Macht und Interessen - Beispiel Irak

01.06.2003   Lesezeit: 7 min

Müller:»Es gibt einen Brief von Nietzsche. Er schreibt dort, er habe Nachrichten über den Brand im Haus von Theodor Mommsen erhalten. Er schreibt sehr prononciert, daß er Mommsen eigentlich nicht ausstehen kann und auch nicht was und wie er schreibt. In dem Brief wird erzählt, wie Mommsen in sein brennendes Haus läuft und wieder rauskommt, um Manuskripte und Bücher zu retten. Die Haare brennen, und er hat überall Wunden. Nietzsche sagt, daß er fast weinen muß, wenn er sich das vorstellt. Und dann kommt die tolle Frage, eher ein Fragesatz: Ist das Mitleid? Diese Angst vor Mitleid.«

Kluge:Es ist nicht Mitleid, sondern es ist Gewinnsucht, er hätte gerne den vierten Band der römischen Geschichte.

Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Kluge


Niemand, der menschlich empfindet und bei Trost ist, kann den Sturz der irakischen Diktatur bedauert haben. Fraglos bedeutet der Fall Saddam Husseins für die Bevölkerung im Irak eine große Chance. Gerade die Art, wie das Baath-Regime schließlich in sich zusammengebrochen ist, mach­te deutlich, um welch verkommenes System es sich dabei gehandelt hat. Die Bewohner von Basra, Bagdad, Tigrit und all den anderen Städten, in denen gekämpft wurde, hatten genug von der Sippe um Saddam Hussein, die das Land gnadenlos ausgebeutet hatte. Der Angriff der USA auf den korrupten irakischen Machtapparat blieb ohne nennenswerten Widerstand in der Zivilbevölkerung. Kaum jemand zeigte sich, der das Regime hätte verteidigen wollen. Noch ist unklar, wie viele Tote der Krieg gefordert hat. Fest steht, daß viele tausend Männer, Frauen und Kinder ihr Leben lang unter extremen Wunden leiden werden – von Splittern getroffen, gelähmt, erblindet, verstümmelt, psychisch traumatisiert. Jedes einzelne dieser Schicksale verurteilt diesen Krieg, der auch nicht richtiger wurde, als die blutige Schlacht um Bagdad, die in so mancher Talkshow beschworen wurde, glücklicherweise ausgeblieben ist.

Ausgeblieben aber sind auch die Fähnchen schwingenden Irakerinnen und Iraker. Weder mit Begeisterung noch mit offener Feindseligkeit wurden die einrückenden US-amerikanischen und britischen Einheiten empfangen. Die Bilder, auf denen fremde Soldaten als Befreier zu sehen waren, mußten regelrecht inszeniert werden. Jahrzehntelange Gewalt und Korruption haben die irakische Gesellschaft derart zerrüttet, daß Indifferenz und chaotische Verhältnisse die Folge waren, als die Macht in sich zusammenfiel. Auf eine solche Entwicklung waren die USA nicht vorbereitet. Nicht einmal Reste des alten Staatsapparates waren noch vorhanden, die sie für den Aufbau einer leidlich funktionierende Zivilverwaltung hätten nutzen können. Die USA sind Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden, mit der sie das Regime Saddam Husseins zu einem gefährlichen und waffenstarrenden Gegner stilisiert hatten. Nun wächst mit jedem Tag, den die politische Instabilität anhält, die Gefahr, daß die großen ethnischen, sozialen und religiösen Gegensätze des Landes, die das Saddam-Regime mit Folter, Mord und einem ausgefeiltem Klientelismus unter Kontrolle hielt, offen ausbrechen. Noch fehlen tragfähige Konzepte, mit denen die territoriale Integrität des Irak gewahrt werden kann. Zehntausende von Irakern, viele von ihnen Angehörige der schiitischen Mehrheit, sind in Bewegung. Unzählige Versammlungen und Wallfahrten finden statt, auf denen die Forderung nach einem sofortigen Rückzug der US-Streitkräfte täglich lauter wird. Die zunehmende Islamisierung wird es den USA immer schwerer machen, rasch ein Vasallenregime zu etablieren. Sie werden viel länger als militärische Besatzer im Land bleiben, als sie es bei Kriegsausbruch geplant haben.

»Operation Iraqi Freedom« nannten die USA ihren Feldzug gegen Saddam Hussein – und umgaben sich mit der Aura »progressiver Internationalisten« (Blair), die jede Kritik als Verrat an den Menschenrechten und der Zukunft der Kinder hinwegfegten. Im Gerangel um die Nachkriegsordnung wird jedoch deutlich, daß es der anglo-amerikanische Allianz um Freiheit und Demokratie in einem emphatischen Sinne nicht ging. Wie anderes sollen die Äußerungen des stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz verstanden werden, der die türkischen Militärs öffentlich rügte, weil sie nicht gegen das Parlament geputscht haben, als es den US-Aufmarsch über türkisches Staatsgebiet verweigert hatte. Nicht die Interessen der irakischen Bevölkerung hatten die USA im Auge, als sie den völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun brachen, sondern das eigene geostrategische Interesse an einer neuen verlässlichen Basis im Mittleren Osten, die für die Absicherung der eigenen globalen Vorherrschaft unverzichtbar ist. Aber auch in Paris, Moskau und Berlin dachte man nur in zweiter Linie an die Interessen der Irakerinnen und Iraker. So richtig die Ablehnung des Krieges war, so sehr war auch sie vom Erwägen des eigenen Vorteils geprägt. Statt im Irak beim Aufbau einer demokratischen Opposition zu helfen, die das längst diskreditierte und marode Baath-Regime hätte aus eigener Kraft stürzen können, pflegten sie mit Saddam Hussein bis zuletzt diskrete Wirtschaftsbeziehungen. Die Meinungsverschiedenheiten, die den UN-Sicherheitsrat im Vorfeld des Krieges beschäftigen, bezogen sich auf Fragen der Strategie, nicht aber auf das Ziel. Beiderseits des Atlantiks geht es um die globale Durchsetzung kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsformen.

Im Irak wurde nicht alleine gegen den Irak Krieg geführt, sondern zugleich aller Welt verdeutlicht, was es mit der neuen Doktrin des Präventivkrieges auf sich hat. Künftig geht es nicht mehr nur um einen Erstschlag, mit dem einem zum Angriff bereiten Gegner zuvorgekommen werden soll, sondern darum, daß bereits die Möglichkeit der Entwicklung seines solchen Angriff undenkbar wird. Solche Prävention ist zweischneidig. Sie setzt nicht auf die Beseitigung der Ursachen von Gewalt und Terrorismus, sondern auf das frühzeitige Erkennen von Systemwidersprüchen, bevor diese zu einer Gefahr für die bestehende Weltordnung werden können. Nicht Vorsorge im Sinne der Befreiung von krankmachenden Lebens- und Arbeitsverhältnisse ist das Ziel, sondern gerade die Stabilisierung solcher Verhältnisse. Nicht der Skandal, daß mehr als 2 Milliarden Menschen einen Überlebenskampf mit nur einem oder zwei Dollar am Tag zu führen haben, ist den Präventivstrategen das Problem, sondern daß sich diese Menschen einmal gegen die Privilegien der anderen wenden könnten.

Der gegenwärtige Zustand der Welt ist der eines globalen Schreckens. Zwar ist die Weltwirtschaft seit 1950 um das siebenfache angestiegen, doch profitieren davon immer weniger Menschen. Jedes Jahr sterben 14,4 Millionen Menschen an eigentlich heilbaren Krankheiten; 1,7 Millionen Menschen an verdrecktem Trinkwasser. Für Länder wie Afghanistan, Irak, Pakistan, Haiti und eine ganze Reihe von Staaten im subsaharischen Afrika hat die Globalisierung derart katastrophale Konsequenzen heraufbeschworen, daß sämtliche in der Welt vorhandenen Budgets für humanitäre Hilfe nicht mehr ausreichen werden, um auch nur die ärgste Not abfedern zu können. Verstärkt wird deshalb heute über eine Krisenmanagement nachgedacht, daß sich neben militärischer auch humanitärer Mittel bedient. Chemische Beruhigungswaffen beispielsweise könnten schon bald zum Einsatz kommen, wenn die Arbeit von humanitären Hilfscorps durch aufgebrachte »Hungerleider« gefährdet wird, wie das kürzlich in Basra der Fall gewesen ist. Umgekehrt sehen Militärs in der Arbeit von Hilfsorganisationen einen »Machtmultiplikator und wichtiger Teil der eigenen Truppen« (Colin Powell), nicht zuletzt weil er die Akzeptanz von Besatzungsregimes fördert. Der Versuch, die in der Welt aufbrechenden Gewalt nur mit Mitteln einer repressiven Armenfürsorge begegnen zu wollen, führt auf gefährliche Weise in die Irre. Ein Krisenmanagements, das einzelnen Übel vorzubeugen versucht und dabei bereits die nächsten befördert, wird sich auf Dauer selbst zur Bedrohung. Es ist höchste Zeit, daß Sicherheit nicht mehr nur im Kontext von Vorherrschaft und militärischer Übermacht definiert wird, sondern über die Wiederentdeckung des Humanen im Bemühen um Demokratie und Ausgleich.

Frieden und Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten erfordern anderes als militärische Besatzung und fortgesetzte Demütigung. Vor allem fünf zentrale Probleme müßten beherzt und mit der notwendigen Geduld angegangen werden: der Palästina-Israel-Konflikt, die Frage der kurdischen Selbstbestimmung, die Abrüstung sämtlicher Massenvernichtungswaffen (darunter auch der israelischen Nuklearpotentiale), die einvernehmliche, grenzüberschreitende Nutzung des in der Region so raren Wassers und schließlich die Frage, wie die Einkünfte aus den Öl-Exporten den Gesellschaften im Nahen und Mittleren Osten zu gute kommen können. Solche komplexen politischen Fragen verlangen nach einem verbindlichen Engagement der Vereinten Nationen. Sie erfordern aber vor allem auch die Mitwirkung von unabhängigen Öffentlichkeiten, ohne die es weder Lösung noch Veränderung geben wird. Demokratie gründet sich nicht auf Bomben und militärischer Besatzung, sondern lebt von der Partizipation der Menschen und der Stärke des Rechts. Dafür stehen die Partner von medico, die in Ramallah, Tel Aviv, Sulaimania, Diyarbakir, Beirut, Damaskus unter oftmals extremen Bedingungen für die dieselben Ideen streiten, die auch die Millionen von Menschen bewegt haben, die in den letzten Monaten in Rom, London, Berlin, Madrid, New York, Mexiko auf die Straße gegangen sind. Nicht Feindbilder und Überlegenheit schaffen Frieden, sondern soziale Entwicklung und Zusammenleben.

Thomas Gebauer


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