Projekt soziale Gerechtigkeit: Gesundheit von unten

Appell zur Bildung lokaler Gesundheitsforen

01.09.2003   Lesezeit: 4 min

Die Welt ist näher zusammengerückt, doch sind immer mehr Menschen von wirtschaftlichem und sozialem Ausschluss bedroht. Ein Drittel der Weltbevölkerung lebt bereits in absoluter Armut und Rechtlosigkeit. Schon anlässlich des Falls der Berliner Mauer warnte der mexikanische Dichter Carlos Fuentes, daß mit der globalen Entfesselung des Kapitalismus die Idee der Freiheit zur neoliberalen »Befreiung« von sozialer Verantwortung verkümmern könne. Der Angriff, dem sich das Soziale seitdem ausgesetzt sieht, ist ungeheuerlich. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wurden elementare Arbeitnehmerrechte außer Kraft gesetzt und sogar die Zwangsarbeit wieder hoffähig. Nun droht die Aushöhlung des gesellschaftlichen Solidarprinzips, das fraglos die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens bildet.

Längst meint »Reform« nicht mehr sozialen Fortschritt, sondern Umverteilung von unten nach oben. Wer dagegen auf Verteilungsgerechtigkeit pocht, gilt als ewig gestriger »Klassenkämpfer«. Selbst die paritätische Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme steht heute unter offenem Sozialismus-Verdacht. Das Gespenst aber, das derzeit in der Welt umgeht, ist nicht der Sozialismus, sondern die Wiederkehr nationalistischer Politik.

Bedenklich ist, daß der Sozialabbau zwar auf breite öffentliche Ablehnung, aber bisher kaum auf nachhaltigen Protest und parlamentarischer Opposition trifft. Die Gefahr, die in solchen Konstellationen lauert, ist die einer rechtspopulistischen Entwicklung. Schon mehren sich die Stimmen, daß die Einschnitte ins soziale Netz gar nicht tief genug sein können. Mittelständler, von realer Deklassierung bedroht, wittern arbeitsunwillige »Schmarotzer« im eigenen – und raffendes Finanzkapital im Ausland. Statt die soziale Frage global zu stellen, setzen sie auf nationale Abschottung.

Die Gründe dafür aber liegen nicht alleine in der Cleverness der Neo-Liberalen. Gerade das Versagen der traditionellen Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit hat die öffentliche Meinung für die Diffamierung des Sozialstaates und damit auch der Gerechtigkeitsidee anfällig gemacht. Viel zu lange haben Parteien, Verbände und Gewerkschaften übersehen, daß mit der Erhöhung der Produktivität und der Globalisierung der Ökonomie das sozialpolitische Konzept einer Vollerwerbs-Biographie zum Mythos geworden ist. Notwendig wären Arbeitszeitverkürzungen und neue Formen einer sozial gerechten Existenzsicherung, nicht aber das Flickwerk aus weiterer Ausgrenzung der Arbeitslosen und Migranten bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebensarbeitszeit und Kommerzialisierung von öffentlichen Dienstleistungen.

Die Politisierung der Eigenverantwortung

Es ist höchste Zeit, die Versäumnisse der letzten Jahre anzugehen. Angesichts einer »Gesundheitsreform«, die einseitig Patienten schröpft und den »Leistungsanbietern« ungeschmälerte Gewinne sichert, dürfen wir das Nachdenken über mögliche Perspektiven einer gerechten sozialen Sicherung nicht mehr den Parteien und Experten-Kommissionen überlassen.

Es ist höchste Zeit, daß wir die Sache der Gesundheit zu unserer eigenen machen. Eigenverantwortung verträgt sich nicht mit der biopolitischen In-Wert-Setzung der Menschen.

Und Eigenverantwortung heißt auch nicht individuelle Zuzahlungen zu überteuerten Leistungsangeboten, sondern das entschlossene persönliche Eintreten für eine Gesellschaft, die ihrer sozialen Verantwortung gerecht wird. Es ist höchste Zeit, mit der (Re)-Konstruktion des Sozialen zu beginnen und von unten für Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Alle Menschen haben das Recht auf Zugang zu einer bestmöglichen Gesundheitsversorgung – ungeachtet der Höhe ihres Einkommens und ihrer Herkunft.

Es ist höchste Zeit, unmißverständlich deutlich zu machen, daß wir uns die Gerechtigkeitsfrage nicht länger verbieten lassen. Nur wer die eigene Lebenspraxis politisch wendet, nimmt auf die Politik Einfluss, die Alltag und Umwelt bestimmt. Das Ziel ist die Verknüpfung lokaler Erfahrungen mit der globalen Kritik an den mächtigen Institutionen der Welt, die für den Sozialabbau verantwortlich sind. Es ist höchste Zeit, von den sozialen Bewegungen im Süden zu lernen und einen neuen Solidaritätsbegriff zu entfalten, der nicht paternalistische Sorge und ein Handeln für andere meint, sondern in der Überzeugung gründet, daß eine bessere Welt nur über das gemeinsame und miteinander vernetzte Bemühen an vielen verschiedenen Orten zur gleichen Zeit möglich sein wird.

Höchste Zeit also, sich dem globalen »Peoples Health Movement« (PHM) anzuschließen und beispielsweise im Kontext von ATTAC oder bereits bestehender Sozialforen lokale »Gesundheitsforen« zu gründen.

Eigenverantwortung verlangt Selbstbestimmung

Nehmen wir die Eigenverantwortung ernst und konfrontieren wir die lokalen Vertreter staatlicher Gesundheitsbehörden und der Krankenkassen mit unseren Verstellungen von Gesundheit. Die erste Aufgabe eines lokalen Gesundheitsforums könnte darin bestehen, Krisenbeschreibung und Lösungsvorschläge, so wie sie von der »Gesundheitscharta der Menschen« des Peoples Health Movement aufgezeichnet wurden, auf den eigenen Alltag und die eigene Umwelt zu beziehen. Das kann ein »Gesundheitsatlas« leisten, der genau verzeichnet, was uns Tag für Tag krank macht: der Lärm eines nahegelegenen Großflughafens, der Stress am Arbeitsplatz und im Straßenverkehr, industriell manipulierte Lebensmittel, die permanente Aufforderung zu immer mehr Konsum, die Angst vor der Erwerbslosigkeit, der Zorn über den Raub sozialer Rechte. In der Erstellung eines solchen »Gesundheitsatlas« werden wir zu »Expertinnen« und »Experten« der eigenen Gesundheit – wohl wissend, dass Gesundheit zuerst von politischen Faktoren abhängt und erst dann von Medikamenten. Nur eine zugleich lokale wie globale Gesundheitsbewegung wird die »Weltgesundheitsorganisation« (WHO) dazu bringen, sich wieder für die Ziele einzusetzen, für die sie gegründet wurde.


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