Von Ramona Lenz
Seit Monaten gehen nahezu täglich Menschen in Deutschland gegen das Sterben auf dem Mittelmeer auf die Straße und fordern ihre Kommunen auf, Städte der Zuflucht und Solidarität für Gerettete auszurufen. Die Reichweite und Ausdauer der „Seebrücke“-Bewegung tröstet und ermutigt angesichts der rassistisch motivierten Gewalt, die zeitgleich wieder ähnlich pogromartige Ausmaße angenommen hat wie zuletzt in den 1990er Jahren. Damals wie heute saßen die verbalen Brandstifter und Brandstifterinnen im Parlament und in bestimmten Redaktionsstuben. Heute bedienen Politiker und Politikerinnen wieder den rechten Mob, wenn sie von „Asyltourismus“ oder „Antiabschiebeindustrie“ reden, während sie gleichzeitig den Abbau des Asylrechts bis zur Unkenntlichkeit vorantreiben und diejenigen kriminalisieren, die Geflüchteten zur Seite stehen.
Im Vergleich zu den 1990er Jahren ist die Politik der Externalisierung und die damit verbundene Auslagerung des Grenzschutzes in Länder jenseits der Europäischen Union inzwischen weit fortgeschritten. Damit wurden auch Rassismus und Gewalt gegen (potentielle) Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen exportiert. Die „europäische Apartheid im Umgang mit Einwanderung und Asylrecht“, die der französische Philosoph Étienne Balibar bereits 2001 konstatierte, spaltet die Menschen nicht erst hier, sondern bereits in Herkunfts- und Transitländern, wo diejenigen, die hier unerwünscht sind, massive Repressionen erfahren. Der alltäglich gewordene Rassismus hier und die auf Externalisierung beruhende Abschottungspolitik von EU und Bundesregierung sind zwei Seiten derselben Medaille. Beiden liegt eine immer offener verfolgte Politik der Verachtung und Entrechtung zugrunde.
Für diesen Artikel haben uns Partnerinnen und Partner aus fünf verschiedenen Regionen innerhalb und außerhalb Europas Geschichten von Menschen erzählt, deren Leben durch diese Politik beeinträchtigt oder gar zerstört wurde. Diese Geschichten zeigen: Das, was auf dem Mittelmeer geschieht, ist nur die Spitze des Eisbergs. Viele Menschen erreichen das Mittelmeer erst gar nicht, weil sie entlang der immer gefährlicher werdenden Flucht- und Migrationsrouten blockiert werden – oder bereits Tausende Kilometer von uns entfernt ihr Leben verlieren.
Der Wüste ausgesetzt: Zwischen Algerien und Mali
Niemand kennt alle Namen und die genaue Zahl der Menschen, die in den letzten Jahren im Mittelmeer ertrunken sind. Noch weniger wissen wir über die Toten der Wüste. In der Sahara sind die Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen nicht nur extremen Temperaturen schutzlos ausgeliefert, sondern auch Gewalt und Kriminalität. Von Polizei, Armee und ausländischen Spezialeinheiten können sie keinen Schutz erwarten. Denn statt die Menschen zu schützen, schützen sie die Grenzen – und das alles mit freundlicher Unterstützung der Europäischen Union.
Seit die Länder Nordafrikas stärker in das Migrationsmanagement der EU eingebunden werden, mehren sich Nachrichten über den menschenverachtenden Umgang mit subsaharischen Migranten und Migrantinnen. So hat Marokko erst kürzlich Tausende Menschen am Mittelmeer aufgegriffen und in der Wüste ausgesetzt. Der Druck auf Marokko, härter gegen Flüchtlinge vorzugehen, hat zugenommen, seit Italien sich weigert, Flüchtlinge aufzunehmen und wieder mehr Menschen versuchen, über das westliche Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Seither haben Spanien und die EU ihre Bemühungen verstärkt, Marokko zum Türsteher Europas zu machen. Auch algerische Sicherheitskräfte haben in den letzten Jahren immer wieder Menschen in die Wüste deportiert. Zehntausende, darunter schwangere Frauen und unbegleitete Minderjährige, wurden so ohne Wasser und Nahrung ihrem Schicksal überlassen. Viele kommen dabei um. Andere schlagen sich irgendwie durch, auch bis ins weit entfernte Bamako im Süden Malis, wie die medico-Partnerorgansiation Association Malienne des Expulsés (AME) berichtet, die sich um die Deportierten aus europäischen wie afrikanischen Ländern kümmert. Darunter oft Jugendliche wie der 17-jährige Doumouyatiè aus Guinea.
Doumouyatiè ist auf seiner Migrationsroute Richtung Norden quer durch die malische und algerische Sahara bis nach Algier gelaufen. Unterwegs hat er erleben müssen, wie mehrere seiner Mitreisenden vor Müdigkeit liegen blieben und starben oder ausgeraubt und ermordet wurden. Er selbst hat all sein Geld auf der Route verloren und schlug sich in Algerien mit Gelegenheitsjobs durch. Vier Monate nach seiner Ankunft in Algier wurde er gemeinsam mit anderen subsaharischen Migranten und Migrantinnen von der Polizei aufgegriffen. Die Menschen wurden in Lastwagen zusammengepfercht und zurück an die malische Grenze gebracht, wo die Sicherheitskräfte sie ohne Wasser und Orientierung mitten in der Wüste aussetzten. Vollkommen auf sich allein gestellt, retteten sich einige der Deportierten in die malische Hauptstadt Bamako, wo sie von der AME in Empfang genommen wurden. Wie der Jurist Mamadou Konaté von der AME berichtet, hat Doumouyatiè sich nach den furchtbaren Erlebnissen, die er nur knapp überlebt hat, entschieden, nicht sobald wieder in Richtung Norden aufzubrechen, sondern erstmal nach Guinea zurückzukehren. Er weiß allerdings, dass er dort nur bleiben kann, wenn er für sich und seine Eltern einen Weg findet, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wie das gehen soll, weiß er nicht.
Blockiert und ausgebeutet: Überleben im Niger
Am 1. Juni 2018 eröffnete die medico-Partnerorganisation Alternative Espace Citoyens (AEC) in Agadez, einem wichtigen Drehkreuz der Migration in der Wüste Nigers, ein Büro. Hier stellt die Journalistenvereinigung unabhängige Informationen zur Verfügung und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen. Zwanzig Journalistinnen und Journalisten erhielten eine Fortbildung und werden in Kürze an verschiedenen Orten entlang der Routen Gefahren und Repressionen dokumentieren, um sie sowohl Migrantinnen und Migranten als auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Seit auf Druck der EU ein Gesetz in Kraft getreten ist, dass Schlepperei unter hohe Strafen stellt, hat sich die Situation in Agadez und auf der Route nach Norden noch einmal verschlimmert. Die Transporteure weichen auf gefährlichere (und damit teurere) Routen aus, um Kontrollen zu umgehen. Entlang dieser Routen gibt es aber auch keine Wasserstellen. Wer dort vom Pickup fällt, hat keine Überlebenschance. „Durch die Kriminalisierung der Transporteure ist die nigrische und libysche Wüste noch einmal mehr zu einer Todesfalle für Transitmigranten und -migrantinnen geworden“, erklärt Ibrahim Diallo, der Leiter des von medico geförderten Alarme-Phone-Sahara-Büros.
Aufgrund der zunehmend blockierten Routen gen Norden sitzen Tausende Migranten und Migrantinnen nun in Agadez fest. Sie können nicht vor und nicht zurück. Ihr Alltag ist von einem harten Überlebenskampf bestimmt. Ibrahim Diallo hat mit Francesca gesprochen, einer 19-jährigen Nigerianierin, die in einem der Gettos am Rande von Agadez lebt. Gettos nennen die Migrantinnen und Migranten die heruntergekommenen Unterkünfte, in denen sie hausen. Jede Nacht geht Francesca in die Bars im Stadtzentrum, um sich zu prostituieren. „Wenn mir früher jemand gesagt hätte, du wirst eine Nutte sein, hätte ich ihn geohrfeigt“, sagt sie. „Aber heute wüsste ich nicht, wie ich sonst überleben soll. Wenn ich das nicht mache, werde ich verhungern. Nach Hause kann ich nicht zurück und weiter nach Libyen komme ich auch nicht, seit die Weißen unsere Routen blockieren.“
Ein Notruf, der ungehört blieb: In der Ägäis
Seit die EU mit allen Mitteln daran arbeitet, die zentrale Mittelmeerroute für Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen unpassierbar zu machen, kamen in diesem Jahr auch wieder mehr Menschen über die Ägäis und die Landgrenze in der Evros-Region nach Griechenland. Insbesondere auf den griechischen Inseln, die seit dem EU-Türkei-Deal von 2016 für viele Menschen zu einer Sackgasse geworden sind, sind die Lebensbedingungen für Geflüchtete miserabel. Und immer wieder kommt es an den See- und Landesgrenzen zu dramatischen Situationen. So am 16. März 2018, wie unsere Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) berichtet.
Am frühen Morgen des 16. März 2018 starten Flüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan von der türkischen Küste aus in Richtung der kleinen, rund zwanzig Kilometer entfernten griechischen Insel Agathonisi. Das Steuer übernehmen zwei türkische Männer. Ein Sohn der afghanischen Familie hatte bereits zwei Monate zuvor die Überfahrt gewagt und saß seither im überfüllten Hotspot auf Samos fest. Als das Boot die türkische Küste verlässt, wird er von seiner Schwester, der jungen Anwältin Freshta, über WhatsApp informiert. Kurz bevor die Familien das rettende Ufer erreichen, kommt es zu einem schweren Schaden am Boot. Es gelingt Freshta gerade noch, panisch ihrem Bruder die Koordinaten des Bootes zu schicken und Hilferufe an weitere Angehörige loszuschicken. Kurz darauf kentert das Boot. Auf Samos alarmiert der wartende Sohn sofort Polizei und Küstenwache. Er gibt in mehreren Telefonaten die Koordinaten des Bootes und seine persönlichen Daten durch, schickt Nachrichten und spricht mit der Polizei. Doch er wird abgewimmelt. Er versucht es immer und immer wieder. Umsonst. Erst 24 Stunden nach dem ersten Notruf startet die Rettungsoperation. Nur zwei Männer und eine Frau überleben die Bootskatastrophe, bei der sie ihre engsten Familienangehörigen verloren haben. Vier Jungen, zwei Mädchen, ein Säugling, sieben Männer und zwei Frauen kommen ums Leben. Auch Freshta ist unter den Toten. Drei Menschen bleiben vermisst.
Kurz nach der Katastrophe treffen eine Anwältin, eine Sozialarbeiterin und ein Übersetzer von RSA, die medico gemeinsam mit Pro Asyl unterstützt, die Überlebenden auf Samos. Sie leisten psychologische Unterstützung sowie rechtliche Beratung über den Ablauf des Asylverfahrens. Die Überlebenden und Angehörigen haben inzwischen Klage wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die griechische Küstenwache eingereicht und werden dabei von RSA vertreten.
Zerrissene Familien: Zwischen Deutschland und dem Libanon
Seit Beginn des Krieges suchen syrische Flüchtlinge im Libanon Schutz. Offiziell leben rund eine Millionen Menschen aus Syrien im Libanon. Inoffiziell sind es vermutlich deutlich mehr. Zusammen mit den palästinensischen Flüchtlingen macht die syrische Diaspora rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung im Libanon aus. Viele Flüchtlinge leben in provisorischen Zeltstädten aus Plastikplanen am Rande der Städte oder auf Feldern. Flüchtlingsfamilien im Libanon sind oftmals zerrissen, weil Angehörige in Richtung Europa vorausgegangen sind. In Deutschland sind 22.000 Anträge auf Familienzusammenführung aus dem Libanon registriert – mehr als aus jedem anderen Land. Die libanesische medico-Partnerorganisation AMEL, eine nichtkonfessionelle basismedizinische Hilfsorganisation, versorgt Flüchtlinge in der Bekaa-Ebene und den schiitischen Vorstädten von Beirut. Dabei werden sie auch mit dem Schicksal zerrissener Familien konfrontiert. Wie im Fall von Ahmed, der AMEL wegen seines kranken Bruders kontaktierte.
Ahmed floh 2016 mit seiner Familie vor dem Krieg in Syrien nach Libanon. Die Familie versuchte, direkt von dort mit dem Boot nach Europa zu gelangen, doch das Boot sank. Ahmed, seine Frau und die beiden heute zehn und sechs Jahre alten Söhnen blieben unversehrt. Da sie ihre Pässe bei dem Unglück verloren hatten, mussten sie zurück nach Syrien, um sich neue ausstellen zu lassen. Dabei wurde Ahmed verhaftet. Seine Frau kümmerte sich in seiner Abwesenheit um Visa für Spanien, die sie schließlich auch bekam. 2017 reiste sie mit den Söhnen aus. Verwandte holten sie aus Spanien nach Deutschland, wo die drei Asyl beantragten. Ahmed wurde inzwischen aus dem Gefängnis entlassen und floh erneut in den Libanon. Er lebt in Beirut und leidet unter den mentalen und physischen Folgen der Folter, die er im Gefängnis erlitten hat, sowie unter der Trennung von seiner Familie. Jegliche Versuche, zu seiner Familie nach Deutschland zu kommen, sind bislang gescheitert.
Seit 1. August 2018 ist in Deutschland das Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in Kraft. Damit wurde für diese Gruppe der grundsätzliche Rechtsanspruch auf den Nachzug von nahen Angehörigen abgeschafft. Zugleich wurde die Zahl der Berechtigten auf 1.000 pro Monat beschränkt. Wer zu den 1.000 Auserwählten pro Monat gezählt wird, ist Ermessensfrage.
Geschlagen und ausgeraubt: An der Grenze zu Kroatien
Die so genannte Balkanroute gilt seit langem als geschlossen und damit die „Flüchtlingskri se“ von 2015 aus der Sicht Kerneuropas als gelöst. Doch nach wie vor hängen Tausende von Menschen an verschiedenen Grenzen in Südosteuropa fest und versuchen immer wieder, sie zu überqueren. Die meisten haben mehrere, meist äußerst brutale Pushbacks durch Grenzbeamte hinter sich. Die gewaltsame Umsetzung der europäischen Grenzschutzpolitik zeigt sich beispielsweise in Bosnien und Herzegowina, wo in den letzten Wochen mehr und mehr Geflüchtete stranden. Meist sind die Menschen vollkommen auf sich allein gestellt. Es gibt kaum Hilfe von staatlichen Stellen oder nichtstaatlichen Organisationen.
medico fördert seit 2015 ein transnationales Netzwerk von Aktivisten und Aktivistinnen, die unter dem Namen „Moving Europe“ Flüchtlinge entlang der sogenannten Balkanroute unterstützen. Noch immer sind einige von ihnen entlang der Fluchtroute durch Südosteuropa solidarisch aktiv. Derzeit arbeiten sie an der interaktiven Plattform „Pushback-Mapping“, die im Herbst online gehen wird. Darauf werden Rechtsbrüche und systematische Gewalt an Europas Grenzen visualisiert, auch um mithilfe der Dokumentation spätere Klage- und Asylverfahren zu unterstützen. Eine Gruppe von Aktivisten und Aktivistinnen aus Zagreb hat den folgenden Fall eines jungen Mannes aus Afghanistan dokumentiert, der nach mehreren gescheiterten Versuchen des Grenzübertritts wieder in Velika Kladuša gelandet ist, einer Kleinstadt im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina, die zu einem Nadelöhr auf der Fluchtroute durch Südosteuropa geworden ist.
„Heute Abend haben wir versucht, die slowenische Grenze zu erreichen. Wir waren vierzehn in der Gruppe. Die kroatische Polizei hat uns im Wald gefangen genommen. Sie haben ihre Waffen benutzt, um uns aufzuhalten. Wir waren verängstigt. Sie zwangen uns, uns mit über dem Kopf ausgestreckten Händen auf den Bo den zu legen. Zwei Stunden mussten wir in dieser Position verharren. Auch eine Familie mit Kindern war dabei. In der Zwischenzeit haben uns vier Polizisten durchsucht, unser Geld gestohlen und unsere Telefone zerstört. Wir wurden auch geschlagen. Einer meiner Freunde ist schwer verletzt. Wir hatten zu viel Angst, um Asyl zu beantragen. Dann haben sie uns in einen fensterlosen Transporter gesetzt. Ein oder zwei Stunden mussten wir in dem Transporter warten. Es gab kaum noch Sauerstoff. Sie fuhren uns zur Grenze zurück. Mit Polizeistöcken und einem Hund verscheuchten sie uns. Eben sind wir wieder in Velika Kladuša angekommen. Nun haben wir keine Telefone mehr und kein Geld und können nicht einmal mehr unsere Familien kontaktieren. Für mich war es der sechste Versuch, Kroatien zu durchqueren. Ich habe keine Wahl, ich werde es wieder probieren.“
Die Geschichten, wie gefährdete Partner aus Syrien immer wieder unter haarsträubenden Bedingungen versuchen, die Grenze zur Türkei zu überwinden, finden Sie hier.
Die Beschäftigung mit Flucht und Migration ist bei medico in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt sowohl der Projekt- als auch der Öffentlichkeitsarbeit geworden. Unter dem Motto „Für das Recht zu gehen und das Recht zu bleiben“ fördert medico auf der einen Seite die Solidarität mit Geflüchteten und Migrierenden auf ihren Wegen. Auf der anderen Seite rückt medico immer wieder die strukturellen Ursachen, die Menschen zum Aufbruch bewegen, in den Fokus.
<link jetzt-spenden>Spendenstichwort: Flucht und Migration
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!