Alles wird anders

Der Rundschreiben-Kommentar von Hans Branscheidt

01.04.1999   Lesezeit: 5 min

An dieser Stelle steht immer die gute Nachricht:

Alle Ängste der Vergangenheit können vergessen werden. Die Gattung ist nicht bedroht & wird unendlich weiterleben. Es wird nicht einmal Geisteskrankheit mehr geben, den das Gen für Schizophrenie ist gefunden. Die mittelständische Angst vor Pershings kann sich getrost zur Ruhe setzen: In Los Alamos wird die atomare Unempfindlichkeit des Menschen genetisch vorbereitet. Die Schuppenflechten, die Hautausschläge und Allergien, eben noch in Erwartung von GenFood beschworen, werden für alle Generationen im Keimbahneingriff beseitigt. Der Zuckerkranke steht nur noch im medizinischen Wörterbuch. Die Rübe enthält längst ihren eigenen kalorienarmen Zucker. Flügellose Marienkäfer fressen die Blattläuse auf. Der Hunger der Erde blamiert sich vor den biotechnisch gelungenen Hochertragssorten. Den Veganen wird die schmerzfreie Labormaus geschenkt. Es gibt nur noch Gesunde. Das Leid ist abgeschafft. Der Schmerz gebannt. Krankenkassen sind unbekannt geworden. Die neuen Menschen aus dem Zucht-Haus erleben sich selber so wie heute schon Cher Bono: Jedes Jahr ein Jahr jünger! Herrlich-schöne Menschenkinder, einander immer ähnlicher, entziehen aller Differenz & endlich auch jedem Rassismus den Boden. Endlich sind alle gleich! – Utopisch ist daran nichts mehr. Nur die Antiquiertheit des Menschen möchte in dem Glauben verharren, es sei alles noch längst nicht soweit. Die Vorausschauenden setzen bereits Spielgeld an der New Yorker »Foresight Exchange-Börse« www.ideosphere.com, ob der erste Primat vor dem 1. Juli 2005 geklont ist.

Der Leib als verkörperter Wille

»Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.«
Rilke, Duineser Elegien

Die abendländische Tradition ist voll von Versuchen, den Leib wegzudenken. Die traditionelle Auffassung des Leib-Seele-Dualismus gab einer geistigen Befehlszentrale den Vorzug. Verwunderlich ist das nicht in Zeiten, in denen man den Schicksalen des Körpers schutzlos preisgegeben war. Zeiten, die die wirkliche Naturbeherrschung des eigenen Leibes noch nicht kennen. Zeiten ohne medizinische Intensivstation, Krankenkassen & Schluckimpfung, müssen sich wenigstens imaginär vor den Attacken des Körpers in Sicherheit bringen. Die Behauptung der Überlegenheit des Geistes kam großartig daher – und entstammte doch einer Defensive. Die Quelle dieses Idealismus war nicht Lustfeindlichkeit, wie jetzt gern behauptet wird, sondern Todesangst, Angst vor Schmerzen, Krankheit, Seuchen, Siechtum und Armut. Auf die Idee, im Einverständnis mit dem Leib die Erlösung zu suchen, konnte keiner kommen. Solche Vorstellung kommt erst in unserem Jahrhundert & insbesondere in seinem letzten Jahrzehnt auf die Tagesordnung. Eine ganze Generation setzt heute auf den Körper wie früher auf das Proletariat. »Solidarität mit dem Körper«, sagt die Nachfolge der Studentenbewegung, und Terry Eagleton stellt fest, daß der »Körper heute zum Haupttheoretiker« geworden ist. Man entdeckt eine Art Klassenkampf zwischen Kopf und Bauch. Wobei man auf den Bauch hören soll. Der Körper wird zum Geheimnisträger, der, hört man nur richtig zu, alles ausplaudert, worauf es ankommt. Seitdem redet man nicht mehr intelligent, sondern man lauscht aufs Raunen. Man umzingelt den krankenkassengestützten Körper mit einer ganzen Deutungskultur. Das »Spüren« wird zum Königsweg der Wahrheit. Der Körper birgt in sich alle atemlosen Verheißungen dieser Zeit. Das bedeutet Biopolitik.

Die Moderne der Biopolitik

Gesundheit, Geschlecht & Umwelt werden zentrale Themen der Politik. Gerade der Körper wird zum politischen Schauplatz. Die biologische Norm tritt an die Stelle des Gesetzes. Das Versprechen der Moderne lautete auf »Befreiung des Körpers«, der entlassen werden sollte aus Zwang und Puritanismus, frei & bewegt, lösgelöst von Funktionalität und zweckgerichteter Konditionierung. Tatsächlich benötigte die moderne Zeit keinen politischen Körper mehr im eigentlichen funktionellen Sinn des Wortes – wohl aber noch im bildhaften. Für heutige Männer & Frauen besteht einer der geschätztesten Vorzüge des Repräsentationssystems darin, einen nichtpersönlichen, einen körperlosen Körper zu demonstrieren, der allen und allem gleich ist. Passend getragen zur Unpersönlichkeit der staatlichen Apparate und sozialen Institutionen. Es gehört zur Ironie der Moderne, daß der Körper nicht politisch befreit wurde durch die Aufhebung der abstrakten Körperlichkeit, sondern genau diese Absicht zum Wegbereiter der Biopolitik wurde, wie es sie vor der Zeit der Moderne als systematische nicht gab. In der neuen Welt, in welcher jeder Körper ohnehin in jede Art von Politik verwickelt war, gab es nichts mehr, was ein Streben nach einer besonderen Politik des Körpers hätte legitimieren können. Viel eher bot sich in der Biopolitik der Moderne ein sozialer Raum, in dem der einzelne Körper durch das habeas corpus Gesetz zwar anerkannt wurde, aber gleichzeitig die wichtigsten Entwicklungstendenzen im Zusammenleben der Menschen darauf abzielten, dieses legal existierende Wesen ruhigzustellen, zu unterdrücken, auszumerzen oder zu ersetzen. Die zeitgenössischen biopolitischen Auffassungen äußern sich lagerübergreifend: in der Sphäre grüner Bewegungen, bei Abtreibungsbefürwortern wie Gegner, bei Ökologen & Experten für Demographie: überall sind biopolitische Ordnungssysteme als zukünftig richtungsweisend anerkannt, auch wenn die jeweiligen Folgerungen der Träger solcher Ansichten unterschiedlich sind. Beispielhaft hierfür ist der reibungslose Eingang jahzehntelanger kritischer Pharmapoltiik in die Gesundhheitsreformen Seehofers: Weniger Medikamente, Privatisierung der Pflege, geringer stationärer Aufenthalt. Unter einer Bedingung: der eigenen konsequenten biologischen Selbstkontrolle. Nur wer sich daran ständig hält, erfährt den Bonus medizinischer Vollversorgung. Aus solchen Sanktionen ergeben sich die zukünftig relevanten gesellschaftlichen Unterschiede, ausgedrückt im Grad der jeweiligen Abweichung von der biopolitischen Norm. Auch hierin sollen alle gleich werden. Sind aber alle identisch, funktioniert selbst der alte Rassismus nicht mehr. Stattdessen würden sich neue, ungeahnte und ungeheuerliche, durchweg verwissenschaftlichete Begründungen für rationalisiertes Ausgrenzen ergeben, die den traditionellen Rassefetischisten nicht zur Verfügung standen. Die verordnete Politik der Gesundheit ist auf keinen Fall denkbar ohne den Doppelbegriff von Freund & Feind. Biopolitik, demnächst genetisch fundiert, bedarf zu ihrer Verwirklichung der massiven Konditionierung der Einzelnen: des Schuldgefühls, das jeder haben soll, der sich nicht gesundheitsgerecht verhält. Vor allem verantwortlich sein Genom liest und lebt, indem er seine Keimbahn und die seiner Nachkommen sauber hält. Die Grundvoraussetzung aller zukünftigen Biopolitik ergibt sich nämlich aus einem System von »Überwachen und Strafen« (Foucault). Es geht deshalb heute mehr denn je darum, entschieden für ein Recht auf Krankheit einzutreten.

Hans Branscheidt


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