Die derzeit erfolgreichste Impfkampagne weltweit läuft in Israel. Die Regierung stellt nicht weniger in Aussicht, als die Nation „zurück ins Leben“ zu führen. Mehr als 55 Prozent der 9,3 Millionen Einwohner:innen sollen laut Angaben des Gesundheitsministeriums bereits geimpft worden sein. Knapp die Hälfte der Bevölkerung hat laut Ministerium auch schon die zweite Impfdosis erhalten.
Möglich gemacht haben diesen Erfolg große Deals mit den Pharmaunternehmen Pfizer und Moderna. In Israel richtet sich die Impfkampagne an alle, wie Premierminister Netanjahu unter anderem am 2. Februar 2021 betonte. Ausgerechnet Netanjahu, der ansonsten Angst vor den nicht jüdischen Teilen der Bevölkerung schürt, insbesondere vor palästinensischen Bürger:innen Israels, die er als fünfte Kolonne verdächtigt, wandte sich in einer Rede an „Juden, Muslime, Christen, Drusen, religiöse, säkulare, alle.“ Er forderte sie nicht nur auf, sich impfen zu lassen. Er sagte ihnen auch etwas, das dem Kern seiner Politik und dem ethnonationalistischen Kurs seiner Partei eigentlich widerspricht: „Wir sind ein Volk!“
Während Israel angesichts der Impffortschritte seit dem 7. März 2021 mit der Öffnung von Bars, Restaurants, öffentlichen Veranstaltungsorten und des Wirtschaftslebens zu einem gewissen Grad der Normalität zurückzukehren versucht, bleibt die Lage in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten schwierig. Nachdem sich die Lieferung von Impfstoffen unter dem COVAX-Programm der WHO verzögert hatte, wandte sich der palästinensische Premierminister Mohammed Shtayeh mit einem Hilferuf an die internationale Gemeinschaft: „Freundlich gesonnene Länder, Unternehmen und die Weltgesundheitsorganisation“ (WHO) sollten ihren „Verpflichtungen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung nachkommen.“ Diverse Städte im Westjordanland haben vollständige Lockdowns verhängt. Iin mehreren palästinensischen Krankenhäusern sollen die Intensivbetten infolge von Covid-19 vollständig ausgelastet sein.
Die israelische Regierung hat der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zugesagt, 5.000 Dosen aus eigenen Vorräten für palästinensisches Gesundheitspersonal zur Verfügung zu stellen. So soll dieses zur Behandlung Erkrankter und zur Eindämmung der Pandemie möglichst arbeitsfähig bleiben. Von den 40.000 Dosen des Sputnik-Impfstoffs, der aus den Vereinigten Arabischen Emiraten geliefert werden sollte, ist bislang etwa die Hälfte eingetroffen. Rechnet man noch eine Sachspende Russlands hinzu, so hat die Palästinenische Autonomiebehörde insgesamt knapp 35.000 Impfdosen erhalten – für eine Bevölkerung von etwas mehr als fünf Millionen Menschen. Aus Israel kamen bisher nur 40 Prozent der 5.000 zugesagten Dosen, während Premier Netanjahu vorübergehend laut überlegte, lieber politisch verbündete Staaten wie Guatemala mit Impfstoffen zu beliefern als die Bevölkerung, die sich unfreiwillig unter israelischer Kontrolle befindet. Als sich auch in Israel dagegen Widerstand regte, wurde dieser Plan erst einmal auf Eis gelegt.
Hilflosigkeit und Nepotismus
Unter der palästinensischen Bevölkerung herrscht aber nicht nur gegenüber der israelischen Regierung Unmut. Auch die Autonomiebehörde geriet in die Kritik. Entgegen dem Versprechen, die ohnehin extrem knappen Impfstoffe für Gesundheitsarbeiter:innen und Hochrisikopatient:innen zu reservieren, wurde bekannt, dass auch Fußballspieler und Mitglieder der Führung versorgt wurden. Das spiegelt nicht nur ein fehlendes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Bevölkerung wider. Es spielt sich auch vor dem Hintergrund eines erneuten Versuchs durch Mahmoud Abbas ab, die Zivilgesellschaft per Präsidialdekret unter seine Kontrolle und die seiner Fatah zu bringen.
Diverse Kritiker der israelischen Politik, darunter auch die medico-Partner Palestinian Medical Relief Society und Physicians for Human Rights – Israel, haben darauf aufmerksam gemacht, dass das Virus an der Grünen Linie nicht haltmacht. Die israelische Regierung hat unterdessen damit begonnen, den Teil der palästinensischen Bevölkerung zu impfen, der als nützlich für Israel und seine illegalen Siedlungen erachtet wird: rund 120.000 Personen verfügen über eine gültige Erlaubnis, Israel oder die Siedlungen zu betreten, um dort auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder als Reinigungskräfte und in ähnlichen Jobs zu arbeiten.
Israel ist als Besatzungsmacht dazu verpflichtet, für das Wohl der Bevölkerung unter seiner Kontrolle zu sorgen. Unter Verweis auf die Osloer Abkommen hat sich die Regierung aber für nicht zuständig erklärt. Mit Unterzeichnung der Verträge habe die PLO die Verantwortung für die eigene Bevölkerung in den Bereichen Gesundheit und Bildung übernommen. Tatsächlich ist das schwarz auf weiß nachzulesen. In denselben Dokumenten steht aber auch, dass keine Vertragspartei Fakten am Boden schaffen solle, die der Aushandlung eines Endstatusabkommens zuwiderliefen. Die seit Jahrzehnten anhaltende und seit Oslo intensivierte Siedlungspolitik steht dem entgegen und dient nicht der israelischen Sicherheit. Es ist auch eine Illusion, Israel könne (dauerhaft) pandemische Sicherheit erlangen, ohne die palästinensische Bevölkerung unter seiner Kontrolle einzubeziehen.
Die Pandemie hat nicht nur die Trennung verstärkt, sondern auch das Gemeinsame sichtbar gemacht, nicht zuletzt in den Krankenhäusern Israels, in denen sehr viele palästinensische Mitarbeiter:innen beschäftigt sind. Ein Zeichen paradoxer Hoffnung, entlang der die medico-Partner:innen arbeiten.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!