Bemerkungen eines hoffnungsvollen Pessimisten

01.06.2003   Lesezeit: 6 min

Fünfte Bemerkung

In gewisser Hinsicht war dieser Krieg eine ökologische, materielle, politische und kulturelle Katastrophe für die Araber. Sie zeigt ungeschminkt, daß weder der Ruf nach arabischer Bruderschaft noch der Islam ihnen mehr hilft, ihre Niederlage zu mildern oder zu vertuschen. Sie werden kolonialisiert, als hätten sie 50 Jahre lang nichts dagegen gemacht. Sie haben auch nichts gemacht. Geschichte ist kaltblütig und kennt keine Sentimentalität. Wer stehen bleibt, wird niedergewalzt. Auf der anderen Seite ist dieser Krieg eine Strafe auch für Europa. Fünfzig Jahre hat Europa vergeudet, obwohl seine Interessen und seine engmaschigen Beziehungen ein Handeln erforderten. Europa ist nicht Amerika. Unsere Gegenden trennt kein Ozean, sondern eine lange Beziehung verbindet sie. Statt einen Wandel durch kritische Annäherung zu vollziehen, um im gesamten Mittelmeerraum einen freiheitlichen Geist in demokratischen Ländern mit höchst produktiven multinationalen Projekten zu schaffen, überließ Europa fast beschämt und gelähmt das Feld anderen. Die Europäer stürzten sich auf rein wirtschaftliche, nicht selten bedenklich einseitige Lieferungen von Europa Richtung Mittelmeer. Jeder, der zahlte, bekam, was er bestellt hatte, ohne einmal gefragt zu werden, wofür. Manchmal nahm das kriminelle Ausmaße an. Die Sowjets schickten Juden nach Israel und lieferten den Arabern Waffen. Damit disqualifizierte sich Europa als Partner der Völker. Und weil es an einem humanistischen Angebot der Zusammenarbeit fehlte, das aufklärend und aufrüttelnd auf die Völker hätte wirken können, konnten sich die Herrscher in die Arme der Amerikaner werfen. Dabei hätte es Alternativen gegeben. Osteuropa war hundertmal gefährlicher und gefährdeter in ewiger Abhängigkeit zu verharren. Es gab dort kontinentale Atommächte, die rational organisiert waren mit allen Schikanen einer Staatspartei und gewappnet mit den besten Geheimdiensten der Welt. Die Bevölkerung war gelähmt, doch der Wandel kam, und als die Völker dort erkannten, daß ihre Stunde gekommen war, standen sie auf und ergriffen die Initiative. Damals hat Westeuropa durch eine kritische Annäherung große Hilfe geleistet. In Bezug auf den Orient heuchelte Europa. Es stellte sich blind gegenüber den berechtigten Forderungen der Palästinenser, der Kurden und der Frauen. Es handelte lieber mit Diktatoren als mit deren Opposition, lieferte harmonisch geeint von Russland bis Spanien sowohl Waffen als auch Elektronik. In vielen Regimen setzten die Folterer in den Kellern der Geheimdienste westliche Technik unter Aufsicht osteuropäischer Offiziere ein. Manchmal war der Gefolterte ein Kommunist oder ein liberaler Mensch, der für die Rechte der Minderheiten eintrat. Während dieser Zeit hatte die demokratische Opposition kein Geld, kein Hinterland, nicht einmal eine mechanische Schreibmaschine. Ihre Anhänger bekamen weder Asyl noch Sender.

Ein Diktator stürtzt nicht durch ein Embargo, sondern durch die Stärkung der Opposition und durch seine absolute Isolation von allem, was seine Macht stärkt. Also genau durch das 100%ige Gegenteil dessen, was man mit Saddam Hussein gemacht hat. Man stürzt diesen Diktator nicht, indem man die Iraker hungern und eine Million infolge der Unterernährung sterben läßt, während Saddam acht Paläste hat! Seine Mittäter konnten sogar Raketen entwickeln und sich der besten Anzüge, Autos, Zigarren und Parfums erfreuen. Woher kam das Material? Wie konnte all das an den ach so präzise arbeitenden Spionagesatelliten vorbeigeschleust werden? Keine Gruppe der Opposition war für das Embargo, sie litten selbst darunter. Die Europäer und die Völker des Orients müssen, weil es das Leben aller direkt bedroht, gemeinsame Wege suchen, sie müssen die Diktatur und Massenvernichtungswaffen ächten und einem Diktator sofort zeigen, daß niemand mehr mit ihm zusammenarbeitet. Das wäre ein Bund der Menschlichkeit. Die Menschen müssen denen, die unter eine Diktatur geraten, zeigen, daß alle Nachbarn zu ihnen stehen, müssen ihnen Mut machen, Informationen und die Logistik zur Verfügung stellen, bis diese den Diktator aus eigener Kraft vertreiben können. Europa hätte damit im positiven Sinne seiner humanistischen Tradition Rechnung getragen und eine der interessantesten, reichsten und schönsten Gegenden der Welt zu einem zuverlässigen Partner gemacht. Wer mit einer Diktatur zusammenarbeitet, sollte wissen, daß er sich selbst zum Täter macht. Man muß ihn als solchen behandeln. Es geht nicht an, daß man vorgibt, ein Regime zu bekämpfen, und dessen Propagandisten und wirtschaftliche Stützen empfängt, als wären sie nicht beteiligt. Wir müssen unseren bisherigen Weg kritisch betrachten und überdenken. Wir können nicht Mißstände, die seit 40 Jahren andauern, innerhalb zweier Wochen beheben. Auch das größte Imperium kann die Erde nicht gegen den Willen ihrer Bewohner beherrschen. Deshalb wird der Krieg keine Probleme lösen. Im Gegenteil, er wird neue Probleme schaffen. Deshalb sollten wir heute schon anfangen, geduldig neue Wege der Zusammenarbeit zu suchen. Im Arabischen hat das Wort Geduld nichts mit dulden zu tun. Geduld bedeutet Mut, Durchhalten und Widerstand. Der Begriff hat auch mit der Wüste zu tun – die Geduld und der Kaktus sind sprachlich miteinander eng verwandt. Diesen Weg müssen wir gemeinsam gehen. Wir werden stolpern und vielleicht manchen Schritt rückgängig machen, weil wir erst lernen müssen, unabhängig zu sein und zu handeln.

Die Deutschen sind zurzeit wieder dabei, eine historische Einmaligkeit zu verkennen. Meine geliebten deutschen Landsleute sind Experten im Verkennen ihrer Genies. Willy Brandt war weltweit anerkannt, am wenigsten jedoch in Deutschland. Zum ersten Mal in der Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg widerspricht mit Gerhard Schröder ein deutscher Politiker der amerikanischen Politik, ohne antiamerikanisch zu sein. Die Kritiker verkennen die Aufgabe der Stunde: Europäische Verantwortung tragen, dem Bündnispartner mit Offenheit begegnen und Alternativen aufzeigen, auch wenn sie ein Partner nicht mehr mitträgt. Amerika beginnt und endet nicht bei Bush. Wer um jeden Preis berechenbar bleibt, mit dem ist nicht mehr zu rechnen. Wenn aber die Haltung der Europäer Bestand haben soll, dann darf sie nicht bei der lobenswerten und mutigen Ablehnung des Krieges stehen bleiben. Sie muß Alternativen für den nächsten Schritt, für ein anderes Leben der Völker miteinander zeigen. Es gibt einen berechtigten Anlaß zur Hoffnung: Millionen demonstrierten entschieden gegen Bush und Blair, ohne auch nur eine Sekunde für Saddam Hussein zu stehen. Das nennt man die vollkommene Kunst der Demokratie. So etwas hat es noch nie gegeben. Diese Demonstrationen zeigen aber auch, daß die Medien der Herrscher ein völliges Desaster erleben. Es zeigt, daß sie, wenn sie mit der Verdummung der Menschen weiterarbeiten, irgendwann ihr eigenes Grab schaufeln. All diese Demonstrationen ermuntern mich, den rassistischen Spruch Henry Kissingers umzudrehen und auszurufen: »Die Freiheit, die Demokratie und das Erdöl sind zu lebensnotwendig, zu wichtig, um sie der CIA zu überlassen.« Man muß damit anfangen, die Grundlagen einer kritischen Annäherung zu erarbeiten, deren Kernpunkt der Mensch ist. Diese kann die EU zu Voraussetzung jedweder Zusammenarbeit mit allen Ländern des Orients machen.

Vortrag auf dem 9. Bundeskongreß für politische Bildung (2003). Der Volltext der »Sieben Bemerkungen« Rafik Schamis kann über www.bpb.de eingesehen werden.

Rafik Schami, geboren in Syrien, lebt seit 30 Jahren in der BRD. Er ist unter anderem Autor von Kinder- und Jugendbüchern und engagiert sich seit vielen Jahren für eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern.


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