Israelis, den Palästinensern und den Nazis werfen ernstzunehmende Fragen auf, nicht nur über die Grenzen der Vergleichbarkeit, sondern auch über die gegenwärtigen Konflikte, die durch das »Zusammenspiel von Gedächtnis und Geschichte« geschaffen werden. Darüber hinausgehend argumentiere ich in Übereinstimmung mit Friedländer, Hirsch, Zuckermann und Klepfisz, daß der wiederholte Gebrauch einer metaphorischen Sprache die Erinnerung an die Shoa selbst auslöscht.

Gegengedächtnis/Berlin

Im Dezember 2001 besuchte ich Berlin, um an einer Konferenz teilzunehmen. Ironischerweise – eine Ironie, die den meisten Teilnehmern entging – fand die Konferenz in der Villa Wannsee statt, dem Ort, an dem die »Endlösung« beschlossen wurde. Berlin ist faszinierend durch die Art, wie sich hier verschiedene Geschichten überlagern und dem Besucher einen Blick auf die postmoderne Konstruktion des Unbehagens an der Moderne erlauben – mittels verschiedener Alltagspraktiken der Erinnerung und des Verdrängens. Für mich stellt sich in der Stadt Berlin – einer Stadt, in der postmoderne Architektur historische Plätze zitiert und »re-zitiert« – mit James Young die Frage, »wie kann in einer Stadt, in der die Menschen nicht länger‚ ‚zu Hause sind‘, das Gedächtnis dieser Menschen ‚hausen’? Wie kann eine Stadt wie Berlin ein Volk wie die Juden wieder in ihre offizielle Vergangenheit zurückholen, nachdem sie sie so mörderisch vertrieben hat?«

Die Herausforderung besteht darin, die Vergangenheit der Shoah im Blick zu behalten, während wir sehr aufmerksam verfolgen, wie wir diese Vergangenheit einsetzen, um diskursiv die Zukunft zu gestalten. Die beständige Benutzung des »Auschwitz-Code« und seine Verwendung in politischen Gegenwartskonflikten wie der Rassifizierung von Flüchtlingen und der westlichen Ausgrenzung der »Anderen«, sind Omen der Ausgestaltung von Gedächtnis, Gegengedächtnis und Nachgedächtnis im 21. Jahrhundert.

Ronit Lentin, Dr. phil., geboren 1944, Leiterin des Studienganges »Ethnic and Racial Studies«, Trinity College, Dublin


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