Zinseszinsrechnung
Auf dem Weg in eine gesicherte Existenz lauern viele Unwägbarkeiten. In Seminaren und workshops haben die Bewohner von El Tanque deshalb überlegt, wie es gelingen könnte durch Diversifizierung der agrarischen Produktion zu überleben. Vieles wurde berücksichtigt: der Bau von Wasserleitungen, die Anschaffung von gemeinsam zu nutzenden Maschinen, die Anleitung durch Agronomen. Nur eines nicht: Die Tatsache nämlich, daß viele Tanqueros nicht lesen, nicht schreiben und nicht rechnen können.
Für einen Menschen mit einer soliden Grundbildung ist es schwer nachvollziehbar, wie ein Analphabet seine Umwelt erlebt. Die Geschichte von Cristobal Fletes verdeutlicht das. Cristobal Fletes ist Bauer aus El Tanque. Er hatte wie andere Bauern aus dem von medico finanzierten Kreditfonds Geld erhalten, um eine nachhaltige, ökologische Landwirtschaft zu betreiben. Der Kreditfonds ist essentiell, denn die Kleinbauern von El Tanque betreiben im wesentlichen Subsistenzwirtschaft und haben so gut wie kein Kapital. Zu Beginn jedes Agrarzyklus erhalten sie z.B. einen Warenkredit für Saatgut, das die Genossenschaft dann in großen Mengen einkauft. Innerhalb von sechs Monaten zahlen sie mit einem Teil der Ernte oder in bar zurück. Auch Cristobal Fletes wollte eines Tages im März seine Schuld begleichen. Er ging in das Gebäude der Genossenschaft, das im neu errichteten Ortskern gleich neben der Schule, dem Kindergarten, dem Rancho und dem Spielplatz liegt. Überrascht und empört verließ er gleich wieder die Genossenschaft, weil ihm der Buchhalter mitgeteilt hatte, daß er zu spät sei und einen Monat mehr an Zinsen zu zahlen habe. Im April hatte sich sein Zorn gelegt und er versuchte es erneut. Daß man jetzt noch mehr Zinsen von ihm verlangte, brachte ihn vollends gegen die Genossenschaft auf: »Ihr seid Diebe, ihr wollt uns nur das Geld aus der Tasche ziehen.« Cristobal nährte fortan im ganzen Dorf das Mißtrauen gegen die Genossenschaftsleitung. Auf Versammlungen wetterte er und brachte Gerüchte im Umlauf. Durchaus mit Erfolg.
Bilanzen für Analphabeten
Nun ist klar, daß der Fonds sehr günstige Kredite vergibt und auch keine Wucherzinsen verlangt. Damit sich der Kreditfonds auf Dauer selbst trägt, ist die Einhaltung der Rückzahlungsauflagen von großer Bedeutung. Die Genossenschaft versuchte die Transparenz über ihre Arbeit zu verstärken, um den Gerüchten, die Cristobal verbreitete, entgegenzuwirken. Aushänge mit exakten Bilanzen wurden hinter Glaskästen ans Genossenschaftsgebäude gehängt. Protokolle, Mitteilungen, Einnahmen-Ausgaben-Rechnungen wurden veröffentlicht. Doch es half nichts. Das Misstrauen blieb. Nach und nach wuchs die Erkenntnis, daß es in El Tanque viele Analphabeten gibt. Es fiel auf, daß die gedruckten Materialien nicht genutzt wurden oder daß Mitglieder der Genossenschaftsleitung ihre Kinder als Helfer zu Vorträgen mitbrachten. Eine Erhebung brachte es an den Tag: 56 Prozent der erwachsenen Bewohner von El Tanque sind Analphabeten. Auf einem Planungsseminar wurde die Einrichtung eines Alphabetisierungskurses und eine Kurses zur Erlangung des Hauptschulabschlusses gefordert. Nun war klar, woran bislang der Kampf gegen das Mißtrauen gescheitert war – an der fehlenden Bildung.
150 Erwachsene im Studierzirkel
Wenige Wochen nach dem Planungsseminar saßen über 150 Erwachsene im Alter von 16 bis 68 Jahren in den Studierzirkeln und ließen sich alphabetisieren. Ihre Lehrer waren vor allem junge Sekundarstufenschülerinnen aus dem Dorf. Die Texte stellte das Erziehungsministerium, medico international die sonstigen Materialien und die Lese-Brillen. Nur zwei erwachsenen Schüler standen die sechs Monate des Kurses nicht durch. Alle anderen erhielten danach ein Zeugnis des Ministeriums, daß sie erfolgreich alphabetisiert wurden und das Recht hätten an einem zweijährigen Kurs teilzunehmen, um den Hauptschulabschluß nachzuholen. Der zweijährige Kurs für den Hauptschulabschluss fing gut an. Mehr als 130 erwachsene Schülerinnen und Schüler beteiligten sich. Doch es dauerte nicht lange, da warfen immer mehr Teilnehmer das Handtuch. Als es nur noch achtzig waren, begann die Ursachenforschung. Viele hatten aufgehört, weil sie das Lehrmaterial des Erziehungsministerium nicht interessierte. Es war irgendwo in einem klimatisierten Büro entworfen worden, standardisiert für Stadt und Land. Die Tanqueros fanden sich in den Lerninhalten nicht wieder. Daß ihnen diese Materialien noch in einem hierarchischen Frontalunterricht nahegebracht wurden, noch dazu von Lehrerin, die selbst noch halbe Kinder sind, brachte viele erst Recht zum Verzweifeln.
Autoritäres Erziehungswesen
Wir beschlossen, eine eigene Unterrichtsmethodik zu entwickeln. Es wurden Lernziele für sieben Unterrichtseinheiten formuliert, die an die praktischen Alltagsnotwendigkeiten eines Bauern anknüpften. Auch die Methodik wurde trotz des anfänglichen Widerstandes der Erwachsenenbildnerin verändert. Statt im Frontalunterricht wie Unwissende behandelt zu werden, sollten die Erwachsenen den Unterricht so weit wie möglich selbst gestalten. Für die Lehrerinnen, die nichts anderes als das autoritäre Erziehungswesen Nicaraguas kannten, war das ein Greuel. Schließlich stimmten sie trotzdem zu. Da wurden Fähnchen aufgestellt und die Längen und Breiten des Hektars und der Manzana abgelaufen. An ihren müden Beinen spürten die Teilnehmer was die größere Fläche ist. Oder es wurde die Sackwaage aus der Genossenschaftslagerhalle geholt und das Körpergewicht gewogen. Lustig wurde es, als das ideale Körpergewicht gemessen und errechnet wurde. Jeder Zentimeter über einhundert Zentimeter der Körpergröße darf ein Kilo Körpergewicht sein. Da wurde heftig über die Dicken und die Dürren gelacht.
Die Erwachsenen-Fortbildung zeigt erste Erfolge. Vor ihrer Teilnahme am Kurs wurde beispielsweise Doña Mariana in schöner Regelmäßigkeit vom Aufkäufer über das Ohr gehauen. Für 200 Kürbisse etwa, die sie mit dem Tröpfchenbewässerung außerhalb der Saison gezogen hatte, bot er ihr folgende Bezahlung an: 3 Cordobas für 5 Kürbisse. Damals tat Doña Mariana alles, damit der Aufkäufer nicht merkte, daß sie das nicht rechnen konnte. Und diese Rechnung war wirklich zu kompliziert: 200 durch 5 mal 3. Das wären also 120 Cordobas gewesen. Der Aufkäufer wußte, daß sie nicht rechnen konnte, und gab ihr stattdessen nur 80 Cordobas. Sie protestierte. Aber sie mußte sich aufgrund ihrer mangelnden Rechenkenntnisse geschlagen geben. Der Händler zog grinsend mit den Kürbissen davon. Heute passiert das Doña Mariana nicht mehr. Sie zückt ihre Geheimwaffe, von denen es 120 im Projekt El Tanque gibt: ihren Taschenrechner. Einer mit großen Tasten, damit ihre an die Feldarbeit gewohnten Finger ihn auch bedienen können. 200 : 5 × 3 ist heute schnell gerechnet. Seither hat sich der Aufkäufer nicht mehr blicken lassen.
Cristobal Fletes am Flipp-Chart
Und Cristobal Fletes? Er nimmt ebenfalls an der Erwachsenenbildung teil. Außerdem ist er inzwischen im Komitee zur Gemeindeentwicklung aktiv. Er hatte seine große Stunde als Großspender aus Deutschland zu Besuch kamen. Mithilfe von Flipp-Charts erklärte er ihnen den Projektverlauf auf. Die Katastrophe mit der Schlammlawine 1998, die 2500 Menschen unter sich begrub. Er berichtet, wie die Überlebenden erst in Notunterkünften, dann fast ein Jahr unter Plastikplanen hausten. Er schilderte die Landbesetzung und den zähen Kampf um die Landtitel, der sich endlos hinzog und viele verunsicherte. Er berichtete vom Häuserbau in Nachbarschaftshilfe und von der ersten Aussaat, der Gründung der Genossenschaft, dem Aufbau des Gemeindezentrums mit Schulgebäuden, Gesundheitsposten, Verkaufsladen, Kindergarten, Genossenschaftsbüro, Lagerhalle. Als Cristobal schließlich zur Erwachsenenbildung kam, sagte er: »Und dank der Volkserziehung kann ich heute das alles vortragen und von meinem Flippchart ablesen«. Er zeigte dabei seine schiefgewachsenen Zähne und lachte bis hoch in die Augenwinkel. So ist es doch gelungen, das Vertrauen von Cristobal Fletes wieder zurückzugewinnen.
Walter Schütz
Nicaragua im Oktober 2003