Nahostkonflikt

Stunde der Wahrheit in Khan al-Ahmar

30.07.2018   Lesezeit: 5 min

Manchmal ist das letzte Wort am letzten Verhandlungstag nicht gesprochen. Von Hagai El-Ad

Das Beduinendorf Khan al-Ahmar wurde in seiner Geschichte bereits zweimal durch den israelischen Staat zwangsumgesiedelt. Sein heutiger Standort, eingekeilt zwischen der Siedlung Kfar Adumim und der Autobahn 1 von Jerusalem zum Toten Meer, ist Ergebnis dieser Politik. Von dort sollen die Menschen nun erneut zwangsumgesiedelt werden, in die Nähe einer Mülldeponie bei Abu Dis (Jerusalem). Den Weg dafür hat der Oberste Gerichtshof am 24. Mai nach jahrelangen Rechtsstreitigkeiten geebnet. Mit der Zerstörung des Dorfes wäre dann auch das Hindernis zur Expansion von Kfar Adumim beseitigt, das besetzte Ost-Jerusalem würde vollends vom Westjordanland abgeschnitten und dieses effektiv in eine Nord- und Süd-Hälfte zerteilt werden.

Der Beschluss der Richter des israelischen Obersten Gerichtshofs Sohlberg, Baron und Willner vom 24. Mai sollte sich für Khan al-Ahmar, eine palästinensische Gemeinschaft wenige Kilometer von Ostjerusalem, als ein solcher Fall erweisen. Auf ihren letzten Verhandlungstag sollte schon bald der Abriss der ganzen Gemeinde durch israelische Behörden folgen.

So einhellig und unmissverständlich die Entscheidung auch fiel – der Beschluss, der an diesem Tag getroffen wurde, war nicht mehr als ein Versuch, den Anschein einer formalen Rechtmäßigkeit für zutiefst unmoralisches und grundsätzlich rechtswidriges Handeln des Staates zu erwecken. Im Zustand einer an Zynismus nicht zu übertreffenden formalistischen Blindheit entschieden sich die Richter zweckmäßig dafür, solche „Details“ auszublenden wie z.B. die Tatsache, dass Israel systematisch Planungsregelungen festgelegt hat, nach denen die Erteilung von Baugenehmigungen für Palästinenser so gut wie ausgeschlossen ist. Die Richter sahen praktisch über den essentiellen Kontext hinweg und ebneten den Weg für eine „rechtsstaatlich“ begründete Zerstörung einer Schule, dutzender Häuser und der Lebensgrundlage von 170 PalästinenserInnen.

Solche Beschlüsse sollten auf lokaler und internationaler Ebene beanstandet werden - so wie es in diesem Fall geschehen ist.

Friedliche Gemeindeführung durch Eid Jahalin und andere; gewaltloser Widerstand von Aktivisten zu Beginn dieses Monats, als israelische Räumfahrzeuge anrückten, um den Abriss vorzubereiten: Die israelischen Sicherheitskräfte griffen hart durch, mit der Folge, dass 11 Aktivisten verhaftet und Dutzende verletzt wurden; sichtbare diplomatische Maßnahmen wie Stellungnahmen und physische Präsenz, beispielsweise der Besuch von Diplomaten aus Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden, Belgien, Norwegen, Finnland, Dänemark, Schweiz, Deutschland, Spanien und Irland am 5. Juli; ein internationaler offener Brief, der von mehr als 300 gewählten Amtsträgern, Rechtswissenschaftlerinnen, Gelehrten, Künstlerinnen, hochrangingen religiösen Vertretern sowie Aktivistinnen aus aller Welt unterzeichnet wurde; und die eindeutige Bewertung der Zerstörung der Gemeinde – sofern es dazu kommen sollte – als ein Kriegsverbrechen. In der Summe haben diese Reaktionen wohl geholfen, ein Klima zu schaffen, in dem das Oberste Gericht sich plötzlich gezwungen sah, eine neue Petition nicht auf Anhieb abzuweisen.

Nun bekommt Khan al-Ahmar am 1. August einen weiteren Verhandlungstag.

Der Beschluss vom 24. Mai hat den Abriss von Khan al-Ahmar keineswegs moralisch akzeptabler gemacht. Er lancierte lediglich ein drohendes Kriegsverbrechen und machte die Richter für dieses mitschuldig und persönlich haftbar. Wie werden die Richter vor diesem Hintergrund in der kommenden Anhörung entscheiden?

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass wir dieses Thema auf internationaler Ebene öffentlich präsent halten müssen. Der offizielle Protest der EU5 (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien) war entscheidend aber nicht genug, wie aus den von Israel vorgelegten Gerichtsunterlagen zur neuen Petition hervorgeht: Israel besteht unverändert auf seinen Absichten. Die Eingabe des Staates vom 10. Juli war unbeirrbar und „verdeutlicht dass die Vollstreckungsbehörden der Zivilverwaltung sowie die israelische Polizei und viele weitere Akteure auf der Seite der Beklagten entsprechend der vom Staat vorgelegten Übersicht die letzten Vorbereitungen für die Umsetzung der  finalen Abrissverfügung für die Gemeinde Khan al-Ahmar treffen. Um Missverständnissen vorzubeugen und alle Zweifel zu zerstreuen, ‚letzte Vorbereitungen‘ bedeutet die Umsetzung der Abrissverfügung in einer absehbaren Zeit von wenigen Tagen.“

Dennoch wird dieser Fall noch einmal genauer von den Richtern geprüft. Weitere konkrete Maßnahmen könnten auch israelische Entscheidungsträger dazu bewegen. Die EU5 hat sich selbstbewusst geäußert. Am 18. Juli drohte die Hohe Repräsentantin der EU Mogherini mit „sehr ernsthaften“ Konsequenzen. Wie könnten diese aber aussehen? Wie hätte die EU gehandelt, wenn die neue Petition zurückgewiesen worden wäre, das Gericht keine einstweilige Verfügung erlassen hätte und die Abrisse unverzüglich begonnen hätten, so wie Israel offiziell insistierte, deren Umsetzung ohne weiteren Aufschub zu planen?

Damit dieses Szenario nicht Wirklichkeit wird, müssen die EU5 und andere Kräfte ihre Bemühungen verdoppeln, um die Gemeinde zu retten.

Die bisherigen Bemühungen haben dazu geführt, dass der 24. Mai am Ende doch nicht der letzte Tag gewesen ist. Zwei Monate später steht Khan al-Ahmar noch immer. Wir haben eine reelle Chance, diese Gemeinde – und Dutzende anderer – zu retten: Israel beabsichtigt eine Zwangsumsiedlung tausender Palästinenser. Sichtbarer öffentlicher Druck hat Khan al-Ahmar so weit gebracht. Der 1. August  ist der neue Stichtag, um Israel dazu zu bringen, seine Absichten zu überdenken und nachzugeben. Die Stunde der Wahrheit für Khan al-Ahmar ist auch die unsere.

Seit Jahrzehnten hat Israel Khan al-Ahmar selbst eine ordentliche Zufahrtstrasse verweigert. Diesen Monat baute der Staat endlich eine – nicht etwa für die Einwohner, sondern um den Abriss ihrer Häuser zu ermöglichen. Falls die Gerechtigkeit siegt, werden die Menschen vielleicht nicht nur an diesem Ort bleiben können, sondern endlich auch eine anständige Zufahrtstrasse haben. Aus den letzten Vorbereitungen zum Abriss könnte so ein erster Schritt in Richtung Aufbau, Entwicklung und Gerechtigkeit werden.

Der Autor ist der Direktor von  B’Tselem.
 

medico international stellt in Kooperation mit unserem langjährigen Partner Palestinian Medical Relief Society (PMRS) und mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes die Basisgesundheitsversorgung in Khan al-Ahmar sicher, damit die Menschen dort bleiben können.

Spendenstichwort: Israel/Palästina


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