real life economics

Eine Projektlinie von medico international im Übergang zum 3. Jahrtausend

01.11.1999   Lesezeit: 6 min

Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hat Kapitalismus und liberale Demokratie weltweit triumphieren lassen. Doch das global village des freien Welthandels enthüllt sich für die Mehrzahl seiner Bewohner als verwüstetes Land, in dem Millionen von jeder Entwicklungsperspektive ausgeschlossen sind. Weil sie in ihren Dörfern kein Auskommen mehr finden, fliehen die Menschen in die Städte. Sie fristen ihr Dasein in townships, favelas und gecekondus, als Tagelöhner bestenfalls, ohne jede Versicherung gegen die Risiken von Alter, Krankheit und Invalidität, einer Gewalt ausgesetzt, die alle Bereiche des Alltagslebens durchdringt. Jederzeit von Vertreibung bedroht, müssen sie stets bereit sein, ins Ungewisse weiterzuziehen: in die nächste, weiter nördlich gelegene Stadt. Doch auch in den reichen Metropolen Europas und Amerikas breitet sich eine Massenarbeitslosigkeit aus, die längst strukturell geworden ist. Auch hier werden früher errungene Rechte immer weiter abgebaut. Tatsächlich leben am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mehr Menschen in extremer Armut als jemals zuvor. Immer dringlicher stellt sich die Frage nach einer neuen Alternative zu den herrschenden Weltverhältnissen – eine Frage, auf die eine einfache Antwort nicht mehr zu finden ist.

Sieht man freilich genauer zu, was das Drittel der Menschheit treibt, das vom Globalisierungsprozeß immer weiter marginalisiert wird, so entdeckt man eine unglaubliche Betriebsamkeit und einen überwältigenden Erfindungsreichtum, der sich in einer kaum zu überblickenden Fülle von Aktivitäten ausdrückt. Ob in den wuchernden Megastädten Lateinamerikas und Asiens oder den verfallenden Metropolen Afrikas: Eine Woge von Kleinhandel und Kleinproduktion breitet sich in den armgehaltenen Gesellschaften aus und beginnt schon, auf die Innenstädte der USA oder Europas überzugreifen. Straßenhändlerinnen, Kleinstunternehmer, Produktpiraten, Wanderarbeiter, Zulieferer, Müllsammler und Wiederverwerter, landlose Bauern – sie alle kooperieren in den wuchernden Netzen jener Parallelwelt, die man als »informellen Sektor« bezeichnet. Aus der Sicht der regulären Ökonomie handelt es sich dabei um randständige Aktivitäten im untersten Sockel der kapitalistischen Pyramide, um eine »Schattenwirtschaft«, die bestenfalls einzelnen den Aufstieg in die höheren Etagen der Gesellschaft erlaubt. Wir nennen diesen am schnellsten wachsenden Sektor der Weltwirtschaft real life economics: Ökonomien des wirklichen oder – vielleicht – des wahren Lebens.

Die Arbeits- und Lebensverhältnisse des informellen Sektors sind nicht zu idealisieren, ihre Menschen bieten wenig Anlaß für romantische Projektionen. Nirgendwo kann deutlicher erfahren werden, was es heißt, wenn man ohne das Netz von positiven Rechten und formellen Garantien auskommen muß, das die sozialen Bewegungen der Moderne in vielen Gesellschaften erkämpft haben. Nirgendwo sonst ist die Gewalt gewöhnlicher und – alltäglicher: die Gewalt, die Menschen einander antun ebenso wie die anonyme Gewalt der herrschenden Verhältnisse. Die Spaltungen und Ausgrenzungen der weltweiten sozialen Apartheid finden hier ihren wohl schärfsten Ausdruck. Und trotzdem geht die Anarchie der real life economics in dem survivalism nicht auf, mit dem sie unter dem Zwang der Verhältnisse Ernst machen muß. real life economics sind auch ein Ausdruck lebendiger sozialer Phantasie und trotz allem ungebrochener Kreativität. In ihr organisiert sich die noch immer nicht zu kontrollierende Gegenwehr der Armen. Daß die herrschende Ökonomie sehr gut ohne diejenigen auskommt, die sie von jedem geregelten und geschützten Überleben ausschließt, kann auf lange Sicht bei den Betroffenen zu der Einsicht führen, daß sie ebensogut ohne die herrschende Ökonomie auskommen könnten. In den real life economics reift diese Einsicht praktisch heran: lange bevor sie – wer weiß? – auch zur bewußt nachvollzogenen Einsicht wird. In diesem Fall stellen real life economics die Keimformen einer neuen Produktionsweise dar, die sich lokal auf kleinste Unternehmen stützt und global dennoch ungezählte Menschen miteinander verbinden kann. Schon jetzt kommt ein Großteil des Geldes, das in vielen armen Ländern umläuft, aus den Metropolen der USA oder Europas. Es stammt von Migrantinnen, die im informellen Sektor tätig sind. Die über Netze der Freundschaft und der Verwandtschaft weitergeleiteten Ressourcen sichern das Überleben von Menschen, die oft Tausende von Kilometern entfernt leben. So verbinden real life economics indigene Gemeinden in El Salvador oder Guatemala mit den Vorstädten von Los Angeles oder Houston. Auf verborgenen Wegen, in Landkarten verzeichnet, die von offiziellen Amtsstellen nur schwer entziffert werden können. Wächst sich dieses Universum immer weiter aus, könnten real life economics irgendwann damit beginnen, die gegenwärtige Ordnung zu untergraben und schließlich zu überwinden: durch ihre schiere Zahl, ihre unentwirrbare Verzweigung und Vernetzung, durch das enorme Ausmaß ihrer ökonomischen Aktivitäten, zuletzt durch den Willen, den herrschenden Institutionen bewußt entgegenzutreten.

Dieser Wille wird sich freilich nicht von allein und nicht automatisch ausbilden. Damit er irgendwann das bewußte Handeln von Menschen anzuleiten vermag, muß er jetzt schon gestärkt werden, dort, wo er sich spontan zu äußern beginnt, in der Praxis selbst.

real life economics sind deshalb auch eine Projektlinie von medico international. Entlang dieser Linie fördern wir Projekte, in denen Menschen versuchen, ihr Überleben in die eigenen Hände zu nehmen. Das können ländliche Gemeinden im Chiapas sein, die sich vom mexikanischen Staat lossagen, um ihre Angelegenheiten autonom zu regeln, in freier Versammlung und gegenseitiger Hilfe. Oder erwerbslose Jugendliche in einem südafrikanischen township, die sich in einem freien Radio Arbeit und Einkommen schaffen und zugleich eine selbstbestimmte Form der (Gegen)Öffentlichkeit. Es können palästinensische Flüchtlinge in einem libanesischen Lager sein, die soziale Rechte, die sie von ihrem Gastland fordern, auch für die bengalischen Arbeitsmigrantinnen erstreiten wollen, mit denen sie Tür an Tür zusammenleben. Oder Bauern in Nicaragua, die das fruchtbare Land wieder besetzen, von dem man sie vertrieben hat. Oder guatemaltekische Hausangestellte, die sich in einer Gewerkschaft neuen Typs zusammenschließen, um sich gegen die Willkür ihrer Dienstherren zu verteidigen. Es können sogar Kinder sein, die mit real life economics den Lebensunterhalt ihrer Familie verdienen und deshalb nicht die Abschaffung von Kinderarbeit, sondern ihre rechtliche Absicherung einfordern – auf eigene Faust. Es können aber auch die Mitarbeiter einer Nicht-Regierungs-Organisation sein, die Basisaktivisten fortbilden, um ihnen die Kenntnisse an die Hand zu geben, die sie brauchen, um sich Gehör zu verschaffen. Denn schließlich kreuzen sich auch in real life economics unterschiedliche Interessen, um die jeweils eigene Auseinandersetzungen zu führen sind – um Fragen der Wasser- und der Stromversorgung, des öffentlichen Nahverkehrs, um den Wohnungsbau und den Schutz der Umwelt, um das Verhältnis der Geschlechter und Generationen, um Fragen der Ernährung, der Erholung, der Bildung, der Gesundheit, der Kindererziehung und der Versorgung alter Menschen, der gleichen Rechte für alle. All’ diese Wünsche und Bedürfnisse können nur repräsentiert und befriedigt werden, wenn Basisorganisationen, Netzwerke und soziale Bewegungen für sie eintreten und um sie streiten. Gelingt dies, dann wächst aus real life economics ein radikaler Reformismus, der im Kleinen und Alltäglichen beginnt, um zur Umwälzung der Weltverhältnisse beizutragen. Dann jedenfalls, wenn Kräfte und Umstände zueinanderfinden, deren Zusammenwirken niemals geplant oder verordnet, wohl aber erhofft werden kann.


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