Vor 25 Jahren beschloss die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Alma Ata das Ziel »Gesundheit für alle« – Viele Überlegungen sind nach wie vor gültig.
September 1978: In Alma Ata (Kasachstan) geht eine Konferenz zu Ende, die eine fast utopisches Ziel für die Gesundheit der Menschen der Welt beschließt: Gesundheit und Wohlbefinden für alle bis zum Jahr 2000.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Unicef hatten zu diesem Anlass 134 Delegierte der UN-Mitgliedsstaaten versammelt. Diese Utopie zehrte aber nicht vom Traum eines allmächtigen Medizinsystems, das alle Krankheiten ausrotten würde, – wie es die heutigen Träume der Biopolitiker und Gentechnologen versprechen –, sondern von den beeindruckenden Erfahrungen in den Ländern der 60er und 70er Jahre, in denen radikale politische Änderungen auch zu fundamentalen Verbesserungen der Gesundheitssituation der armen Bevölkerung geführt hatten. Vorbild waren beispielsweise die Barfußärzte in der Volksrepublik China. Solche Innovationen ermöglichten eine Ressourcenumverteilung im Gesundheitswesen, das zuvor allein den städtischen Eliten und Mittelschichten zugänglich war. Entscheidender noch war jedoch, dass die WHO und damit Vertreter von 134 Regierungen in Alma Ata Bedingungen für eine zureichende Gesundheit benannten. Sie berücksichtigten explizit politische und sozioökonomische Faktoren als Ursachen für Krankheit. Wer also »Gesundheit für alle« ernsthaft erreichen wollte, der musste sich auch mit der Beseitigung solcher Krankheitsfaktoren wie Krieg, Hunger, Armut beschäftigen. Darüber hinaus war es einhellige Auffassung der Delegierten, dass die Verbesserung von Gesundheit einer multisektorale Anstrengung bedarf.
Nicht das Gesundheitssystem allein sollte für die Erreichung des Zieles verantwortlich sein. Trinkwasser, sanitäre Systeme, Ernährung, Wohnen, Gewaltprävention wurden als zentrale Arbeitsfelder der Gesundheitsförderung betrachtet. Die demokratische Beteiligung der Betroffenen definierten sie als Voraussetzung für »Gesundheit für alle«. Demokratie war hier kein deklamatorisches rotes Schwänzchen, sondern beinhaltete die Idee, dass die Dezentralisierung von Entscheidungen, die Nutzung lokaler Ressourcen und die Beteiligung der Betroffenen zugleich auch einen krankheitsvorbeugenden weil aufklärerischen Charakter tragen. Vor diesem Hintergrund verstanden sich die »Acht Elemente« der Basisgesundheitspflege (u.a. Impfungen, Ernährungssicherung, Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln etc.) nicht als ein »Kochrezept für preisgünstige Medizin für Arme«, sondern als radikal anderer Zugang zur Problemlage von Krankheit und Gesundheit: als Frage nach gerechter Verteilung von Ressourcen, auf dem Fundament basisdemokratischer Entscheidungen und der gesellschaftlichen Verantwortung für die Gesundheit aller ihrer Mitglieder.
Nicht erst im Jahr 2003 wird sichtbar, dass dieses sozialpolitisch radikale Programm so gut wie nirgendwo umgesetzt wurde. Vielmehr dominiert immer stärker die Tendenz, Gesundheit in rein ökonomischen Begriffen zu denken. Gesundheit hat den Charakter einer Handelsware angenommen, und ist den Habenichtsen der Welt des 21. Jahrhunderts noch unerreichbarer als 1978, da mit dem Rückenwind der Entkolonialisierungsbewegungen noch vieles denkbar schien. Dazu beigetragen hat eine folgenreiche Vermischung zweier Bedeutungen von »Primary Health Care« bereits in den Alma Ata Dokumenten: PHC war zugleich als »Gesundheitsversorgungsniveau« im Sinne kostengünstiger Basisgesundheitsdienste für arme Menschen in Entwicklungsländern und als »umfassender Neuansatz« im Denken und Planen über die Realisierung von Gesundheit im oben beschriebenen Reform-Sinn fixiert worden. Auf PHC im zweiten Sinne bezogen sich die »Utopiker« einer wesentlich gerechteren Verteilung und Entscheidungsfindung über Ressourcen und Strukturen. Dass solche Strategien einer demokratischen Umverteilung auch den neuen Eliten in den unabhängig gewordenen Kolonien als Bedrohung ihrer gerade erreichten Macht- und Entscheidungspositionen erscheinen mussten, liegt auf der Hand. Das Bekenntnis zu PHC geriet häufig zum Lippenbekenntnis. In der Praxis wurden besonders in den ärmsten Ländern die Mittel für die lokalen Gesundheitsdienste reduziert, so dass auch in Ländern mit formal immer noch kostenloser Grundversorgung (z.B. Angola) in der Praxis ohne private Zahlungen kein Patient untersucht und behandelt wird.
Magic Bullets und Primary Health Care
Angesichts eines machtpolitisch »gefährlichen« umfassenden PHC Ansatzes waren die Stimmen der »Pragmatiker«, die Primary Health Care auf ein Konzept rentabler medizinischer Interventionen beschränken wollten, hochwillkommen: Selektive Primary Health Care (SPHC) schien die Lösung für armutsbedingte Krankheiten zu versprechen – ohne der Armut als Strukturproblem auf den Pelz zu rücken. Entsprechend enthusiastisch wurde SPHC von den internationalen Finanziers begrüßt: angesichts der sich Anfang der 80er Jahre verschärfenden Rezession, in deren Folge viele Entwicklungsländer in die »Schuldenkrise« gerieten. Keine Rede mehr von konsequenten Umverteilungen und sozialer Reform. UNICEF, anfangs Initiatorin der umfassenden Vision der Alma Ata Konferenz, rief auf zur »Child Survival Revolution« und propagierte »Sieben Wunderwaffen gegen die Kindersterblichkeit«. Darunter die wichtigsten Impfungen, Wachstumskontrollen und Förderung des Stillens. Die Senkung der Kindersterblichkeit wurde zum sozialpolitisch ungefährlichen Gradmesser der Gesundheitsanstrengungen, da sie politische und ökonomische Ungerechtigkeiten nicht mehr thematisierte. Die meisten Regierungen, internationale Geber und die Weltbank favorisierten solche Gesundheitsinterventionen. Besonders Impfkampagnen ließen sich mit militärisch anmutenden Operationen durchführen und in medialer Darstellbarkeit präsentieren. Die Impfraten gegen Masern, Kinderlähmung, Diphtherie, Keuchhusten und Tetanus stiegen bis Anfang der 90er Jahre von 20–30% auf 70–90%, die Zahl der jährlichen Todesfälle von Kleinkindern unter 5 Jahre blieb konstant bei ca. 13 Mio. – statt dem berechneten Anstieg auf 17 Mio. Nur änderte sich nichts an der Mangel- und Unterernährung von 200 Mio. Kleinkindern, nichts daran, dass die Müttersterblichkeit in den ärmsten Ländern im Vergleich zu den reichen Ländern 20 mal höher war, dass klassische Infektionskrankheiten wie Tuberkulose wieder sprunghaft anstiegen und die Lebenserwartung unter den Armen und insbesondere in den von HIV/AIDS betroffenen Ländern heute wieder dramatisch sinkt.
Daran zeigt sich, dass es technische Lösungen und »Wunderwaffen« für die Probleme im Gesundheitsbereich nicht gibt. Wer das behauptet, vernebelt den Blick für die Ursachen einer Katastrophe, die die amerikanische Medizinjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin Laurie Garrett als »Ende der Gesundheit« bezeichnete: die dramatischen Einschnitte die Gesundheitssysteme gerade in den ärmsten Ländern in den vergangenen 20 Jahren erlebt haben. Denn bereits die Strukturanpassungsprogramme die IWF und Weltbank den armen Ländern in den 80er Jahren verordneten haben dem Ziel »Gesundheit für alle« den Garaus gemacht. In den ärmsten 37 Ländern wurden damals auf Druck von IWF und Weltbank die Ausgaben für Gesundheit um 50 Prozent zurückgefahren. Peru gab 1991 jährlich sage und schreibe 12 Dollar pro Einwohner für Bildung und Gesundheit aus. Ein Viertel von dem, was es im Jahrzehnt zuvor für diese Bereiche zur Verfügung hatte. Alles im Zeichen des Schuldendienstes an westliche Banken. Die Entstaatlichung ganzer Länder, deren Folgen wir heute in nicht endenden und grausamen Bürgerkriegen miterleben, nahm hier ihren Ausgang. Insofern ist das Scheitern von Alma Ata kein Ereignis, das von heute aus lediglich mit Schulterzucken über die verrückten Utopisten der 70er Jahre bedacht werden kann.
Vom Elend der »Selbstbeteiligung«
Als Folge des Finanzierungsdefizits im öffentlichen Gesundheitswesen mussten soziale Gesundheitsdienste eigene Einkommen erbringen. Benutzergebühren wurden besonders für Medikamente, Laborleistungen und technische Untersuchungen eingeführt. Auch wenn solche Initiativen Ausnahmeregelungen für die Ärmsten vorsahen (wie die Bamako-Initiative von UNICEF 1987), ergab sich in der Praxis, dass arme Familien durch Gebühren für Krankenbehandlung häufig in Verschuldung gerieten, die ihre ohnehin prekäre ökonomische Situation vollends katastrophal machte. Vor allem musste die scheinbar einleuchtende »Selbstbeteiligung« der Bevölkerung an ihren Gesundheitsdiensten dazu führen, dass gerade die Ärmsten, die aufgrund ihrer Armut auch häufiger von Krankheiten betroffen sind, überproportional zur Finanzierung der Gesundheitsdienste beizutragen hatten. Genau der gegenteilige Effekt zur Idee der progressiven Besteuerung, der den Wohlhabenden einen größeren Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Dienste abverlangt, und damit eine organisierte Form der »ausgleichenden Gerechtigkeit« darstellt.
Die Weltbank und die Gesundheit
Der Weltbankbericht von 1993 »Investing in Health« löste lebhafte Debatten über mögliche Änderungen der Politik der bis dahin streng den neoliberalen Konzepten verpflichteten Institution aus. Ein gerütteltes Maß Selbstkritik der Weltbank gegenüber den Folgen ihrer Wirtschaftsprogramme schien den Weg zu öffnen für die aktivere Rolle der Staaten in den Sektoren Armutsbekämpfung und soziale Sicherung. Staatliche Ausgaben für Bildung und Gesundheit galten nun als »Investitionen«, weil kranke Menschen wirtschaftlich unproduktiver waren und die Investition in die »Human Ressources« als Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Aufschwung gesehen wurden. Eine solche Selbstkritik der Weltbank angesichts der sozial verheerenden Folgen der Strukturellen Anpassungsmaßnahmen der 80er Jahre, die als »verlorene Dekade« in der entwicklungspolitischen Diskussion einging, traf auf Zustimmung. Allerdings erwiesen sich die folgenden Konzepte der Weltbank wieder nur als Neuauflage des Alten.
Benutzergebühren waren wieder dabei. Die Angebote wurden strikt nach »Cost-Effective« bemessen. Die Weltbank blieb ihrem Ruf als neoliberale Institution treu und forderte »Vielfalt und Wettbewerb unter den Trägern der Gesundheitsdienste«, was unter den realen Bedingungen der Entwicklungsländer nur bedeuten konnte, dass die schon existierende Aufspaltung des Gesundheitssystem verstärkt wurde: in ein schäbiges, unzureichend ausgestattetes öffentliches mit unmotivierten, überarbeiteten und schlechter qualifiziertem Personal und einem Privatsektor, der qualifizierte Leistungen nur gegen hohe Bezahlung bereitstellt, der keine Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung der ökonomisch Schwachen übernimmt.
Public-Private Partnerships for Health
Anfang der 90er Jahre wurde deutlich, dass die Übernahme der Diskurshoheit in Sachen Gesundheit von der WHO zur Weltbank nur eine Tendenz reflektierte: den »Rückzug des Staates« und die Dominanz privatwirtschaftlicher Akteure. Neuartige Stiftungen und Initiativen der multinationalen Konzerne traten auf den Plan, die offensiv Gesundheitsmaßnahmen zur Demonstration ihrer »Corporate Social Responsibility« förderten. In welchem Umfang private Mittel die internationale Entwicklungshilfe im Gesundheitsbereich ein- und überholte machen die folgenden Zahlen deutlich: Allein die Gates-Foundation investierte in den letzten Jahren jährlich 1 Mrd. Dollar in globale Gesundheitsinitiativen. Den doppelten Betrag der Weltbank, oder 5-mal den Betrag der Mittel Englands oder der USA. Besonders die 1998 gewählte WHO-Chefin Gro Harlem Brundtland förderte massiv die Kooperation mit den privatwirtschaftlichen Akteuren – in der festen Überzeugung, dass ein kollektives Management von Regierungen und Industrie, Konsumenten und Produzenten die Strategie der »neuen Zeit« in der globalen Interdependenz seien. Solche »Globalen Allianzen« wurden dann mit großem medialen Aufwand geschmiedet: »Roll back Malaria«, die »Global Alliance for Vaccines and Immunisation (GAVI)« und die »Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN)«. Bei diesen neuen Initiativen wird erneut ein rein technisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit deutlich. Man orientiert sich an schlichten Ursache-Wirkungs-Modellen (Mücke & Malaria; Mangelernährung & fehlende Mikronährstoffe) – die soziale und gesellschaftliche Dimensionen von Gesundheit und Krankheit, von Armut und ungerechten Ressourcenzugängen, von gesellschaftlicher Ausgrenzung und unzureichenden Versorgungssystemen, bleibt systematisch ausgeblendet.
Derart werden die scheinbar simplen Lösungen, welche die Gesundheitskampagnen anbieten, nicht nur unzureichend wirksam, sondern tragen tendenziell zur Zementierung der immer tiefer werdenden Spaltung zwischen denen bei, die noch teilhaben an den gesellschaftlichen Sicherungssystemen und jenen, die davon schon längst nicht mehr erreicht werden.
People’s Health Movement und Soziale Foren
Allerdings wurde die Perspektive von Alma Ata nicht vollends vergessen. Gerade rund um das »magische Datum« 2000, – jener vor 25 Jahren anvisierten Zielperspektive von »Health for All« – , griffen Aktivisten die alten Pläne neu auf und formulierten auf der »Weltgesundheitsversammlung von unten« die »People’s Health Charta« als Fortschreibung und neuen Impuls für eine umfassende Sicht auf die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit.
Die aktuellen Auseinandersetzungen um die »Gesundheitsreformen« in Deutschland zeigen, dass die Kämpfe um Gesundheit keineswegs auf die armen Länder der Welt beschränkt bleiben. Die Rettung sozialer Sicherungssysteme in Zeiten der globalisierten Ökonomie kann kein ausschließlich im nationalen Rahmen gedachtes Projekt sein kann. Die Verbindung des Kampfes gegen eine Verwandlung von Gesundheit in lukrative Dienstleistungen für zahlungsfähige Kunden und gegen eine elende »Armenmedizin« für den Rest steht oben auf der Tagesordnung. Das People’s Health Movement ist dabei nur einer der Brennpunkte im Zeichen weltweiter und regionaler Sozialforen. Diese Auseinandersetzung mit der Alternativlosigkeit der kapitalistisch globalisierten Welt. Dies wird die wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre und vielleicht Jahrzehnte sein.
Andreas Wulf