Aus historischem Blickwinkel wird deutlich, dass Gesundheit immer zweierlei ist: sie ist einerseits Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung, andererseits aber Teil des Motors dieser Entwicklung. Die Leitbilder, die sich in der Idee der Gesundheit spiegeln, zielen aber nicht nur auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Realität, sondern umfassen auch Vorstellungen von einem perfekten Zustand menschlichen Lebens. Exemplarisch kommt das in der vielbeachteten Gesundheitsdefinition der WHO zum Ausdruck, die Gesundheit als den "Zustand eines vollständigen physischen, seelischen und sozialen Wohlbefindens" begreift. Zu Recht ist dieser Begriff immer wieder kritisiert worden. Denn selbstverständlich zählen auch körperliche Gebrechen, geistige Behinderungen, das Älterwerden und an seinem Ende auch der Tod zum Leben selbst. Wer sie zugunsten eines vorgeblichen "Wohlbefindens" eliminieren wollte, eliminierte das Leben selbst.
Je nach Perspektive, kann die Idee des "vollständigen Wohlbefindens" so als einschränkende Norm oder als Aufruf zur Veränderung verstanden werden. Aus der Perspektive des Elends wird das Bemühen um Veränderung klar: Es geht darum, Gesundheit in einem umfassenden Sinne herzustellen und dabei deutlich zu machen, dass es nicht reicht, nur Krankheit und Tod zu verhindern, ohne auch das Leben zu verbessern. Gesundheit, daran lässt die WHO mit ihrer Definition keinen Zweifel, ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit – und mit ebendiesem Anspruch kümmern sich lokale Initiativen, soziale Bewegungen, politische Parteien und engagierte Gesundheitsarbeiter um Veränderung. Sie drängen auf soziale Verhältnisse, in denen das Recht auf Gesundheit im Sinne eines gleichen Zugangs aller zu Gesundheit und im Sinne gesundheitsförderlicher Verhältnisse verwirklicht ist. Aus dieser Sicht ist Gesundheit aufs Engste verknüpft mit emanzipatorischen Zielen.
Auf der anderen Seite steht ein Gesundheitsbegriff, in dem vor allem staatliche und wirtschaftliche Interessen zum Ausdruck kommen. Gesundheit meint hier u.a. die Wehr- und Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung oder eine bis ins hohe Alter fortbestehende Bereitschaft zum Konsum von Waren, zu denen nicht zuletzt die immer größer werdende Palette von Gesundheitsangeboten selbst zählt. Aus dieser Perspektive entpuppt sich die Idee "vollständiger" Gesundheit nicht als Teil von Emanzipation, sondern meint deren Gegenteil: Disziplin, Kontrolle und Steuerung. Dann sind es nicht mehr freie Entscheidungen, die menschliches Verhalten leiten, sondern gesellschaftliche Normen, Moralvorstellungen und Profitinteressen. Unter solchen Umständen verwandelt sich das Recht auf Gesundheit in eine Verpflichtung zur Gesundheit. Man muss gesund bleiben, um hochflexibel dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen und den Sozialversicherungsträgern dabei möglichst nicht zur Last zu fallen. Wenn heute von Gesundheit die Rede ist, geht es also immer sowohl um Kontrolle als auch um Befreiung.
Ob Ernährung, Mobilität oder Sexualität – längst geht es ja immer auch um Fragen der Gesundheit. Essen ist kein privater Genuss mehr, sondern wird zur öffentlich verhandelten Aufnahme von bis in Milligrammbereiche hinein analysierten Nahrungsmittelbestandteilen. Die Existenz von Aufzügen und Rolltreppen, die in frühsozialistischen Gesellschaftsentwürfen noch als Beleg für die Befreiung von Mühen galt, wird zum Symptom pathologischer Bewegungsarmut. Und Sexualität meint nicht mehr allein Erotik und Befriedigung, sondern das Risiko lebensbedrohender Erkrankungen. Es stimmt, dass Gesundheit im Alltag entsteht, und doch birgt gerade die Allgegenwart gesundheitlicher Aufklärung die Gefahr, dass Aufklärung in neues Unheil umschlägt. Die Gefahr, dass Gesundheit zu einem Bestandteil der Zurichtung und Beherrschung von Menschen wird, ist dort besonders groß, wo zugleich auch ökonomische Interessen im Spiel sind.
Rauchen, Bewegungsarmut, Dickleibigkeit – all das kann heutzutage mit Ächtung am Arbeitsplatz, schlechterer Gesundheitsversorgung und schließlich auch höheren Versicherungsprämien bestraft werden. Gerade in modernen Gesellschaften wird Gesundheit zunehmend repressiv "von außen" verordnet. Das Ziel ist nicht Autonomie, sondern die Verwandlung der Menschen in asketische Maschinen, die vor allem eines gewährleisten: einen störungsfreien und deshalb gut zu kalkulierenden Produktionsprozess. Unter solchen Umständen ist der menschliche Körper nicht mehr Teil einer schützenswerten Privatsphäre, sondern Gegenstand biopolitischer Kontrolle – und schließlich der Verwertung selbst. Wo Rendite und Disziplin über den Menschen gestellt werden, ist der Weg von der Gesundheitsgesellschaft in eine Gesundheitsdiktatur nicht mehr weit.
Schon heute sind Tendenzen moderner Eugenik auszumachen, die "Volksgesundheit" über einen Mix aus politischem Zwang, sozialer Kontrolle, der Verinnerlichung ultimativer Gesundheitsvorstellungen und gentechnischer Eingriffe herstellen will. Von vielen unbemerkt, verwandelt sich das "Märchen ewiger Gesundheit" in die negative Utopie einer Gesellschaft, die "Gesundheit" nutzt, um Kontrolle und Repression zu verewigen.
Aus: Global – Gerecht – Gesund? - Fakten, Hintergründe und Strategien zur Weltgesundheit
Ein Attac-Basistext, verfasst von medico international, VSA-Verlag Hamburg, 2008
ISBN: 978-3-89965-293-2