Von Usche Merk
Folgende Fragen beschäftigen uns in unserer Arbeit: Was bedeutet es, sich auf Seiten der sogenannten Globalisierungsverlierer wieder zu finden, der strukturellen und direkten Gewalt von aufgezwungener Armut und Survival of the Fittest ausgeliefert zu sein? Wie politisch ist soziale Gewalt? Wo zeigen sich politische Gewalt und ökonomische Herrschaft in Form von alltäglicher Gewalt durch organisierte Kriminalität, Jugendbanden oder Gewalt gegen Frauen? Vor welchen Herausforderungen stehen deshalb Heilungs- und soziale Veränderungsprozesse in diesen Kontexten und wie wird ihnen begegnet?
Ausgangspunkt unserer Fragen und Debatten ist die Beobachtung, dass die Grenzen zwischen politischer und sozialer Gewalt im Zuge neoliberaler Globalisierung – die die Welt in einen Zustand nie gekannter extremer Ungleichheit versetzt hat – verwischen. Der Abstand zwischen den Einkommen der reichsten und der ärmsten Länder lag 1820 noch bei 3:1, 1992 bereits bei 72:1. Seither hat sich dieser Abstand noch einmal verdoppelt. Die Unterschiede bestehen aber nicht nur zwischen den Ländern, auch innerhalb der Länder, sowohl des globalen Nordens als auch des globalen Südens, gibt es prosperierende Regionen, Zonen und Bevölkerungsgruppen mit riesigen Reichtümern direkt neben solchen, die mit extremer Armut, permanenter Demütigung und sozialer Marginalisierung leben sowie zunehmend vom ökonomischen und politischen Leben völlig ausgeschlossen sind. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat über den Zusammenhang zwischen Armut und psychischer Gesundheit Daten veröffentlicht. Klassische psychische Störungen kommen doppelt so häufig bei Armen vor wie bei Reichen.
Menschen die über den geringsten sozioökonomischen Status verfügen, haben ein acht mal höheres Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Eine jüngst veröffentlichte Studie zweier britischer Wissenschaftler, die sich ausschließlich mit entwickelten Ländern beschäftigt, belegt, dass sich Ungleichheit auf das Entstehen von Gewalt und die Psyche auswirken. Danach sind in Gesellschaften mit besonders ungleicher Einkommensverteilung die Mordraten zehnmal und die Anzahl der psychisch Kranken dreimal so hoch wie in Gesellschaften mit geringeren Einkommensunterschieden. Armut und Gewalt finden nicht in einem historischen Vakuum statt, sondern in Kontexten, die bereits eine Geschichte politischer Gewalt, extremer Unterdrückung und Ausplünderung, aber auch eine Geschichte des Widerstands und der Versuche von sozialen Veränderungen vorweisen. Traumatische Erfahrungen von Vertreibung, Zerstörungen, Demütigung, Hilflosigkeit und Ohnmacht behindern die individuelle wie gesellschaftliche Handlungsfähigkeit.
Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt medico die Frage, wie den individuellen, sozialen und politischen Auswirkungen massiver Gewalterfahrung begegnet werden kann, wie Gewaltüberlebende ihre Würde und Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. Es begann mit der Arbeit mit aus der Haft entlassenen Folteropfern in Chile, mit den Versuchen engagierter chilenischer Therapeuten, den Folter überlebenden psychosoziale Hilfe zukommen zu lassen. Schon bald wurde klar, dass es zentral ist, die Betroffenen nicht zu pathologisieren, sie nicht als krank zu betrachten, auch wenn die Folter massive gesundheitliche Störungen zur Folge hatte. Krank ist die Folter, die Störungen sind eine normale menschliche Reaktion auf nicht normale unmenschliche Erfahrungen. Damit wehrten sie sich gegen eine Privatisierung der Folgen traumatischer Erfahrung, die allein den Betroffenen aufgebürdet wird. Für sie war die Anerkennung des unermesslichen Leids und die Entprivatisierung der traumatischen Folgen eine Voraussetzung, um wirkliche Hilfe anbieten zu können.
medico unterstützte sie und begann seither eine Auseinandersetzung mit psychosozialer Arbeit, die immer beides im Blick hat: die Entprivatisierung traumatischer Erfahrungen und den Respekt vor dem konkreten Leid der Betroffenen, denen Hilfe gebührt. Wir mischten uns ein in die Debatte um die psychiatrische Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörungen, die genau diesen Zusammenhang ausblendet und wir wiesen darauf hin, dass in den meisten Ländern des Südens auch nach dem Ende von Diktaturen von einer posttraumatischen Situation nicht die Rede sein kann.
Neoliberale Ausschlussprozesse gehen einher mit einer Privatisierung von Gewalt, die Macht- und Herrschaftsinteressen unsichtbar macht. Organisierte Kriminalität, territoriale Kontrolle durch lokale Warlords und Gangs, private Sicherheitsdienste, der Rückzug von staatlich garantierter Verantwortung sowie Rechtssicherheit haben recht- und straflose Räume geschaffen, wo nur die Macht des Stärkeren zählt, das ökonomische Prinzip des Survival of the Fittest.
Zur dieser Privatisierung von Gewalt gehört eine Enthistorisierung. Die Gewalt erscheint naturwüchsig, barbarisch, sinnlos, die Täter als böse geschichtslose Monster ohne rationale Ziele, während die Verantwortlichen unsichtbar bleiben und obendrein Menschenrechtsdiskurse führen. Mit unserer Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit versuchen wir seit vielen Jahren auf solche Dynamiken aufmerksam zu machen, wenn es um die Rohstoffkriege in Sierra Leone, Kongo oder anderswo geht, genauso wie bei den Debatten über städtische Gewalt, ausgeübt vor allem von Jugendlichen zum Beispiel in Brasilien, Guatemala oder Südafrika.
Doch wie können, neben der Kritik, Solidarität und psychosoziale Hilfe aussehen? Zwei Beispiele aus der medico- Praxis: Mittelamerika und südliches Afrika. In Nicaragua hat medico sich bereits in den 1980er Jahren zum ersten Mal mit gemeindeorientierten Ansätzen der psychosozialen Arbeit auseinandergesetzt, mit dem Versuch einer Umgestaltung und Demokratisierung der psychosozialen Versorgung. Das setzen wir heute fort mit einem großangelegten Programm psychosozialer Selbstreflektion und Fortbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern basisorientierter Gruppen der Zivilgesellschaft, die sich mit den Auswirkungen von Armut und Trauma auf die Möglichkeiten sozialer Veränderung auseinandersetzen. Auch in Südafrika ging und geht es um gemeindeorientierte Ansätze von Empowerment (alt: Selbstermächtigung) und Partizipation (alt: Beteiligung), um vielfältige systemische Selbsthilfeansätze, aber auch um die Schaffung von öffentlichen Räumen und Diskursen, um psychosoziale Dynamiken zu verstehen, um Dialoge und Vernetzungen zu ermöglichen, die Sinnzusammenhänge herstellen. Das findet sich in der von medico unterstützen Arbeit der Selbsthilfe-Gruppe der Apartheid-Opfer Khulumani genauso wieder wie in der gemeinwesenorientierten Arbeit von Sinani in KwaZulu Natal, die wegweisend in der Konfliktbewältigung ist und neue Wege in der Gewaltprävention mit jungen Männern geht.
Projektstichwort:
Seit Mitte der 1980er-Jahre unterstützt medico Projekte im Bereich der psychosozialen Gesundheit. Heute reicht diese Arbeit von psychotherapeutischer Betreuung kriegstraumatisierter Frauen in Afghanistan, über die Unterstützung der israelischen Organisation Zochrot, die sich mit der Erinnerungskultur und den Rückwirkungen der palästinensischen Vertreibung in die israelische Gesellschaft beschäftigt, bis zur Förderung psychosozialer Gemeinwesenarbeit mit ehemaligen Saisonarbeitern und deren Familien in Nicaragua, die der extremen Armut entkommen wollen. Ausführliche Informationen über die unterschiedlichen Aktivitäten auf diesem Gebiet finden Sie unter: www.medico.de. Gern schicken wir Ihnen Informationen dazu auch per Post zu. Spenden werden erbeten unter dem Stichwort: Psychosozial.