»Nenn mich nicht wieder Opfer!«
Von Stephan Hebel
Am 18. Januar 2000 feierten Freddy und die anderen ein großes Fest. Soweit sie noch leben. Freddy hat überschlägig 25 Angehörige an Mitch verloren. An die wahnwitzige Lawine aus Schlamm und Geröll, die Mitch, der Hurrikan, am 30. Oktober 1998 aus dem Vulkan La Casita brach und ins Tal schickte, die Dörfer an seinen Hängen, die im Wege waren, in Minuten unter sich begrabend. Ein Fest? Warum haben Freddy und seine Freunde 444 Tage nach der Katastrophe ihres Lebens ein Fest gefeiert?
Die Hacienda »El Tanque« liegt im Westen Nicaraguas, in jenem fruchtbaren Tal, das dem Casita und seinen Nachbar-Vulkanen zu Füßen liegt. Von hier aus kann man die Berge rauchen sehen, und am Casita klebt die beige-braune Spur des Erdrutsches von 1998 wie Reste von übergelaufenem Kaffee an einer riesigen Kanne. Als Mitch kam, lebte Freddy Ricardo Avendaño Alvarez mit seiner Frau oben am Berg, im Dorf Tololar Uno. Freddy ist Kleinbauer, aber seine Erscheinung dementiert auf den ersten Blick europäische Klischees vom geduckten, verhärmten Campesino. Die Jeans sitzt so gut wie die Frisur. Er weiß einiges von Buchführung und Rechnungswesen, und er hat mit seinen Kenntnissen ein bißchen Geld verdient in jenem früheren Leben, als er und seine Frau schon einmal ein Häuschen aus Stein besaßen und einen Acker mit Bananen und Mais. Dann kam Mitch. »In einer Sekunde war alles verloren. Ich bin mit einer Hose da rausgekommen.« Und knapp mit dem Leben. Genau wie, noch so ein Glücksfall, seine Frau.
Oben am Berg lag auch das Dorf Rolando Rodriguez. Bis Mitch kam. Als Mitch ging, lag Rolando Rodriguez drei, fünf, bis zu sechs Meter unter dem Schlamm. Wer sich heute hier umsieht, geht über Leichen. Rechts und links der provisorischen Straße sind auf dem getrockneten Vulkanboden Büsche und kleine Bäume gewachsen wie ein gnädig-grüner Mantel. Mitch hat, so sagt es die kalte Statistik, in Nicaragua 2863 Menschen getötet, davon mehr als 2500 in den Dörfern am Casita.
Josefina Ulloa ist mitgekommen aus der nahen Großstadt León. Sie ist eine gute Führerin, denn sie war damals, gleich nach Mitch, dabei, als sie mit bloßer Körperkraft die Leichen zu bergen versuchten, von denen Hände oder Füße aus der Schlammschicht ragten. Die Rettungstrupps aus Managua kamen spät, für viele, die hätten überleben können, zu spät, sagen die Leute am Casita. Als die Bürgermeisterin der Gemeinde Posoltega, zu der die Bergdörfer gehören, damals um Hilfe rief und – untertreibend – von tausend Toten sprach, ließ Präsident Arnoldo Alemán verlauten, die Frau sei »verrückt«. Das ist klar. Alemán gehört einer Partei an, die sich liberal nennt, die Bürgermeisterin ist Sandinistin. Auf der anderen Straßenseite stand, bevor Mitch kam, das Dorf El Porvenir. El Porvenir heißt: die Zukunft. Begraben unter dem beige-braunen Geröll. Josefina ist in Posoltega geboren, dort hat sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht. Heute arbeitet sie als Pädagogin und Psychologin in León für die »Bewegung der Arbeiterinnen und arbeitslosen Frauen«. Nebenbei hat sie gerade ihre Examensarbeit geschrieben. Thema: Die psychopädagogische Begleitung von Überlebenden nach Mitch. Josefina hat eine Ahnung, warum Freddy und seine Freunde 444 Tage nach der Katastrophe ein Fest gefeiert haben:
Freddy ist nach dem Sturm mit seiner Frau in die Notunterkunft gegangen. Da saßen sie, in einer Schule, und warteten. »Das war keine gute Therapie«, sagt Freddy. Daß der Präsident den überlebenden Kleinbauern empfahl, sich anderswo im Lande als Kaffeearbeiter zu verdingen, »das war auch keine gute Therapie«. Dann therapierten sie sich selbst.
Die Bauern am Casita haben ihr Land nicht zum ersten Mal verloren. Bis Anfang der 50er Jahre lebten sie unten in der fruchtbaren Ebene. Der Hurrikan, der sie damals vertrieb, war kein Naturereignis. Großgrundbesitzer stürmten das Land und brachten die Baumwolle. Um sie großflächig anzubauen, ließen die neuen Herren von ihren Dienern in der Regierung die Felder enteignen und die Bewohner mit Gewalt vertreiben. Dann fällten sie die Bäume und begannen aus dem Boden zu saugen, was an »weißem Gold« herauszuholen war. Die Campesinos nahmen sich, was blieb: die Abhänge des San Cristóbal-Massivs, soweit sie nicht besetzt waren von den Haciendas großer Kaffee-Produzenten. Daß es sich hier gefährlich lebte, war längst vor Mitch bekannt. Der Baumbestand – es hatte wertvolle Hölzer gegeben – war weitgehend abgeholzt. Was noch stand, fiel den Brandrodungen landsuchender Bauern zum Opfer. Der Boden war, als Mitch kam, erodiert, der Wasserabfluß ins Erdreich gestört und die ohnehin vorhandene Gefahr größerer Erdrutsche entsprechend gesteigert. Dennoch: An den Hängen entstanden Dörfer wie El Porvenir, das sich die Bauern gegen den Widerstand der Eigentümer in den 70er Jahren erst erkämpfen mußten. Oder wie Santa Narcisa, das anders als El Porvenir am 30. Oktober 1998 nicht in der sturmgetriebenen Lawine versank.
Santa Narcisa liegt noch ein Stück oberhalb von Rolando Rodriguez und El Porvenir. Der Geländewagen hat Mühe, sich die erdige Piste hochzuarbeiten. Dann taucht links das Haus von Juan Guzman auf. Noch ein kleines Stück weiter hat Mitch eine gewaltige Schneise geschlagen. Ja, sagt Juan, großes Glück habe er gehabt, daß es ihn und seine Familie und seinen Acker nicht traf. Juan war kürzlich oben, nahe am Gipfel, und da hat er gesehen, daß das Erdreich sehr porös geworden ist seit Mitch. Er kennt den Berg. Er ahnt, daß der nächste Sturm ähnliche Wirkungen haben kann. Warum geht er nicht hinunter, wie die Hälfte der einst 50 Familien von Santa Narcisa es nach Mitch getan hat? Wo doch die Lawine die Wasserversorgung zerstört hat und das Dorf mitten in der Trockenzeit warten muß, bis einer, der ein Pferd hat, eine Ladung Flüssiges bringt? Wo doch die Tochter sagt, sie hätte gern mal wieder Wasser, um sich zu waschen? Juan sagt: »Gegangen sind die, deren Felder zerstört sind. Man verläßt seinen Acker nicht, wenn man ihn noch hat und wenn man nicht weiß, ob man wieder einen bekommt.« Juan wirkt deprimiert, unsicher. Und ein bißchen scheint er sich zu ärgern, daß er nicht unten ist bei Freddy und den anderen in El Tanque. Er weiß einerseits, daß Tausende bis heute ohne Haus und Land im Tal sitzen und auf Hilfe warten. Aber er weiß andererseits, warum die 167 Familien von El Tanque ein Fest gefeiert haben 444 Tage nach der Katastrophe.
Gut einen Monat nach Mitch, im Dezember 1998, haben 150 Familienoberhäupter angefangen, die Depression zu besiegen. Sie hatten gehört, daß sie am 1. Januar die Notunterkünfte räumen müßten, weil die Schule wieder beginnen sollte. Da gingen sie hinaus und machten eine Versammlung. Mißtrauen gegen die internationale Helfer-Industrie mit ihren Lebensmittelpaketen und ihren Versprechungen, kollektive Erinnerung an Vertreibung und Landnahme, das in sandinistischer Zeit geförderte Bewußtsein vom historischen Anspruch auf fruchtbare Erde für alle – die Ingredienzen müssen sich dort zu einer produktiven Substanz gemischt haben. Am Ende des Treffens stand der Beschluß: Wir besetzen die Hacienda El Tanque. Wir holen uns selbst, was wir brauchen für ein Leben nach der Katastrophe.
Das neue Leben begann am 27. Dezember 1998. Noch waren seine Konturen verschwommen wie das nahe Bergmassiv im Morgengrauen des sommerlichen Tages, als die Besetzer in drei Gruppen auf die Hacienda schlichen und mit dem Bau ihrer Holzverschläge begannen. Noch wußten sie nicht, daß sie gut ein Jahr später ein großes Fest würden feiern können. Noch wußten sie nicht einmal, daß sie sich an einen Ort gesetzt hatten, der »die ganze Dramatik nicaraguanischer Landkonflikte repräsentiert«. So sagt es Mario de Franco in Managua, heute Berater im Büro des Präsidenten Arnoldo Alemán. Damals war er Landwirtschaftsminister. Ein Mitglied von Alemáns Liberaler Partei. Einer Partei, die gerne große Worte macht und kleine Taten, auch wenn an jeder neuen Straßenlaterne ein riesiges Schild steht: »Taten statt Worte. Arnoldo Alemán«. Einer Partei der Miami-Nicaraguaner, mit einem Präsidenten, der als korrupt gilt und als Freund weniger der Campesinos als der Gringos, die das nachsandinistische Nicaragua so gerne aufkaufen möchten. Mario de Franco ist also von Haus aus keiner, der Besetzer liebt. Und doch hat er am Ende mehr oder weniger freiwillig mit dafür gesorgt, daß Freddy und seine Freunde ein Fest feiern konnten.
Die saßen, mit ihren Depressionen, aber ohne Saatgut und fast ohne Baumaterial, im schönen Tal am Fuße des Casita. Zum Feiern gab es noch lange keinen Grund. Die Hacienda El Tanque hat lange zum Besitz der Familie Argüello gehört. Deren Oberhaupt hat in Miami die US-Staatsbürgerschaft angenommen. Und die Supermacht, Welthüterin des freien Eigentums, ist an der Seite ihrer Bürger, wenn sie das Land zurückhaben wollen, das sie einst den Bauern raubten und das die sandinistische Regierung später enteignete. Kein Gegner, der zu verachten wäre. Aber es gab noch einen anderen, kaum weniger bedrohlichen: die illegitimen Erben der sandinistischen Landreform. Sie sind Teil des Kompromisses, den die Sandinisten nach ihrer Wahlniederlage 1990 mit der bürgerlichen Nachfolge-Regierung der Präsidentin Violeta Chamorro schlossen. Eine Landarbeiter-Kooperative hatten sie auf einem Teil der Hacienda gegründet. Doch als Mitch kam und dann Freddy und seine Leute, waren die Felder zum großen Teil weiterverpachtet an Private, die Erdnüsse anbauten zur Verarbeitung in der nahen Fabrik. Die »Landarbeiter« saßen in León oder sonstwo und lebten von der Pacht. Auch sie meinten, El Tanque weiter beanspruchen zu können.
Die Besetzer, von vermeintlich übermächtigen Gegnern umgeben, suchten Hilfe beim nationalen Bauernverband. Der besorgte ein paar Zinkdächer und den Kontakt zu medico international. Dann kam »Ualterr«. Alle in El Tanque kennen ihn gut, und alle nennen ihn nur »Ualterr«: Walter Schütz, Repräsentant von »medico« in Managua. Ein Baum von einem Mann, knorrig und drall: den Leuten von El Tanque ein Fleisch gewordenes Symbol für den Sieg über Bürokratie und Populismus und über Großgrundbesitzer, die davon träumen, die Campesinos wieder zu Lohnsklaven zu machen. Symbol für einen Sieg, den sie in Wahrheit wenn nicht allein, so doch aus eigener Kraft errangen. medico international versprach zu helfen. Zuerst kam Josefina, und dann kam der Masterplan. Josefina Ulloa überzeugte vor allem die Frauen von El Tanque, die ihren Männern inzwischen gefolgt waren, daß es Hilfe geben könne: Hilfe gegen die zweite, die psychische Lawine aus Trauma und Trauer, die sie zu begraben drohte. Josefina kämpfte zusammen mit zwei Kolleginnen gegen den Eigensinn trauernder Schicksalsergebenheit. Ein Jahr nach Mitch, am 30. Oktober 1999, ging Josefina mit ihren Klienten hoch zum Berg, dorthin, wo sie ihre Verwandten hatten sterben sehen. »Es war eine große Ruhe, ein stilles Weinen.« In diesem Moment, meint Josefina, hätten viele den erlittenen Verlust und den Schmerz, der sie immer weiter begleiten wird, »anerkannt« – und dahinter Raum für ein Leben gefunden, das nicht mehr von Mitch allein bestimmt sein würde. Eine sagte: »Nenn mich nicht wieder Opfer.«
Zur gleichen Zeit bastelten Walter und seine Kollegen mit den Leuten von El Tanque am Masterplan: Mit Spendengeld und finanzieller Hilfe der Bundesregierung sollte ein neues Dorf entstehen. 167 Häuser für 800 Menschen, Wasserbrunnen mit Solarpumpen, Latrinen, holzsparende Öfen, Saatgut. Kosten inklusive Agrartechnikern und Sozialpsychologinnen: gut zwei Millionen Mark, so stand es im Antrag ans deutsche Ministerium für Entwicklungshilfe. Ein Zweizimmer-Häuschen mit 36 Quadratmetern kostet hier 5000 Mark, das größere Haus (drei Zimmer, 56 Quadratmeter) für 7000. Keine übermäßige Investition für ein Leben nach der Katastrophe.
Als im Mai 1999 eine deutsche Parlamentarier-Delegation nach Nicaragua kam, um den Neuanfang zu besichtigen, war in El Tanque nichts gebaut. Obwohl der Plan lange fertig, das Geld längst bewilligt war. Walter lud die drei Abgeordneten auf die Hacienda ein. Er ließ sie, soweit das ging, teilhaben an der Angst der Menschen, wieder in resignierte Verzweiflung zu fallen, wenn sie Land und Haus nicht bekämen. Da machten die deutschen Politiker in Managua eine Pressekonferenz. Sie fragten, ob Wiederaufbau-Hilfe sinnvoll sei, wenn die Regierung ihren Einsatz mit Verweis auf die Eigentumsstreitigkeiten blockiere. Eine Woche später kam der Brief. Mario de Franco, noch Landwirtschaftsminister, schrieb am 2. Juni dem »sehr geehrten Herrn Botschafter« Deutschlands, trotz der »komplexen Rechtslage« sehe die Regierung »keinerlei Hindernis, daß das von der Organisation medico international durchzuführende Projekt sofort beginnt«. Für »die Regierung der Republik« sei es nämlich »von grundlegender Bedeutung, daß diese nicaraguanischen Brüder beginnen, ihr Wohnproblem zu lösen und sich produktiven Tätigkeiten widmen«.
Die Regierung der Großgrundbesitzer an der Seite des landlosen Kleinbauerntums: Es soll in El Tanque der eine oder die andere von einem Wunder gesprochen haben. Eher wird es ein Glücksfall von Entwicklungspolitik gewesen sein. – Miriam López gewährt gern einen Blick in ihr neues Haus. Es steht gleich neben dem Platz, wo sich die Leute im Schatten eines großen Baumes zum Tratsch zu treffen pflegen, wo sie das erste in der Zukunft geborene Kalb angebunden haben, nicht weit vom Grundstück für die Schule und die Gesundheitsstation und das Fußballfeld, die in der nächsten Phase des Projekts gebaut werden sollen. Miriam López deutet auf den dicken Ast, den sie in den Ofen geschoben hat, auf dem der Mais am Köcheln ist. »Gestern habe ich das Holz geholt, und fast nichts ist verbraucht«, sagt sie. »Das ist viel besser als bei offenem Feuer.« Acht seien sie in der Familie gewesen. Zwei gehen arbeiten, und »einen« – es klingt wie die Erzählung aus einer lange vergangenen Zeit – »habe ich bei Mitch verloren«. Die Frage, ob es hier besser sei als früher, oben am Berg, beantwortet die alte Frau wie alle, die man fragt: mit einem Blick, mehr nicht. Einem Blick, der zurückfragt, ob etwas verstanden habe, wer diese Frage überhaupt stellt. Auch Freddy zeigt sein Häuschen gerne vor. Nicht, daß alle Wünsche schon erfüllt seien, sagt er. Sie bräuchten mehr Land, die Wasserversorgung müßten sie verbessern, und: »Wir wollen jetzt Kinder kriegen.« Aber der Anfang, der sei gemacht, spätestens seit dem 18. Januar 2000. Da kam Präsident Alemán und eröffnete mit mächtigen Worten das Dorf der Mutigen. Und als er wieder gegangen war, wurde gekocht und gegrillt und gegessen und getrunken in El Tanque. Freddy und die Freunde und die Frauen feierten ein großes Fest.
Das Konzept der medico-Hilfe bedeutet auch für die Menschen von El Tanque & Umgebung: konkrete Schritte zur Überwindung der Depression, die gezielte Förderung autonomen Handelns gegen ein vermeintlich übermächtiges Schicksal. Darauf bauen unsere praktischen Maßnahmen auf: Die Vergabe von Saatgut, die Hilfe beim Wiederaufbau, die Masterpläne für eine andere Entwicklung. Und ganz zuletzt aufs Große Fest! Helfen Sie uns dabei unter dem Spendenstichwort: »Nicaragua«.
Der hier stark gekürzte Text aus der Frankfurter Rundschau kann bei medico kostenlos in vollem Umfang auch zum Verteilen bestellt werden.