Sie alle kennen das Motto, mit dem ein deutsches Medien-Kaufhaus seit einigen Jahren Werbung betreibt. Anfang des Jahres schein es jede Kraft verloren zu haben. Nicht "Geiz ist geil" stand mehr auf der Tagesordnung, sondern fast schon: "Wer spendet mehr!"
Tatsächlich zeigte sich die deutsche Öffentlichkeit von einer bis dahin kaum gekannten Großzügigkeit. 600 Mio. Euro privat erbrachte Spenden, das hatte es nie zuvor gegeben. Die ungeahnte Spendenbereitschaft, die dem Seebeben in Südasien folgte, war ohne Frage eine Folge der großen medialen Aufmerksamkeit, die die Katastrophe erfahren hat. Und sie hing sicherlich auch damit zusammen, dass unter den Opfern auch Deutsche waren und liebgewonnene Touristenparadiese betroffen wurden.
Dennoch steht für mich außer Frage, dass in dem vielfältigen Engagement für die Opfer des Tsunami auch Anzeichen einer wachsenden globalen Verantwortung auszumachen waren. Selbst die Peinlichkeiten, die so manche Spendensammlung begleitet und mitunter die Grenze zum Obszönen überschritten haben (z.B. Apres-Ski, Disco-Wünsche), änderten nichts daran.
Insbesondere unter jüngeren Menschen scheint das Bedürfnis nach sozialem Ausgleich wieder zu wachsen. Viele hundert Initiativen boten sich an, längerfristige Partnerschaften einzugehen. Und auch wenn es dabei so manches Missverständnis gab und nicht alle Angebote ernst zu nehmen waren, wurde doch deutlich, dass der Trend zur gesellschaftlichen Entsolidarisierung, der mit dem Siegeszug des Neoliberalismus einhergegangen ist, nicht mehr unwidersprochen ist. Und das ist gut so! Unbedingt muss es nun darum gehen, die Bereitschaft zur Solidarität zu fördern und politisch zu stabilisieren. Was das heißen könnte, dazu will ich am Ende meiner Ausführungen einige Anmerkungen machen.
Zuvor aber will ich den Fragen nachspüren, die im Programm stehen: Welchen Einflüssen unterliegt die Not- und Katastrophenhilfe und welche Erwartungen richten sich an die Organisationen? Eine dritte Frage scheint mir wichtig: Wie groß ist dabei der Anteil der "self-fulfilling prophecy". Denn Hilfsorganisationen sind ja bekanntlich nicht nur Projektionsflächen von Interessen und Erwartungen, sondern helfen selbst aktiv mit, solche Erwartungen zu erzeugen.
Wenn im folgenden auch das eine oder andere kritische Wort fallen muss, dann nicht um das helfende Handeln als solches in Frage zu stellen, und schon gar nicht, um das Engagement von zum Glück noch immer hilfsbereiten Menschen verächtlich zu machen, sondern nur um darüber nachzudenken, wie die Qualität der Hilfe gesteigert werden kann.
Bekanntlich ist Hilfe nicht frei von Eigennutz. Hilfe ist immer interessengeladen und kann am Ende Wirkungen haben, die der ursprünglichen Absicht komplett entgegenstehen. Wer das verhindern will, kann gar nicht anders, als immer wieder auch das eigene Tun kritisch zu reflektieren. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich zur Verdeutlichung der Probleme gelegentlich ein wenig überspitze.
Hilfe als Selbstzweck
Wenn heute in der Öffentlichkeit von Hilfe die Rede ist, geht es kaum noch um einen emphatischen Begriff von Hilfe. Nicht das Bemühen um eine nachhaltige Überwindung von Not und Unmündigkeit steht mehr im Vordergrund, sondern das Abfedern jener Schäden, die eine auf wachsende Ungleichheit gründende Weltordnung tagtäglich und immer wieder neu produziert.
Der Bedeutungszuwachs der humanitären Hilfe gegenüber der Entwicklungszusammenarbeit resultiert aus den großen globalen Veränderungen. Zwar ist die Welt im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung näher zusammengerückt sind, doch war sie nie so gespalten wie heute. Soziale Verteilungskämpfe und ökologische Katastrophen, die fast ausschließlich die ärmeren und ausgeschlossenen Teile der Weltbevölkerung treffen, haben nicht nur die Notwendigkeit der humanitären Hilfe erhöht, sondern auch das Bild verändert, das sich die Öffentlichkeit von glaubwürdiger Hilfe macht.
Der lange Zeit hoch im Kurs stehende Grundsatz: "Gib dem Hungernden einen Fisch, und er ist einen Tag satt; lehre ihn fischen, und er wird immer satt sein", wirkt heute merkwürdig angestaubt, fast schon überkommen. Wer im Angesicht eines hungernden Kindes nach den Ursachen des Hungers fragt, gilt in den Augen der Öffentlichkeit kaum noch als glaubwürdig, mitunter sogar als Unmensch.
Denken Sie an den scheidenden Umweltminister Trittin, der anlässlich der Überflutung New Orleans das tat, was man von einem aufgeklärten Politiker eigentlich erwarten sollte: Nämlich nach Ursachen zu forschen, um mit entsprechenden politischen Maßnahmen dafür zu sorgen, dass sich Katastrophen nicht wiederholen. Aber nicht Zustimmung wurde Trittin zuteil, als er die Zunahme von ökologischen Katastrophen in den Kontext ungebremster Schadstoffemissionen stellte, sondern der Vorwurf, er würde die Not von Menschen politisch missbrauchen. Trittin wurde zurückgepfiffen von denen, die den Prozess der Globalisierung gerne als eine ökonomische Zwangsläufigkeit präsentieren, der politisch nicht gesteuert, nur hier und da ein wenig abgefedert werden kann.
Die Art wie die Globalisierung stattgefunden hat, aber ist keine Zwangsläufigkeit. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu scheinbar paradox als "Politik der Entpolitisierung" beschrieben hat. Mir scheint, dass diese Politik inzwischen auch in den Konzeptionen von Hilfe ihren Niederschlag gefunden hat.
Die heutigen Helfer jedenfalls halten sich nicht mehr lange mit den Hintergründen einer Krise aufhält. Wo früher das Streben nach einer besseren Welt zum Handeln motivierte, herrscht heute ein unpolitischer Pragmatismus, der sich nicht einmischen, keine Partei ergreifen will. Dabei wird Hilfe immer mehr aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst und von technischen Erfordernissen überlagert. Effiziente Versorgungswege sind gefragt, leistungsfähige Abwicklungskapazitäten und Helfer, die unmittelbar zupacken.
Für die Vorstellung, die große Teile der Öffentlichkeit von einer glaubwürdigen Hilfe hat, steht emblematisch das Bild des weißen Hubschrauberpiloten, der vor einigen Jahren, als Mosambik von einer katastrophalen Überschwemmung heimgesucht wurde, ein neugeborenes Baby samt seiner Mutter aus einem umfluteten Baum rettete. Genau dieses Bild symbolisiert die von außen einschwebende und meist gleich wieder verschwindende Hilfe. In ihr scheint es keinen Kontext mehr zu geben und so auch keine Gesellschaftlichkeit. Die Möglichkeit der Rettung des Einzelnen versöhnt mit der katastrophalen Entwicklung der Welt, die so sehr der Rettung bedürfte.
Dabei mangelt es nicht an Wissen über das, was in der Welt vor sich geht. Niemand würde ernsthaft behaupten, es sei vernünftig, die Umwelt zu zerstören, Menschen zu entwurzeln und Kriege zu entfesseln. Das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Schadstoffemissionen, Klimaveränderung und der Zunahme von ökologischen Katastrophen wie Hurrikane, Trockenheit, Überschwemmungen etc. aber geht Hand in Hand mit dem Gefühl wachsender Ohnmacht. Zu Empörung und Mitgefühl kommen Gefühle von Angst und Scham. Kann der Zerstörung überhaupt vorgebeugt werden? Ist es nicht längst zu spät?
Auf scheinbar paradoxe Weise hilft bei der Versöhnung mit einer unerträglichen Realität die Verengung der Wahrnehmung auf besonders krass hervortretende Katastrophen. In der Beschäftigung mit dem spektakulären Erdbeben, der aufsehenerregenden Überschwemmung, dem Krieg gegen die vermeintlichen Mächte des Bösen geht das Bewusstsein für die alltäglichen Nöte, die 100.000 Hungertoten pro Tag beispielsweise, verloren. Es ist die Dramatisierung des einzelnen Schreckens, die von der verstörenden Erkenntnis befreit, dass Flucht, Krankheit und Hunger – gemessen am Entwicklungsstand der Welt - durchaus vermeidbar wären.
Übrigens: die Erkenntnis, dass auch Naturkatastrophen von Menschen gemacht sind, reicht weit zurück. Anlässlich des Erdbebens von Lissabon, das vor 250 Jahren eine der blühendsten Städte Europas zerstörte, befand Rousseau, dass alle Katastrophen in dem Maße von Menschen verursacht werden, wie es die Menschen nicht vermögen, mit der Natur zu leben.
Vieles deutet darauf hin, dass das aufgeklärte Katastrophenverständnis, das sich mit dem Erdbeben in Lissabon durchzusetzen begann, heute wieder zurückgedrängt wird. Gerade in den USA gewesen, wo mir berichtet wurde, wie die Notunterkünfte der Hurrikangeschädigten zum Tummelplatz von Erweckungspredigern und Scientologen geworden sind. An die Stelle rationaler Ursachenforschung treten religiöse Deutungen und immer häufiger auch die Dämonisierung von Natur. Den Gipfel leistete sich während des Tsunami die Bild-Zeitung, die bündig titelte: "Terrorangriff der Natur - Will die Erde uns loswerden?" – Die Natur in wilder Ehe mit Osama bin Laden, da wollte dann auch George W. Bush offenbar nicht nachstehen. Erst kürzlich verglich er die vorrückende Vogelgrippe mit einem drohenden Angriff von Terroristen.
Man muss solche Dinge ernst nehmen. Eltern erfahren das in diesen Tagen. Wer kann denn noch ruhigen Gewissens mit seinen Kindern das schöne Lied "Alle Vögel sind schon da" singen. Ganz offenbar verkehrt sich aufmunternde Frühlingsatmosphäre in herbstliche Untergangsstimmung. Die Folgen sind weitreichend: Nicht mehr die kritische Erörterung von Fragen der Ökologie (beispielsweise die problematischen Folgen der Abholzung von Mangrovenwäldern im Zuge der Tourismusentwicklung) steht dann auf der Tagesordnung, sondern die Furcht vor weiteren "Angriffen der Natur".
Ängste und Scham aber verlangen bekanntlich nach Kompensation. Nicht zuletzt die Hilfe kann dabei eine große Rolle spielen. Darauf hat der Philosoph Zygmunt Bauman verschiedentlich hingewiesen: Mit der Hilfe für die Opfer, so Bauman, könnte es sich wie mit dem Karneval verhalten; die bestehenden Verhältnisse werden durch eine periodische, aber begrenzte und streng kontrollierte Umkehrung aller Normen bestätigt. Tatsächlich, so Bauman weiter, besteht im wohlhabenden Teil der Welt die Tendenz, Mitleid und Nächstenliebe an besondere Situationen zu binden, um damit ihr Nichtvorhandensein im täglichen Leben zu legitimieren und für normal zu erklären. Durch den Anblick menschlichen Unglücks ausgelöste moralische Impulse werden kanalisiert, in dem sie an Spendensammlungen gebunden werden.
Niemand anderes als Helmut Kohl hat Baumans bedenkenswerten Einwurf bestätigt. "Heute tun wir mal was Gutes", bekannte Kohl Anfang der 80er Jahre, als er beim ersten "Afrika-Tag" einige Geldscheine in eine Spendenbüchse warf. Deutlicher kann man nicht machen, wie das Streben nach Gerechtigkeit zur sogenannten "guten Tat" verkümmert, die über den realen Mangel an Gerechtigkeit, der in der Welt herrscht, hinwegtrösten soll.
Wenn heute Politiker aus dem Norden gemeinsam mit internationalen Showstars zu mehr Hilfe für Afrika aufrufen, dann scheint die Welt nicht mehr in Privilegierte und Gedemütigte, in Machtvolle und Ohnmächtige gespalten zu sein, sondern nur noch in Helfer und Hilfsbedürftige. Und das klingt viel beruhigender als Macht und Privilegien. Wer könnte schon an Hilfe Anstoß nehmen?
Der Verweis auf den legitimatorischen Gehalt von Hilfe heißt nicht, dass Hilfe nicht bitter nötig wäre. Im Gegenteil: wir alle erfahren in unserer täglichen Arbeit, dass viele dringend notwendigen Hilfsprojekte nicht durchgeführt werden können, weil das Geld fehlt. Aber, und nur so ist für mich der Appell nach zusätzlichen Mitteln sinnvoll: es bedarf auch entsprechender Konzepte, um zu einer dauerhaften Überwindung von Not beitragen zu können.
Mythen
Es ist höchste Zeit, die Bedürfnisse und Rechtsansprüche von notleidenden Menschen ins Zentrum des helfenden Handelns zu rücken. Wer das tut, wird sich rasch mit einer ganzen Reihe von Mythen konfrontiert sehen, die sich um die Idee von Hilfe ranken.
Es stimmt einfach nicht, dass die Opfer von Katastrophen völlig hilflos und unfähig zu eigenen Wiederaufbaubemühungen sind. Auch ist es ein Irrglaube, dass es vor Ort an allem fehle und nur die rasche Bereitstellung aller verfügbarer Hilfsgüter eine schnelle Wiederherstellung möglich mache.
Solche Mythen, die nicht zuletzt aus Publicity und Spenden-Gründen gepflegt werden, mobilisieren zwar die öffentliche Hilfsbereitschaft, führen aber immer wieder zu völlig unangepassten Hilfeleistungen, die schließlich auch die wichtigen Hilfsmassnahmen überlagern und konterkarieren können.
Gerade in Südasien war dies der Fall, wo in den ersten beiden Wochen nach dem Seebeben die Menschen auf bemerkenswerte Weise zueinander standen und sich in Nachbarschaftshilfe aktiv daran machten, die Schäden zu beseitigen.
Wenig erfuhren die Menschen hierzulande davon. Stattdessen sah man Helfer, die sich mit eindrucksvollem Gerät auf den Weg machten. Helfer, die sich Zugang ins Katastrophengebiet verschafften. Helfer, die Journalisten die Lage erläuterten. Helfer, die sich mit bürokratischen Apparaten herumschlugen. Helfer, denen Politiker ihre Aufwartung machten. Helder, die aus einem Einsatzgebiet wieder zurückkehrten. Helfer, die als die wahren und manchmal tragischen Helden in Talkshows und Benefizveranstaltungen gefeiert werden.
Empört zeigten sich unsere Partner in Indien und Sri Lanka darüber, dass die Opfer des Tsunami dagegen meist nur als hilflos zusammengekauerte Masse menschlichen Unglücks in den Berichten auftauchten, als Hintergrund für Spendensammlungen, möglichst dramatisch ins Bild gesetzt.
Nun heißt es gelegentlich, dass solche Bilder sozusagen aus taktischen Gründen unumgänglich seien. Ohne sie, so Georg Seeßlen im Spiegel, "wäre unser Geiz noch geiler, unser Herz noch leerer". Das mag so sein, doch transportieren die Bilder auch die Botschaft, dass es in den jeweiligen Katastrophengebieten für Selbsthilfe keine Ansätze gibt und umso mehr die Präsenz ausländischer Helfer notwendig ist. Die massive Anwesenheit von internationaler Hilfsorganisationen aber kann auch dazu beitragen, die Selbsthilfekräfte der Opfer zu lähmen und zu behindern. Das ist die Lehre, die beispielsweise aus dem Kosovo und aus Kabul zu ziehen wäre.
Aber zurück zu den Küsten des indischen Ozeans. Als sich unter den Tsunami-Geschädigten herumsprach, dass irgendwo Hilfsgüter verteilt würden, verließen viele ihre selbstbestimmten Wiederaufbaubemühungen und stellten sich in die Schlange der passiv Wartenden. Vielleicht haben Sie noch die Fotos in Erinnerung, auf denen militärische Landungsboote zu sehen waren, die riesige Berge von Kleidern auf die Strände kippten. Solche Hilfe erwies sich gleich in doppeltem Sinne als schädlich. Sie demobilisierte die Menschen und lastete ihnen zusätzlich noch die Bürde auf, die Hilfe wieder zu entsorgen. Für Kleider – zumindest in diesem Ausmaß - nämlich hatte niemand Verwendung.
Zur Förderung eigenständiger Hilfsbemühungen wäre es viel wichtiger gewesen, den lokalen Hilfskräften die Handy-Kosten zu finanzieren. Das aber muss vielen Helfern als zu abstrakt erschienen sein; stattdessen trafen, wie bei allen Katastrophen, Kisten mit abgelaufenen Medikamenten, Hundefutter, Raucherentwöhnungsdrops, Spaghetti-Sauce, Abmagerungsmittel, etc. etc. ein. Die Motive, die hinter solchen zweifelhaften Hilfen stehen, mögen integer sein, die Wirkung ist nicht.
Die Liste fehlgeschlagener Hilfsprojekte, die uns unsere indischen und srilankischen Partner berichteten, ist lang. Ohne dem Kollegen aus Bangladesh vorgreifen zu wollen, der das sicherlich noch ausführlicher darstellen wird, hier einige Beispiele:
Weil es zwischen den vielen Hilfsorganisationen, die ja nicht nur aus Deutschland, sondern aus allen Teilen der Welt eingetroffen waren, kaum nennenswerte Absprachen und keine Koordination gab, kam es zu großen Disparitäten in der Verteilung von Hilfsgütern: manche Dörfer bekamen viel, andere gar nichts. Vieles war dem Zufall überlassen, und nicht selten waren es eher zufällige Kontakte von Touristen, die darüber entschieden haben, ob jemand Unterstützung bekam. Die Folge solcher Disparitäten sind fast immer Neid und Demütigung, was in einem Land wie Sri Lanka, in dem seit Jahrzehnten Bürgerkrieg herrscht, ein unverantwortliches Anfeuern eh schon bestehender Konflikte bedeutet.
Auch viele der provisorischen Unterkünfte und Häuser, die für die obdachlos Gewordenen errichtet wurden, erwiesen sich als wenig angepasst: da meist darauf verzichtet wurde das traditionelle Wissen der Menschen vor Ort zu berücksichtigen, entstanden Unterkünfte, die zu heiß, zu stickig, zu feucht, zu windanfällig sind. Besonders in den Monaten des Monsun boten viele der gebauten Unterkünfte mehr Risiken, denn Schutz. Die Menschen zogen es jedenfalls vor, im Freien zu campieren.
Stichwort: Fischerboote. Nachdem in den Medien ausführlich über den Verlust der Boote berichtet wurde, schienen viele Organisationen, Initiativen, Kommunen darin einen griffiger Anknüpfungspunkt für das eigene Engagement zu sehen. Mit dem Ergebnis, dass in manchen Fischergemeinden heute ein 30% höherer Bootsbestand herrscht als vor der Katastrophe; parallel aber die Vermarktungskapazitäten nicht ausgebaut wurden und obendrein nun die Überfischung der Gewässer droht. Viele der von findigen indischen Unternehmern gebauten Boote haben sich als unangemessen, manche als absolut instabil erwiesen. Dass es bereits zu Unfällen gekommen ist, sei bedauerlich, meinte der Vertreter einer Organisation, aber: That's not our problem any longer, we have done our job.
Derart entfernt sich die Hilfe auch von den Leuten, denen sie eigentlich eine Unterstützung sein soll. Weil die Betroffenen nicht in die Planung einbezogen wurden, weil lokales Wissen zu wenig berücksichtigt und Hilfe als barmherzige Geste, nicht aber als Rechtsanspruch gesehen wurde, musste so manche Hilfsaktion, trotz guter Absichten, scheitern.
Interessen
Gegen die Mythen, die sich um Hilfe ranken, ist immer wieder angeschrieben wurden. Viele der hier Anwesenden können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, in das Geschehen, das rund um Katastrophen und Krisen herrscht, ein wenig Rationalität zu bringen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass noch in den 80er Jahren die öffentliche Debatte über mögliche problematische Effekte von Nothilfe lebendiger war. Zwar diskutieren wir heute über "do no harm" und sind auch bereit, quasi pausenlos die eigene Arbeit zu evaluieren, doch werden die Interessen und Erwartungen, die in die Hilfe einfließen, kaum noch reflektiert.
Das aber wäre die Voraussetzung für eine zeitgemäße Bildungsarbeit, die, wenn es denn schon nicht mehr allein um Entwicklungspolitik geht, sozusagen eine "katastrophenpolitische Bildungsarbeit" sein müsste. Dabei wäre dann auch die Frage zu klären, warum sich all die Mythen, die sich um Hilfe ranken, so hartnäckig halten.
Für ein entsprechendes Curriculum seien hier schon mal drei Themenkomplexe angesprochen.
Kommerzialisierung
Da ist erstes die Tatsache, dass Hilfe mehr und mehr von wirtschaftlichen Interessen durchsetzt und so zwangsläufig zu einem Selbstzweck wird. Die vielen Milliarden, die alljährlich für Nothilfebemühungen in aller Welt aufgebracht werden, haben die Hilfe zu einem expandierenden Wirtschaftszweig werden lassen. Seit einigen Jahren unterhält der Markt sogar eigene Messen, auf denen Nahrungsmittel, Rettungsboote, Minensuchgeräte, Zelte, Leichensäcke, Gasmasken, Trinkwasseraufbereitungsanlagen und anderen Dienstleistungen präsentiert werden.
Die größte Veränderung aber betrifft die Träger der Hilfe. Denn die Chancen, die das heutige Hilfsbusiness eröffnet, haben nicht nur die Zahl der Hilfsorganisationen anwachsen lassen, sondern auch ganz neue Akteure auf den Plan gerufen. Ich spreche nicht von den Militärs, die natürlich auch zu berücksichtigen wären, sondern vom corporate sector, den Unternehmen, von denen viele begonnen haben, eigene Hilfsorganisationen aufzubauen. RTL beispielsweise gründete die RTL-Stiftung "Hilfe für Kinder", bei der sozusagen alles aus einem Guss gemacht werden kann. Das Medium setzt das Thema, motiviert zur Aktion, sammelt Spenden und setzt diese in Projekte um, die wiederum neue Bilder liefern und für ein medial überzeugendes "Controlling" sorgen. Für mich sind in solchen selbst-referenziellen Kreisläufen Vorboten eines "Humanitär-Industriellen-Komplexes" auszumachen, wie ich das auf einem Symposium des AA im Jahr 2000 gesagt, und ganz offensichtlich habe ich mich nicht getäuscht.
Denn die neuen Konturen treten immer klarer hervor: Firmen werden zu Nothelfern; Rüstungskonzerne beispielsweise wollen an den Mitteln, die fürs humanitäre Minenräumen bereitstehen, partizipieren. Banken spenden zur besten Sendezeit an firmeneigene Stiftungen. TUI sammelt Spenden, um in Sri Lanka ein "TUI-Dorf" für 200 vom Tsunami geschädigte Familien aufzubauen. An nichts soll es den Begünstigten mangeln, kann man auf der Website des Tourismus-Unternehmens lesen. Problematisch nur, dass die Opfer sich sozusagen um die Unterstützung bewerben musste und die 200 begünstigten Familien aus einem Kreis von 500 ausgewählt wurden. Um was, frage ich Sie, geht es hier? Um Wiederherstellung von Autonomie? Oder um Hilfe als Lotteriegewinn im Kontext von Marketing-Strategien? Bemerkenswert jedenfalls, dass sich Unternehmen die Kosten für Marketing und der Werbung zunehmend auch aus Spenden finanzieren lassen.
Medialisierung
Zweitens sind da die immer prekärer werdenden Vorgaben der Mediengesellschaft. Nur wer selbst im Bild und Ton sichtbar wird, wirkt in der Medienöffentlichkeit überzeugend. Ein entsandter Arzt, der mit T-Shirt, Fahne und eindrucksvollem Auto ausgestattet wird, ist natürlich in viel stärkerem Maße "visible" als die lokalen Mitarbeiter von Partnerorganisation, die sich womöglich kaum von der Masse der Opfer unterscheiden.
Zu welch skurrilen Entwicklungen die Ausrichtung der Hilfe an öffentlichen Erwartungen führen kann, zeigen Meldungen aus Indien und Sri Lanka.
Weil das Thema Kinder bei den Spendern am besten ankommt, wollten viele hilfsbereite Initiativen, viele Kommunen und Hilfsorganisationen nur Schulen und Waisenhäuser aufbauen. Auf paradoxe Weise bedauerlich, dass die Zahl der zerstörten Schulen einfach nicht groß genug war, um allen hilfsbereiten Organisationen entsprechen zu können. Und unter Srilankern ging sogar der zynische Satz um, man müsse wohl noch ein paar der überlebenden Eltern umbringen, um genügend Waisen zu haben.
Der Bedarf für Unterstützung von außen war und ist fraglos groß. Ganz offenbar aber korrespondierte das, was die Menschen vor Ort brauchten, nicht mit den Erwartungen der heimischen Spender. Und gemessen an den Chancen, in der medialen Öffentlichkeit Resonanz zu finden, macht es schon einen Unterschied, ob man eine weithin sichtbare Baumassnahme fördert oder eben nur die Handy-Kosten von lokalen Partnern, die sich womöglich von den Opfern gar nicht groß unterscheiden.
Paternalismus
Und da ist drittens eine noch immer existierende paternalistische Grundhaltung, die den Mythos von der Hilflosigkeit der Opfer antreibt und auch das permanente Eingreifen in deren Belange legitimiert.
Jean Paul Sartre sprach in diesem Zusammenhang von einem "rassistischen Humanismus", der daraus resultiert, dass das Elend der Welt nicht vor dem Hintergrund der eigenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dominanz verstanden wird, sondern allein als Problem des Südens. Aus solcher Perspektive erscheint die Lösung dann tatsächlich in der "humanistischen Aktion" zu liegen, - der wohlmeinenden Hilfe für die armen Menschen im Süden, die leiden, weil sie eben so sind, wie sie sind.
Als Beleg für den noch immer existenten Paternalismus muss nicht unbedingt der skurrile Vorschlag eines Abgeordneten herhalten, der Anfang des Jahres empfahl, deutsche Arbeitslose zu Aufräumarbeiten nach Indien zu schicken, sondern kann durchaus auch die Debatte unter deutschen Sozialwissenschaftlern erwähnt werden, die dem katastrophen- und krisengeschüttelten Afrika eine europäische Treuhandschaft verordnen möchten.
Die Wiederentdeckung der Bildungsarbeit
Ich habe eingangs erwähnt, dass in der Betrachtung der Einflüsse und der Erwartungen, die an die Helfer gerichtet werden, auch der Anteil der "selbst-erfüllten Prophezeiung" zu untersuchen ist. Bekanntlich sind Hilfsorganisationen nicht nur Opfer von Erwartungen, sondern wirken auch tatkräftig mit, eben solche zu erzeugen. Vor allem das Bild, das sich die Öffentlichkeit von einer glaubwürdigen Hilfe macht, wird nicht zuletzt durch die Hilfswerke selbst geformt.
Es sind auch die Hilfswerke, die immer wieder die Bedeutung von Nothilfe betonen, die visible sein wollen, nach Medien schielen, auf Schnelligkeit setzen, den politischen, sozialen und kulturellen Kontext von Krisen und Katastrophen ausblenden, die Barmherzigkeit der Menschen mit der Unbarmherzigkeit von Bildern erkaufen und damit die Mythen pflegen, die so dringend einer Korrektur bedürfen.
To keep the story simple, raten die professionellen Fundraiser, und übersehen dabei, dass der Verzicht auf die Darstellung von Komplexität schließlich auch zu Lasten der Professionalität geht. Wer den Anschein erweckt, dass Hilfe in erster Linie ein entschlossenes Zupacken bedarf, nicht aber besondere Kenntnisse und schon gar nicht die zeitraubende und komplizierte Auseinandersetzung mit einem Geflecht oftmals nur schwer zu durchschauender Interessen, der muss sich nicht wundern, wenn am Ende vermehrt Vorstellungen auftauchen, die in Planung Bürokratie wittern und in Verwaltungskosten eine Form der unsittlichen Bereicherung auf Kosten der Opfern. Stehen seriöse Hilfswerke erst einmal derart unter Druck, ist gar nicht mehr zu verhindern, dass auch die Qualität der Hilfe Schaden nimmt.
Ich meine, dass es höchste Zeit ist, gerade die Komplexität von Hilfe hervorzukehren und verstärkt wieder in "Bildungsarbeit" zu investieren. Das ist für mich eine der Lehren, die aus dem Tsunami und den anderen Katastrophen, die sich zuletzt ereignet haben, zu ziehen ist. Es scheint mir dringend geboten, nicht nur für humanitärer Hilfe zu werben, sondern kritisch auch über deren Voraussetzungen und Begrenzungen aufzuklären.
Die Welt leidet nämlich nicht eigentlich an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe notwendig machen.
Thomas Gebauer ist Geschäftsführer von medico international. Das Symposium "Entwicklung in Zeiten von Katastrophen – Lektion gelernt?", 14.11.2005 in Bonn wurde veranstaltet vom Bündnis »Entwicklung hilft!« dem Brot für die Welt, medico international, Misereor, terre des hommes und die Deutsche Welthungerhilfe angehören.