Kommerzialisierung oder Solidarität?

Zur grundlegenden Orientierung von Gesundheitspolitik. Von Hans-Ulrich Deppe

01.09.2003   Lesezeit: 7 min

In den Bereichen des öffentlichen Sektors unserer Gesellschaft finden aktuell Veränderungen statt, die mit marktwirtschaftlichen Instrumenten gesteuert werden sollen. Das betrifft auch die Krankenversorgung. Grundlage der Krankenversorgung sind freilich stets ökonomische Determinanten. Die Frage lautet also: Wo sind die ökonomischen Grenzen, wo werden politische oder ethische Fragen gesellschaftsbestimmend? Die um sich greifende unkontrollierte Übertragung ökonomischer Gesetze auf außerökonomische Sachverhalte wird als Ökonomisierung bezeichnet. An ihr wird zurecht kritisiert, dass die betroffenen Menschen auf das Konstrukt des homo oeconomicus reduziert werden. Unter den hegemonialen Bedingungen von Kapital und Markt reduziert sich dann Gesellschaft auf das Konstrukt einer Marktgesellschaft. Gesundheit oder Krankheit kann aber als Ganzes nicht den Charakter einer marktfähigen Handelsware annehmen. Das hängt unter anderem mit folgenden Besonderheiten zusammen: Bei Gesundheit handelt es sich um ein lebensnotwendiges Gut. Es ist ein kollektives und öffentliches Gut, ähnlich wie Atemluft, Trinkwasser, Bildung oder Rechtssicherheit. Auf Krankheit kann nicht wie auf Konsumgüter verzichtet werden. Der Patient weiß nicht wann, und warum er krank wird, an welcher Krankheit er leiden wird. Er hat in der Regel nicht die Möglichkeit, Art, Zeitpunkt und Umfang der in Anspruch zu nehmenden Leistungen selbst zu bestimmen. Krankheit ist ein von den Individuen kaum steuerbares Ereignis sondern ein allgemeines Lebensrisiko. Der Patient wird mit dem Monopol des ärztlichen Wissens konfrontiert. Es besteht Anbieterdominanz. Die Nachfrage des Patienten als Konsument erfolgt zunächst unspezifisch und wird erst durch die Kompetenz eines medizinischen Experten definiert. Es besteht ein erhebliches Informations- und Kompetenzgefälle zugunsten des Arztes. Der Patient befindet sich durch sein Kranksein in einer Position der Unsicherheit, Schwäche, Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit, häufig in Verbindung mit Angst und Scham. Es spricht also viel dafür, dass die Versorgung von Krankheit sich nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage unterwerfen lässt. Der Markt ist nämlich eine blinde Macht. Er ist richtungslos und Ziele müssen ihm vorgegeben werden. Das demokratische Gemeinwesen hat deshalb wichtige gesundheitspolitische Aufgaben wahrzunehmen.

Unterschiedliche ärztliche Entscheidungen

Dieses personenbezogene, unsichere und komplexe Feld ist anfällig für Außeneinwirkungen. Geld, Konkurrenz, juristische Absicherung, Karriereabsichten, wirtschaftliche Existenz- und Arbeitsplatzängste haben deshalb ein Leichtes, darauf Einfluss zu nehmen und den Entscheidungsprozeß für eine bestimmte Maßnahme bewusst oder unbewusst zu steuern. In der praktischen Medizin wird zunehmend um Marktanteile gekämpft. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass sich unterschiedliche ärztliche Entscheidungen bei gleicher oder ähnlicher Morbiditätslage nicht mit »medizinischem Sachverstand« erklären lassen. Von vielen Ärzten wird der Widerspruch zwischen ökonomischen Zwängen und einzelfallabhängiger Patientenversorgung noch als grundlegend unvereinbar miteinander wahrgenommen. Utilitaristischen Denkmodellen entlehnte Kosten-Nutzen- Kalküle stoßen noch immer auf eine geringe Akzeptanz. Gleichwohl ist festzustellen, dass außermedizinische Selektionskriterien in die Entscheidungen von Ärzten eingehen. Wie eine Studie es sagt: »Zu beobachten ist eine schleichende Anwendung von Altersgrenzen, weitere Kriterien sind Versichertenstatus, Beruf, Bildung und sozialer Status.« Das würde nie jemand offen sagen. Keines dieser Kriterien ist durch moralische, rechtliche oder medizinische Legitimationsmuster gestützt. Noch ist in Deutschland das vorgeschriebene Verteilungskriterium die »medizinische Notwendigkeit«, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen hat.

Vertrauens- oder Vertragsverhältnis

Die medizinischen Institutionen werden auf dem Hintergrund dieser weichen wissenschaftlichen Erkenntnisse seit einiger Zeit mit den harten Gesetzen neoliberaler Wirtschaftskonzepte konfrontiert. Und die Ausweitung der Gesetzmäßigkeiten von Markt, Wettbewerb und Rentabilität auf das Arzt-Patient-Verhältnis wird dieses tiefgreifend verändern. Das auch heute schon brüchige Vertrauensverhältnis wird sich immer mehr in ein merkantiles Vertragsverhältnis verwandeln. Der Abschluss eines Vertrages ist aber nicht gerade Ausdruck von besonderem Vertrauen, sondern beruht eher auf Misstrauen. Er soll eine riskante Beziehung zwischen mehr oder weniger Fremden kontrollierbar absichern, während Vertrauen eine persönliche enge Beziehung und gegenseitige Kenntnis voraussetzt. Vertrauen ermöglicht die Mitteilung intimer Informationen, die auch der Schweigepflicht unterliegen. Vertrauen unterstellt verantwortliches Handeln. Vertrauen ist nicht käuflich!

Verträge dagegen sind Ausdruck der jeweiligen Rechtsordnung. Sie stellen übereinstimmende Willenserklärungen mit vereinbarten gegenseitigen Verpflichtungen dar. Insbesondere die Entwicklung des Marktes und des privaten Eigentums haben den Charakter des Vertragswesens geprägt. Mit der wachsenden Kommerzialisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses wird vom Arzt immer nachhaltiger eine spezielle, messbare Leistung zu einem festgesetzten Preis verlangt. Diese Leistung bekommt zunehmend Merkmale einer Ware oder Dienstleistung, die unter Bedingungen der Konkurrenz hergestellt und verteilt wird. Entsprechend verwandelt sich der Patient mehr und mehr in einen Kunden, an dem verdient werden soll. Und der »beste Kunde« ist in der Regel der, an dem am meisten verdient wird. Patienten werden unter solchen Bedingungen dann vielleicht wie »königliche Kunden« bedient, aber nicht mehr wie kranke Menschen behandelt. Je mehr der Wettbewerb zunimmt, desto mehr wird die kaufkräftige Nachfrage des Patienten angesprochen. Die »geheimen Verführer« des Marktes, seine werbenden Potentiale, werden sich genau auf die Patientengruppe konzentrieren, um deren sich lohnende Zufriedenheit konkurriert wird. Während noch heute weitgehend das medizinisch Notwendige und der Schweregrad einer Krankheit als handlungsleitendes Entscheidungsziel gelten, werden es unter den Bedingungen der Konkurrenz immer stärker ökonomische Kriterien. Sie werden gleichsam zum Maßstab von Auslese (Triage). Mit der wachsenden Kommerzialisierung der Krankenversorgung kommen selbst gut informierte Patienten in eine schwierige und unübersichtliche Situation. Was bedeuten nämlich ärztliche Auskünfte während einer Behandlung wie: »das ist medizinisch nicht notwendig«; »das Risiko des Eingriffs ist bei Ihnen zu hoch«; »diese Maßnahme ist in Ihrem Fall unwirksam«? Heißt das, sie ist medizinisch nicht gerechtfertigt – oder heißt es lediglich, sie ist zu teuer? Woher weiß der Patient, warum ihm der Arzt diesen Rat gegeben hat? Ist es tatsächlich die Therapie der Wahl, die für seine Krankheit medizinisch erforderlich ist? Werden ihm Behandlungsalternativen verschwiegen? Hängen von solchen Empfehlungen vielleicht das Einkommen, die Karriere, der Arbeitsplatz des Arztes oder gar die wirtschaftliche Bonität eines Krankenhauses ab, die den Aktienkurs und die Dividende bestimmen? Oder ist dem Arzt gerade mitgeteilt worden, daß sein Budget bereits überschritten ist? Damit zeichnet sich die Grenze betriebswirtschaftlicher Rationalität in der Krankenversorgung ab, die dann vielleicht noch rentabel ist, aber nicht mehr dem Gesellschaftsvertrag unserer Zivilisation entspricht. Der Druck der wirtschaftlichen Konkurrenz setzt das pur ökonomische der Gefahr aus, seine immanenten destruktiven Potenziale zu ignorieren. Und das führt zu einer Kulturwende in der Medizin. Dieser hier entfaltete Diskurs fortschreitender Entfremdung in der Beziehung zwischen Arzt und Patient und in der Forschung unter den Bedingungen ihrer Kommerzialisierung lässt sich nach Jürgen Habermas auch für die Gesellschaft feststellen: »Entfremdungseffekte entstehen vornehmlich dann, wenn Lebensbereiche, die funktional auf Wertorientierungen, bindende Normen und Verständigungsprozesse angelegt sind, monetarisiert und bürokratisiert werden.« Und weiter heißt es: »Eine wachsende gesellschaftliche Komplexität bewirkt noch nicht per se Entfremdungseffekte. Sie kann ebenso die Optionsspielräume und Lernkapazitäten erweitern. Soziale Pathologien ergeben sich erst in der Folge einer Invasion von Tauschbeziehungen und bürokratischen Regelungen in die kommunikativen Kernbereiche der privaten und öffentlichen Sphären der Lebenswelt. Diese Pathologien sind nicht auf Persönlichkeitsstrukturen beschränkt, sie erstrecken sich ebenso auf die Kontinuierung von Sinn und auf die Dynamik der gesellschaftlichen Integration. « Zurzeit befinden wir uns also in einer schwierigen Situation. Inzwischen wird in fast allen Bereichen unseres Gesundheitssystems fieberhaft nach Möglichkeiten des Einsatzes von sich selbstregulierenden Marktmechanismen, wirtschaftlicher Konkurrenz und betriebswirtschaftlichen Konstrukten gesucht. Damit droht das medizinisch Notwendige der ökonomischen Rentabilität als Hauptkriterium ärztlichen Handelns zu weichen. Für mich ergibt sich aus dieser Problemlage, dass es in einer Gesellschaft am Gemeinwohl orientierte Schutzzonen geben muss, die nicht der blinden Macht des Marktes und den deregulierenden Kräften der Konkurrenz überlassen werden dürfen. Bei solchen gesellschaftlich definierten Schutzzonen denke ich an soziale Gesellschaftsziele wie Solidarität und soziale Gerechtigkeit oder an Kommunikationsstrukturen. Sie bilden gleichsam den Kernbestand des europäischen Sozialmodells. Das Recht auf Gesundheit zählt zu den Menschenrechten. Menschenrechte lassen sich aber nicht kommerzialisieren, sie lassen sich auch nicht vermarkten, ohne dass sie daran zerbrechen.

Aus: H.-U. Deppe, W. Burkhardt (Hrsg.) Solidarische Gesundheitspolitik, Hamburg 2002


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