Das Symposium "Solidarität in der Krise" der Stiftung medico international beschäftigt sich auch mit dem Denken Frantz Fanons, dem Psychiater und Vordenker der Entkolonialisierungskämpfe. Warum ist Fanon heute noch interessant?
Seit der Zeit der anti-kolonialen Befreiungskämpfe in den 50/60er Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich die politischen Umstände fraglos verändert. Spätestens mit der globalen Ausweitung der Macht, die heute kein eindeutiges Zentrum mehr kennt, haben sich auch nationale Befreiungsstrategien, die noch die anti-kolonialen Kämpfe gelenkt haben, als untauglich erwiesen.
Dennoch lohnt die Beschäftigung mit Fanon noch immer. Bezüge seines Werkes zur heutigen Zeit sind unverkennbar. An die Stelle der kolonialen Unterdrückung ist das getreten, was soziale Exklusion bzw. Vernichtung und Entzug von Lebensgrundlagen zu nennen ist. Bei näherer Betrachtung der Verhältnissen, wird die Aktualität des Fanon'schen Denken deutlich.
Worin besteht seine Aktualität aus Ihrer Sicht?
In der Bewusstwerdung der Selbstentfremdung sah Fanon die Voraussetzung für die Befreiung aus kolonialer Unterdrückung. Dabei ging es ihm freilich nicht um die rückwärts gewandte Wiederbelebung einer vorkolonialen afrikanischen Kultur, sondern um eine selbstbewusste Teilhabe an der Moderne mit all ihren politischen und technologischen Errungenschaften.
Diese Selbstentfremdung begegnet uns in gebrochenen Identitäten von Menschen auch in unserer Arbeit. Muslimische Frauen, die den "Westen" politisch ablehnen, aber zugleich ihre Kinder dort zur Welt bringen, weil diesen nur so Lebensperspektiven und das "Recht, Rechte zu haben" zuteil werden. Traditionelle Chiefs mit Schlips und Kragen, die auf demokratisch gewählte Minister im Gewand folkloristischer "Negritude" treffen. Leute, die an der Modernität westlicher Gesellschaften teilhaben wollen, aber – als Reaktion auf die Ausgrenzung – ihr Seelenheil in überkommen geglaubten Traditionen und vormoderner Religiosität suchen. Phänomene, die sich in dem Maße global ausgebreitet haben, wie der Ausschluss in Gestalt eines wachsenden "Prekariats" auch den Norden erreicht hat.
Die Gewalt, die heute in den Banlieus und Vorstädten Europas, existiert, richtet sich nicht selten – auch das ein Ausdruck von Selbstentfremdung – gegen andere Ausgegrenzte selbst. Auf vielfältige Weise haben sich Rassismus und soziale Deklassierung überlagert.
Sehen Sie in Fanons Denken Bezüge zur konkreten medico-Arbeit?
Die Bezüge zur medico-Arbeit sind vielschichtig und spiegeln sich gerade im Projektgeschehen. Immer geht es in unseren Vorhaben sowohl um Prozesse der Bekämpfung von Selbstentfremdung als auch um Formen des Widerstandes gegen gewaltförmige Ausgrenzung.
Ein Beispiel ist das Freedom-Theatre im palästinensischen Jenin, das versucht mit seiner künstlerischen und politischen Arbeit der durch die Besatzung und die innerpalästinensischen Prozesse entstandenen Formen der Selbstentfremdung entgegenzuwirken. Ein Beispiel sind auch die Literaturkurse in brasilianischen Gefängnisse oder die Psychodrama-Arbeit im Gaza-Streifen. Das alles zielt auf die auf die Schaffung von Selbstbewusstsein. Dabei geht es ganz im Sinne des Ursprungs von "Empowerment" um Bewusstwerdungsprozesse, die weit über die eher pragmatischen Zielsetzungen hinausreichen, die heute mit dem entwicklungspolitischen terminus technicus des "Empowerment" verbunden werden. Dieses Verhältnis einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, das ist die Idee des Symposiums am 30. Mai. Deshalb werden wir auch sehr konkret über Projektarbeit in Israel-Palästina und in Zentralamerika sprechen.
Ein besonderes Thema in diesem Kontext ist die Migration. Sie verkörpert ganz im Fanon'schen Sinne das Pochen auf selbstbewusste Teilhabe an der Moderne. Vieles spricht dafür, dass an die Stelle des antikolonialen Widerstandes die globale Migration getreten ist: Eine "Globalisierung von unten", die längst zu einem Schauplatz militärisch hochgerüsteter Abwehrschlachten geworden ist, denen jedes Jahr Tausende von Migrantinnen und Migranten zum Opfer fallen.