Als müsse die Rettung erst noch erdacht werden

Grundlegende Gedanken zu einer Neubestimmung humanitärer Hilfe

01.11.2006   Lesezeit: 16 min

Mit großflächigen Plakaten werben Hilfswerke für ihre Arbeit: »Tausend Fragen. Eine Antwort: Helfen«. – Inmitten einer Welt, die in Gewalt und Elend zu versinken droht, ein schönes, ja großartiges Versprechen. Eines, das erfrischend selbstbewußt daherkommt und die Lösung für so viele Ungewissheiten reklamiert. Kein Wunder, dass im englischen Sprachraum auch nicht mehr nur von humanitärer Hilfe die Rede ist, wenn es ums Helfen geht, sondern von »Humanitarismus«.

Schon immer haben Menschen sich gegenseitig Beistand geleistet, wenn es die Not erforderte. Nun allerdings scheint es, dass aus der moralisch begründeten Sorge um den Anderen eine veritable Philosophie geworden ist, die wie kaum eine andere den heutigen öffentlichen Diskurs bestimmt und obendrein eine eigene Praxis entwickelt hat. Denn um Menschenrechte und Hilfe für Notleidende sind heute nahezu alle bemüht: die Politiker, die Schauspieler, die Industrie, die Handwerksverbände, die Medien, – ja selbst die Militärs umgeben sich immer häufiger mit der Aura des Helfers und behaupten, statt Krieg zu führen, nur noch humanitär intervenieren zu wollen. Fraglos genießt die zupackende Hilfe für Menschen in Not ein hohes öffentliches Ansehen! Und ihre Erfolge lassen sich ja nahezu täglich auch ansehen. In der glamourösen Spendengala im Fernsehen, den Prospekten der Helfer, den Bildern von weißen Geländefahrzeugen und Helfern, die oft keine Gefahr scheuen, um unmittelbar am Ort des Schreckens Opfern zu helfen.

Die Welt, ein globaler Ort von Hilfsbedürftigen und Helfern ? Der »Humanitarismus« als letzte Rettung ? – In die einzigartige Erfolgsstory, die den »Humanitarismus« in den letzten Jahrzehnten begründet hat, mischen sich auch kritische Stimmen. Manche, wie der US-amerikanische Autor David Rieff, sprechen gar von einer Krise des »Humanitarismus «. Hilfe, so sein Fazit, sei eine »rettende Idee«, die nur mildern, aber nichts retten kann.

Der prekäre Zustand der Welt, so viel steht fest, macht Hilfe an allen Ecken und Enden notwendig. Ohne den humanitären Beistand, den Hilfsorganisationen in den zurückliegenden Jahrzehnten geleistet haben, wären fraglos viele Tausende, vielleicht Hunderttausende von Menschen mehr an Kriegen und Hunger gestorben. Tatsache aber ist auch, dass die Zahl der Kriege und die Kluft zwischen arm und reich in all den Jahren eher noch größer geworden ist. Längst hat das Elend der Welt auch die Vorstädte des reichen Nordens erreicht. So wenig es einen Grund gibt, die Erste Hilfe, das individuelle Asyl oder Nahrungsmittelhilfen, also die kleinen Verbesserungen verächtlich zu machen, von denen oftmals das Überleben vieler Einzelner abhängt, so wenig darf übersehen werden, dass selbst die erfolgreichste humanitäre Hilfe es nicht vermocht hat, die katastrophale Entwicklung aufzuhalten oder gar zu lösen. Gewalt und Elend sind Ausdruck herrschender Machtverhältnisse; in ihnen spiegelt sich nicht ein zu wenig an humanitärem Beistand, sondern das Versagen einer Politik, deren Aufgabe die Gestaltung menschenwürdiger Lebensverhältnisse gewesen wäre.

Katastrophe

Noch vor wenigen Jahrzehnten befand Jean-Paul Sartre, dass es eigentlich keine Naturkatastrophen gebe, weil alle Katastrophen von Menschen gemacht seien. Inzwischen schlagen die Folgen menschlichen Handelns mit blinder Kraft zurück. Umweltschäden, Tierseuchen, Massenmigrationen, Vertreibungen oder Kriege ereignen sich unangekündigt, hinterrücks und scheinen taub für alle Bemühungen, Abhilfe zu schaffen.

Dabei mangelt es nicht an Wissen über das, was in der Welt vor sich geht. Niemand würde ernsthaft behaupten, es sei gut und vernünftig, die Umwelt zu zerstören, Menschen zu entwurzeln und Kriege zu entfesseln. Auf sonderbare Weise aber geht das Bewußtsein für die drohenden Gefahren Hand in Hand mit dem Gefühl wachsender Ohnmacht. Kann dem Elend überhaupt vorgebeugt werden ? Ist es nicht längst unabwendbar, wie eine Naturkatastrophe ? – Zwischen Empörung und Mitgefühl mischen sich Gefühle von Angst und Scham. Vieles deutet auf die Existenz einer neuerlichen historischen Katastrophe hin, die den Menschen widerfährt, ein permanenter Akt übermenschlich empfundener Gewalt, der hilflos macht und mythologisch verklärt werden muss. Auf scheinbar paradoxe Weise hilft bei der Versöhnung mit der unerträglichen Realität die Verengung der Wahrnehmung auf einzelne besonders krass hervortretende Katastrophen. In der Beschäftigung mit dem spektakulären Erdbeben, der Aufsehen erregenden Überschwemmung, dem Krieg gegen die vermeintlichen Mächte des Bösen, geht das Bewußtsein für die alltäglichen Nöten und Schrecken, denen Menschen in aller Welt unablässig ausgesetzt sind, verloren. Gerade die Dramatisierung einzelner scheinbar unabwendbarer Schrecken befreit von der Scham, dass millionenfache Flucht, Krankheit und Hunger – gemessen am Entwicklungsstand der Welt – durchaus vermeidbar wären.

Opfer

Ganze Bibliotheken geben unterdessen Auskunft darüber, wer die Opfer sind. – Was aber bedeuten die Opfer ? Haben sie gar eine gesellschaftliche Funktion?

Mitte der 80er Jahre erklärte der Pressesprecher des »Internationalen Währungsfonds«, es sei nicht nur unvermeidlich, sondern gewollt, dass es Verlierer geben würde. Um sich die Gunst der herrschenden Wirtschaftsordnung zu erhalten, müsse sie von allen Fesseln befreit werden, so das Credo des Neoliberalismus. Allein die konsequente Liberalisierung der Marktkräfte könne Wohlstand sichern, was zusätzliche Opfer erfordere. Die Eingriffe, die dann ihren Anfang nahmen, sind gewaltig. Ein Drittel der Weltbevölkerung wurde sozial entwurzelt und aus formellen Wirtschaftskreisläufen ausgeschlossen; von »überflüssiger Bevölkerung« ist gar die Rede. Auch die vermeintlichen Gewinner mussten Entsagungen hinnehmen. Bis in ihr biologisches Substrat hinein werden Menschen heute kontrolliert und in Wert gesetzt; das Soziale aufgelöst oder ökonomisiert. Solche Verlusterfahrungen verlangen nach Verleugnung, wenigstens nach Kompensation.

Dabei hilft die regelmäßige Vergegenwärtigung jener, denen es noch dreckiger geht, eben denen, die zur Sicherung eigener Privilegien Opfer wurden. Mit der Hilfe für die Ausgegrenzten könnte es sich wie mit dem Karneval verhalten, meint der Philosoph Zygmunt Bauman: die bestehenden Verhältnisse werden durch eine periodische, aber begrenzte und streng kontrollierte Umkehrung aller Normen bestätigt. Tatsächlich besteht im wohlhabenden Teil der Welt die Tendenz, Mitleid und Nächstenliebe an besondere Situationen zu binden, um damit ihr Nichtvorhandensein im täglichen Leben zu legitimieren und für normal zu erklären. Durch den Anblick menschlichen Unglücks ausgelöste moralische Impulse werden gefahrlos kanalisiert, indem sie an sporadische Spendensammlungen gebunden werden. Gerechtigkeit wird zur guten Tat, die über den Mangel an Gerechtigkeit als geltende Norm hinwegtröstet. »Heute tun wir mal was Gutes«, bekannte Helmut Kohl, als er Mitte der 80er Jahre beim ersten Afrika-Tag einige Geldscheine in eine Sparbüchse warf.

Refeudalisierung

Von Hilfe in einem emphatischen Sinne ist heute kaum mehr die Rede. Die Idee eines helfenden Beistandes, der Überwindung von Not und Unmündigkeit und damit die Schaffung und Wiederherstellung von Eigenständigkeit zum Ziel hat, mag noch von rhetorischer, nicht aber mehr von praktischer Bedeutung sein. Das Verblassen von Emanzipationserwartungen, die Desillusionierung angesichts des Scheiterns starrer Revolutionskonzepte haben auch die Idee sozialer Entwicklung in Mitleidenschaft gezogen. Die gute Maxime: »Gib dem Hungernden einen Fisch, und er ist einen Tag satt; lehre ihn fischen, und er wird immer satt sein«, die vor gar nicht so langer Zeit noch hoch im Kurs stand, wirkt merkwürdig angestaubt, fast schon überkommen.

Denn den Status Quo herausfordern zu wollen, gilt in den Augen der Öffentlichkeit kaum noch als glaubwürdiges Engagement. Die modernen Helden zivilgesellschaftlicher Aktion halten sich nicht erst lange mit dem politischen Kontext auf, sondern packen unmittelbar zu. Wo früher die Vorstellung von einer anderen Welt zum Handeln motivierte, herrscht heute ein unpolitischer Pragmatismus, der sich nicht einmischen will, keine Partei ergreifen möchte, sich um Linderung der ärgsten Not kümmert, aber die bestehende Ordnung nicht mehr in Frage stellt. Dieses Hilfsverständnis hat längst auch seine eigene Ikonographie geschaffen. Der weiße Hubschrauberpilot, der ein neugeborenes schwarzes Baby aus einem umfluteten Baum rettet, steht emblematisch für den »Humanitarismus« und symbolisiert eine »interventionistische«, von außen einschwebende (und meist gleich wieder verschwindende) Hilfe, in der es keinen Kontext mehr gibt und so auch keine Gesellschaftlichkeit. Nur noch die Rettung des Einzelnen ist möglich, während die katastrophale Ordnung der Welt, die so sehr der Rettung bedürfte, wie in Zement gegossen, unveränderbar wirkt. Im Bedeutungszuwachs privater Hilfswerke spiegelt sich übrigens nicht unbedingt ein Zugewinn an Demokratie, sondern vielfach das Gegenteil. Weil die Bedürftigen der Welt sich kaum noch auf staatlich gebundene Rechtsansprüche berufen können, sondern ihre soziale Sicherung vom philanthropischen »goodwill« karitativer Organisationen, aber auch dem Bemühen globaler Konzerne um Imageaufbesserung abhängt, ist zurecht von einer Re-Feudalisierung der Verhältnisse die Rede.

Entpolitisierung

Im Zuge der Entpolitisierung der Hilfe hat der Pragmatismus über das Visionäre, das sich Einrichten im Bestehenden über die Emanzipationserwartung triumphiert.

Tatsächlich kommt heute die Suche nach den politischen Ursachen und historischen Bedingungen eines Übels fast immer zu kurz. Unversehens kann sich gar derjenige dem Vorwurf der Unmenschlichkeit ausgesetzt sehen, der im Anblick eines hungernden Kindes nach den Gründen von Hunger fragt. Die Folgen aber, die aus der Verkürzung von Kriegen und Notlagen auf ihre humanitären Folgen resultieren, sind erheblich. Wer kein Verständnis für die Krise entwickeln kann, weil er dafür wichtige politische und kulturelle Zusammenhänge ausblendet, kann auch nicht adäquat auf die Krise antworten.

Im Kosovo beispielsweise trug die massive Präsenz ausländischer Hilfsstrukturen in nicht unerheblichem Maße dazu bei, dass die Reste der dortigen Zivilgesellschaft, die der Vertreibungspolitik Milosevics entgangen waren, endgültig an den Rand gedrängt wurden. Aus unabhängigen Intellektuellen, Menschenrechtsaktivisten und Gesundheits-Experten wurden Fahrer, Dolmetscher und Angestellte im Dienst der Hilfsorganisationen. »Macht nichts, Hauptsache wir haben geholfen«, so der Kommentar eines deutschen Politikers, für den es offenbar unproblematisch war, dass Hilfe, ursprünglich als Mittel zur Beseitigung der Not konkreter Menschen gedacht, zum Selbstzweck geriet.

Überhaupt scheint es vielen Helfern kein Hindernis, wenn sie wenig über die Menschen wissen, mit denen sie es zu tun haben. Die Hilfe, die sie betreiben, folgt technisch-ökonomischen Kriterien und erhebt gar nicht erst den Anspruch, in Kriegsopfern und Notleidenden mehr als Objekte einer möglichst effizienten Versorgung zu sehen. Dem Gros der Nothelfer gelten denn Kriege auch nicht als politisch-historische Ereignisse, sondern schlicht als humanitäre Krisen, die es zu lindern gilt. So bitter die Vermutung klingt: würde Auschwitz sich heute ereignen, in den Massenmedien und den Aufrufen der humanitären Hilfswerke wäre vielleicht nur von einer großen humanitären Krise die Rede.

Kapitalisierung

Von einem solchen Pragmatismus ist der Weg nicht weit zum Business. Die vielen Milliarden US-Dollar, die alljährlich für Nothilfebemühungen in der Welt aufgebracht werden, haben den »Humanitarismus« auch zu einem interessanten Wirtschaftszweig werden lassen, der zuletzt mit großen Zuwachsraten expandiert ist. Längst unterhält der Markt auch eigene Messen, auf denen Nahrungsmittel, Rettungsboote. Minensuchgeräte, Zelte, Leichensäcke, Gasmasken, Trinkwasseraufbereitungsanlagen und all die anderen Hilfsdienstleistungen präsentiert werden. Immer weniger sind es soziale Kriterien, an denen der Erfolg von Hilfe gemessen wird. Wichtiger sind wirtschaftliche Größen, wie die Zahl der erreichten Menschen, die Menge der versandten Hilfsgüter, die Effizienz der Nachschubwege, die Schnelligkeit, mit der man vor Ort ist. Abwicklungskapazitäten zählen, nicht aber die menschliche Beziehung zu den Opfern. Solidarische Nähe zu den notleidenden Menschen, so die Europäische Katastrophenhilfsbehörde (ECHO), sei kein Gütenachweis für eine gute Nothilfe, sondern eher deren Hindernis. Zug um Zug ist die Hilfe aus dem Kontext sozialen Handelns herausgelöst und zu einem »Produkt« transformiert worden, das – wie andere Produkte auch – nicht unbedingt mehr mit den Bedürfnissen der Menschen korrespondiert. Stattdessen haben sich die Interessen der Geber in den Vordergrund geschoben und entscheidet gar die mediale Verwertbarkeit von Hilfe über ihr Zustandekommen. Staatliche Finanzgeber, aber auch die Hilfswerke selbst, legen Wert auf bürokratische Zielvorgaben und ein »Controlling«, das den »output« von Hilfe steigern soll, obwohl soziales Handeln weder planbar noch allein ökonomischen Kriterien folgt. Statt sich mit dem Eigensinn von Hilfe und ihren Wirkungen auseinanderzusetzen, eröffnet die Kapitalisierung von Hilfe die Möglichkeit, politisch unliebsame Hilfen allein aufgrund wirtschaftlicher Bewertungen scheitern zu lassen. Was keinen Ertrag verspricht, wird auch nicht mehr gefördert. Wie aber misst man ein Bemühen, dass nicht allein die Versorgung von Flüchtlingen, sondern auch deren Möglichkeit zur Rückkehr im Augen hat ? Und lässt sich die Wiederherstellung eines lebendigen Sozialgefüges, in dem Opfer von Gewalt und Not einen neuen Halt finden können, tatsächlich am Reißbrett und ohne Beteiligung der Betroffenen »ergebnisorientiert « planen?

Zu befürchten ist, dass die Degradierung der Hilfe auf ein »Produkt« nur der Anfang eines umfassenden Strukturwandels von Hilfe ist. Kürzlich wurde in der EU die Forderung laut, gemeinnützigen Institutionen den Steuervorteil zu entziehen, um Wettbewerbsverzerrungen aufzulösen und auch normalen Wirtschaftsunternehmen den Zugang zu den Hilfsmärkten zu ermöglichen.

Die Chancen, die im Hilfsbusiness liegen, haben nicht zuletzt Unternehmen wie RTL erkannt, die eigene Hilfsorganisationen aufgebaut haben. Darin sind Vorboten eines selbstreferenziellen »Humanitär-Industriellen-Komplexes« auszumachen, der in der Zukunft droht. Das Medium setzt das Thema, motiviert zur Aktion, sammelt Spenden und setzt diese in Projekte um, die wiederum neue Bilder liefern und für ein medial überzeugendes »Controlling« sorgen.

Instrumentalisierung

Die Herauslösung der Hilfe aus dem Kontext des sozialen Handelns macht Hilfe anfällig für vielfältige Instrumentalisierungen und die Steuerung durch zentrale Instanzen. Mit der Entpolitisierung von Hilfe ist das humanitäre Paradox nur noch größer geworden. Je besser Hilfe unkritisch funktioniert, desto mehr kann sie für politische und militärische Zwecke instrumentalisiert werden.

Tatsächlich ist Hilfe zu einer begehrten wirtschaftlichen und politischen Ressource von Kriegsparteien geworden. Ob über die Besteuerung importierter Hilfsgüter, über Schutzgelderpressungen, Raub oder die Ausplünderung der von außen versorgten Bevölkerungen – es gibt vielfältige Wege, wie Kriegsparteien an den Milliarden von Dollars, die alljährlich zur Versorgung von Opfern bereitgestellt werden, partizipieren können. In Ländern wie Angola, Liberia oder Afghanistan hatte die Nothilfe eine so große Bedeutung bekommen, daß sie als integraler Bestandteil des Gewaltzyklus angesehen werden musste.

Wie kaum ein anderes Mittel kann Hilfe aber auch zur Überwindung politischer Legitimationsdefizite beitragen. Warlords und politische Eliten, die Ihre Vorherrschaft kaum noch über funktionierende Formen von Staatlichkeit legitimieren können, sichern sich Gefolgschaft über die Gleichzeitigkeit von Gewalt und ein Minimum an sozialer Versorgung, das sie ihrer Klientel anbieten und für das ausländische Hilfe zu sorgen hat. Auch wird die öffentliche Akzeptanz militärischer Maßnahmen größer, wenn – wie im Kosovo- Krieg – Hilfswerke in breit angelegten Kampagnen auf die Not von Flüchtlingen aufmerksam machen.

Damit sind Dilemmata angesprochen, die nicht per axiomatischer Erklärung, dass Hilfe auf die Beziehung zwischen Opfer und Helfer zu beschränken ist, aus der Welt zu schaffen sind. Die Unabhängigkeit, auf die Hilfsorganisationen zu Recht pochen, darf nicht zur Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Realitäten führen. Und zu denen gehört, dass verstärkt neue Akteure auf den Plan treten, die überhaupt keinen Skrupel kennen, Hilfe für eigene Zwecke zu missbrauchen. Force Protection nennt die NATO jene humanitären Hilfsprogramme, die Streitkräfte parallel zu militärischen Operationen durchführen, um deren Akzeptanz in der Öffentlichkeit zu erhöhen.

Im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung hat sich die alte Ost-West-Konfliktachse in eine Auseinandersetzung zwischen einem reichen »global north« und einem in Armut versinkenden »global south« verschoben. Die Befriedungsstrategien, die das internationale Krisenmanagement zur Bewältigung der neuen Konflikte praktiziert, ähneln denen des 18. und 19. Jahrhunderts. Wie zu Zeiten des viktorianischen Englands geht es um eine repressive Armenfürsorge, in der selbst noch die Opfer in gut und böse aufgeteilt werden. Die »guten Opfer«, die aufgrund politischen Wohlverhaltens jede Unterstützung verdienen, erhalten – wie kürzlich in Jugoslawien – sogenannte »konditionierte Hilfen«, während die vielen »störenden Opfer« mitunter über Generationen hinweg in Flüchtlingslagern dahinvegetieren müssen oder in Exportproduktionszonen, den modernen Arbeitshäusern, ausgebeutet und diszipliniert werden.

Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit ist zur Früherkennung von Systemstörungen verkümmert, die bekämpft werden, um die Spaltung der Welt in Reiche und Arme, Machtvolle und Machtlose, Privilegierte und Gedemütigte aufrechtzuerhalten. Dabei sind offenbar alle Mittel recht. Der militärische Erstschlag, die staatlich legitimierte Folter, die Aufkündigung demokratischer Rechtsprinzipien, die Weiterentwicklung längst geächteter Chemie-Waffen und auch der Missbrauch humanitärer Hilfe.

In der aufkommenden Weltbürgerkriegsordnung droht Hilfe zur Geisel einer Sicherheitspolitik zu werden, die nur noch das eine Ziel verfolgt: die Aufrechterhaltung des Status quo. Derart wird sich der Bezugsrahmen von humanitärer Hilfe in den kommenden Jahren komplett verändern. Es mehren sich die Zeichen, dass humanitäre Hilfe Teil einer komplexen Politik werden könnte, die im Außenverhältnis auf Befriedung und Sozialamtsfunktion setzt und innenpolitisch um Legitimation bemüht ist. Dabei laufen private Hilfsorganisationen Gefahr, zu Dienstleistungsbetrieben staatlicher Institutionen zu werden.

Perspektiven

Es mangelt nicht an Versuchen, dass humanitäre Handeln gegen seine Indienstnahme für den fortschreitenden Zerstörungsprozess zu verteidigen. Manche, wie Rupert Neudeck verlangen, dass sich die Hilfe allein auf sich selbst beziehen müsse. Der Helfende verkörpere einen modernen Sisyphos, der zwar nie etwas verändern wird, aber doch nicht anders kann, als immer wieder zu helfen. Damit rückt ins Zentrum von Hilfe nicht etwa deren Wirkung, sondern der handelnde Helfer selbst. Es zählt die praktizierte Nächstenliebe als moralische Position eines Einzelnen, nicht aber das Streben nach Gerechtigkeit als ethisches Prinzip der Gesellschaft. Und letztlich wird mit der ästhetischen Überhöhung des Helfers die Katastrophe selbst verewigt. Es ist höchste Zeit, dass sich Hilfsorganisationen der Dilemmata ihres Handelns bewusst werden. Dabei wird vor allem die Korrektur zahlreicher Mythen notwendig werden, zu denen nicht zuletzt die Vorstellung gehört, humanitäre Hilfe diene Opfern, aber mische sich nicht ein. Wer Menschen helfen will, kann nicht eigentlich neutral sein, sondern muss sich einmischen und auf Seiten der Opfer Partei gegen die Täter ergreifen. Alles andere wäre in hohem Maße unmoralisch. Wer Menschen aus Notlagen heraushilft und sie in die Lage versetzt, wieder selbständig handeln zu können, hinterlässt Spuren, die weit über den Augenblick der Hilfe hinausreichen.

Welche Kraft in einer solchen Hilfe stecken kann, kann dort beobachtet werden, wo Hilfeorganisationen ihre Arbeit nicht auf kurzfristige interventionistische »Missionen« reduziert haben, sondern um eine an den Partnern und am Kontext orientierte Hilfe bemüht waren. Für humanitäre Krisen gibt es keine rein humanitären Lösungen. Wer dafür eintritt, muss für Demokratie und soziale Entwicklung streiten – und dies gemeinsam mit den Opfern von Not und Gewaltherrschaft.

Schlußbemerkung

Dem palästinensischen Dichter Mahmoud Darwisch verdanke ich die Idee, Hilfe mit Poesie zu vergleichen. Aber nicht, um die Hilfe zu ästhetisieren, sondern gerade um ihren verborgenen politischen Gehalt zu verdeutlichen. Hilfe kann niemals Verbündeter des Krieges und der Gewalt sein. Wie Poesie dient Hilfe – ihrem Inhalt und Wesen nach – dem Frieden, der Verteidigung der Freiheit, der Solidarität und entspringt dem Mitgefühl untereinander, der gesellschaftlichen Ethik. Auch wenn Hilfe nicht unmittelbar der Parteigänger politischer Realität sein kann, so ist sie doch niemals neutral. Zwischen Krieg und Frieden, zwischen Unterdrückung und Freiheit, zwischen Unrecht und Gerechtigkeit gibt es keine Neutralität.

Allerdings steht Hilfe heute überall auf der Welt unter einem extremen Druck. In Gesellschaften, die im Status quo verharren und sich jeder Erneuerung, die ja Hilfe anstrebt, widersetzen, gerät Hilfe entweder zu einer von zunehmender Irrationalität umfluteten Insel von Solidarität und Empathie oder sie wird selbst Teil dessen, was sich schließlich doch noch erneuert: der Sicherheitsapparate, die den Status Quo schützen sollen.

Thomas Gebauer, geb. 1955, Diplom-Psychologe, Geschäftsführer von medico international, Co-Initiator der »Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen«, zahlreiche Veröffentlichungen zur Politik von Nichtregierungsorganisationen.


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