Eigentümer seines Körpers zu sein, wie die Philosophie des aufgeklärten Liberalismus es will, wird allmählich sehr anstrengend. Es ist zuviel, was ihm zugemutet wird, was er tragen soll: an Bedeutung und Ausdruckskraft, heute Identität genannt, an fortwährender Präsenz und Öffentlichkeit, an Genußfähigkeit. Das macht die Freiheit fragwürdig, die das Eigentum am Körper gewähren soll. Nun breitet sich Unruhe darüber aus, ob man über den Körper noch verfügt, ob er Akteur und Adressat von Freiheiten sein kann, autonom. Er verliert ja auch sichtlich an Kontur und Bestimmtheit – ebenso wie die soziale Welt, in der er sich bewegen muß. Zugleich winken und drohen überall verlockende Angebote, das Körpereigentum zu stärken und seinen Wert zu vermehren: den Körper mit mehr Sicherheit und Dauer zu versehen, ihm Harmonie der Gestalt zu verleihen, ihn in einer Nachkommenschaft mit optimaler Ausstattung zu bestätigen. Die Wertsteigerung des Körpereigentums durch die zahlreichen Investitionen, zu denen der technische Fortschritt auffordert, verschafft freilich keinen vermehrten Genuß. Im Gegenteil, man muß um so empfindlicher wahrnehmen, daß die Privatheit dahinschwindet. In der liberalen Marktgesellschaft mußte der Körper als ein Eigentum besessen werden: Es sollte niemand gezwungen sein, sein Leben vertraglos anderen zu deren Genuß zur Verfügung zu stellen. Dazu war Privatheit verlangt, die vor unerwünschten Einblicken in den Körper schützte, andererseits den Besitzbürger fähig machte zur Assoziation. Nur so konnte schließlich der Sozialstaat, namentlich durch seine Versicherungsorganisation, seine Solidaritätstechnik an den Körper heften: Indem man ihm seine Privatheit ließ, konnte er in seinen Defekten und Zufälligkeiten geschützt und sozialfähig gemacht werden. Alles in allem war das eine nicht unelegante Konstruktion des politischen Liberalismus, um dem Körper, dem weiterhin undurchsichtigen und unerklärten, eine sinnvolle Funktion im aufsteigenden Kapitalismus zuzuweisen. Der bürgerlich-kapitalistische Körpereigentümer, der in diesem Eigentum seine Freiheiten erwirbt und genießt, und der nackte Körper der Eigenschaftslosen in den Lagern – sie stehen nicht gegeneinander. Gemeinsam erst geben sie der nächsten Utopie ihr Relief. Die Utopie von der vollkommenen Gesundheit im harmonischen & selbstbeherrschten Körper will freilich von beiden nichts wissen. Sie denkt nicht an eine Gesellschaft, die Freiheit braucht. Das macht sie, der Markt und Technik mächtig in die Segel blasen, nur um so attraktiver.
Angebotsökonomie der neuen Eugenik
Die Eugenik ist nicht mehr bloß Bedrohung, sie ist unauflöslich in den Zivilisationsprozeß eingelassen und setzt seine nächste Finalität. Das anzuerkennen weigern sich die zahlreichen Ethikkommissionen, die sich um globale Konventionen bemühen. Viele ihrer Gebote und Verbote sind rückwärts gerichtet, auf die Verhinderung einer negativen Eugenik, die noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgelebt hat. Es ist noch immer die Eugenik des Industriezeitalters gemeint, wenn etwa die Gentherapie an der Keimbahn oder Forschungen über die Ektogenese gebannt bleiben. Spielt dabei zwar auch die Unterbindung einer embryonenverbrauchenden Forschung eine Rolle, so sind die Imperative dieser Kommissionsethik vor allem auf Bewahrung gerichtet. Die in das totalitäre Jahrhundert zurückblickende Abscheu gegen Rassenhygiene & Züchtungswahn ist jedoch heute nur noch nachholende Bewältigung. Der neuen Eugenik sind die politischen, noch immer auf Gesetzgebung und entscheidungsleitende Öffentlichkeit zielenden Apparate, nicht mehr gewachsen. Sie wird daher auch von der Kompetenz der Ethikkommissionen nicht erreicht. Diese gehören selber zu den Institutionen, die sich die neue Eugenik umzustürzen anschickt. Die Ethikkommissionen und die organisierte Wissenschaft sind zum Verschweigen ihrer Ahnungen verurteilt, weil sich über die Durchsetzungsformen der neuen Eugenik, über ihre soziale Gestalt, einstweilen nicht akzeptabel spekulieren läßt. Doch ist die Prozeßlogik bereits erkennbar. Sie konstruiert sich aus vorgezeichneten technischen Fortschritten, aus den Überlebenszwängen einer risikoökonomisch getriebenen Weltgesellschaft und aus den Folgen des Institutionenverfalls. Nicht zuletzt aus dem hemmungslosen Glücksverlangen der Individueen, das sich die reichen Gesellschaften des Nordwestens leisten. Der Forderung nach vollkommener Gesundheit – der UN-Formel zufolge: nach Abwesenheit jeder physischen, psychischen und sozialen Behinderung individueller Entfaltung – kann sich auf Dauer niemand widersetzen, da sie mit dem Markt und seiner Angebotsdynamik im Bunde ist. Die Drift zur Eugenik ist schon deswegen unaufhaltsam, weil sich niemand, der im Markt und in staatlicher Ordnung lebt, der Notwendigkeit der fortwährenden Prognose seiner biologischen Erwartungen entziehen kann. Der Zwang zur individuellen Prognose wiederum verstärkt sich mit der Diversität und der Verfügbarkeit der Tests, die sich aus der Erschließung des Genoms ergeben.
Mit dem rasch anwachsenden Angebot von biotechnischen Tests verlieren die Individuen die Unschuld der Unwissenheit von ihrem Körper. Zur Prognose, die sich aus der Genomanalyse entfaltet, treten die Neurowissenschaften, deren Kontroll- und Prognosekompetenz ebenfalls rasch zunimmt und Anerkennung erzwingt. Schließlich sind Psychotests aller Art weithin zur Selbstverständlichkeit geworden. Indem sie sich ständig ihrer Prognose aussetzen, werden sie zur Marktreife – für die Teilnahme an der Eugenik – erzogen.
Die US-Amerikaner gehen auch hierin voran. Bei 50% der Einstellungsgespräche haben die Arbeitnehmer biologische Testdaten vorzulegen, in der Industrie werden von 20% heute gentechnische Tests verlangt. Da für 80% der amerikanischen Arbeitnehmer die Unternehmer die Krankenversicherungskosten tragen und diese gemeinsam mit den Versicherungen festlegen, wird akzeptiert, daß damit so ökonomisch wie möglich gewirtschaftet wird. Eine besondere kapitalistische Pointe ergibt sich daraus, daß die Rückstellungen für die Krankenversicherung ebenso wie für die Pensionen in Fonds eingebracht sind, die zu den potentesten Anlegern auf den Weltfinanzmärkten gehören, sich im Interesse ihrer Klienten auf den shareholder value konzentrieren müssen – und heute besonders gerne in die pharmazeutischen Industrien investieren werden. Also in die Biotechnik und die Testindustrie – gewissermaßen ein kompletter kapitalistischer Kreislauf. Das ökonomische und soziale Gelände für die Eugenik ist also vorbereitet. Auf ihm wird sich bis etwa zum Jahr 2010 folgendes ereignen: Es werden, nachdem spätestens im Jahr 2006 das Humangenomprojekt abgeschlossen sein wird, also das Inventar aller Träger von Erbeigenschaften, Therapien für mehrere Massenkrankheiten, deren veranlassende Gene bereits lokalisiert sind, auf dem Markt sein. Dazu gehören Diabetes, der arterielle Hochdruck, die Myopathie, die Fettleibigkeit – von der heute 15 bis 20 Prozent der Europäer und Nordamerikaner befallen sind –, mehrere Krebsformen, darunter der Brustkrebs. Das sind zumeist polygene Krankheiten, die auch durch Umweltfaktoren bedingt werden. Sie sind also am Gen allein nicht zu beseitigen, aber am Gen wird angesetzt werden müssen. Man wird bis dahin auch Gene gefunden haben, die mehr oder weniger pathologische Charaktereigenschaften steuern, etwa die Langlebigkeit. In spätestens zehn Jahren wird auch die Technik der präkonzeptionellen Geschlechtsbestimmung perfektioniert sein. Das ist ein besonders drastisches Beispiel für den plötz- lichen Konstitutionswandel von der negativen zur positiven Eugenik. Was insbesondere für Indien, wo Geschlechtswahl durch Tötung weiblicher Embryos noch heute massenhaft geübt wird, von Belang ist, wird dann auch im Westen, wo man solches bisher nur ausnahmsweise betreibt, gerne akzeptiert werden. An diese Technik schließt sich im übrigen auch die gezielte Weitergabe von erwünschten Erbeigenschaften an, etwa des Pigmentgehalts der Haut oder der Körpergröße. Schon die präkonzeptionelle Geschlechtswahl führt, nunmehr schuldbefreit, wenn auch nicht ohne Preis, nämlich über den Markt, weit in die Eugenik hinein. Sie wird am Ende auch keiner therapeutischen Rechtfertigung mehr bedürfen. Sie stellt, im Unterschied zu den Gentherapien, eine kassenfreie Eugenik dar. Vermutlich wird auch schon im nächsten Jahrzehnt mit einem Tabu der Bioethik gebrochen werden, der Keimbahntherapie, die von allen heutigen Gesetzen und Konventionen untersagt ist. Der Anstoß dazu wird voraussichtlich von den polygenen, mit Verhaltensweisen und Umwelt verbundenen Massenanomalien gegeben werden. Es könnte sich nämlich erweisen, daß die bislang allein erlaubte Körperzellentherapie, also die Heilung nur am Individuum, zu aufwendig und zu kompliziert ist oder daß die Patienten nicht von Generation zu Generation eine Prozedur mitmachen wollen, die sich durch einmalige Be- handlung an der Keimbahn erübrigen läßt. Die massenhafte Marktnachfrage könnte also die Aufhebung eines Verbots legitimie-ren, das vor allem mit der Abwehr einer melioristisch motivierten Eugenik begründet wird. Bleibt freilich die zweite Begründung des Verbots: das unbekannte Risiko von gefährlichen Synergien bei der Ausschaltung von mehreren Erbdefekten, die an großen Populationen auftreten. Dies mag partiell eine technische Barriere sein, doch kann sie nur auf Zeit der Finalität Widerstand leisten, die in der Genomanalyse angelegt ist:
der sukzessiven, durch Markt und freie Entscheidung der Individuen gesteuerten Veränderung des Genomdesigns.
Die Entheimlichung des Körpers
Es wäre also verlangt, daß man sich nunmehr ganz in Besitz nimmt und damit biologisch plant? Nichts anderes. Die Lesbarkeit des Genoms bedeutet, daß man damit umgeht wie mit jeglicher Schrift und daß man es nach Kräften vollendet. Es ist unmöglich, das Genom unberührt zu lassen. Wenn man nicht selber damit umzugehen weiß, werden es womöglich andere tun. Es gibt mittlerweile so viele Evidenzen und Nahezu-Gewißheiten über die Straße zur Eugenik, daß man der Notwendigkeit zu konstruieren nicht entgehen kann, will man sich nicht der Unordnung und der Verzweiflung überlassen. Es spekulieren ja auch nicht wenige, die meisten zur Zeit allerdings noch auf Baisse. Sie geben sich den kommunen Wonnen der Rede vom Prothesenmenschen oder von der Eroberung des Körpers (Paul Virilio) hin. Da gibt es viel auszumalen, und man kann sich gut beschäftigen, um die Geistesträgheit zu beschwichtigen. Die Spekulation auf Hausse ist viel anstrengender.
Weigert man sich, aus der zwangsläufig folgenden restlosen Entschlüsselung des Genoms eine Finalität dieses besonderen Fortschritts zu konstruieren und damit auf Hand- lungschancen zu sinnen, gerät man in die Gefahr, zynisch im Chaos zu versinken; was der Zeitgeist soeben mit Lust betreibt. Dies ist der Zustand, den die prädiktive Medizin herstellt: Der Mensch steht nunmehr ganz frei da. Er hat mit allen anderen die schmerzhafte Gleichheit zu teilen, daß die Ungleichheit seines biologischen Loses offengelegt ist. Diese Ungleichheit zu verbergen oder zu camouflieren, wie es in der alten kapitalistischen und zugleich politischen Gesellschaft moralisches Gebot war, ist nun nicht einmal der Minderheit möglich, die durch den Schicksalsspruch des Zeugungszufalls von Erblasten verschont ist und sich für gesund halten darf. Wo die Mehrheit die mehr oder weniger schweren Defekte ihres biologischen Erbes vorweisen kann, ja dazu gezwungen ist – weil sie ihre Beseitigung fordern darf –, ist auch der Gesunde nicht mehr normal. Auch er wird zur Ausnahme. Es kann auch keine biologisch Reichen oder biologisch Armen geben, wo die Kontingenz jeder individuellen Naturbedingtheit nackt zutage liegt – und niemand mit anderen vergleichbar ist. Und es verschwindet ja auch jeglicher Standard, die Norm für Gesundheit und Normalität.
Diese schonungslose Aufdeckung, die unvermeidliche Zerstörung der Heimlichkeit, in die sich der Körper des kapitalistischen Menschen hüllen mußte, versetzt zunächst in Schrecken. Denn sie stürzt in die Notwendigkeit von Entscheidungen, denen das Individuum in seinem schwachen Wissen von der eigenen Natur nicht gewachsen ist. Es fühlt sich aus der wohligen Zwecklosigkeit seiner Marktexistenz gerissen, soll Verantwortung für sich und, was noch schwerer ist, für seine Nachkommenschaft auf sich nehmen. Es kommt nicht darauf an, ob diese Emanzipation zur Gleichheit in biologischer Ungleichheit in der geheimen Absicht des Kapitalismus gelegen hat. Alle Geschichte scheint ja auf ihn zugewachsen zu sein. Erst einmal wird der Markt von der Aufhebung dieser Ungleichheit profitieren, weil alle jetzt von ihm die Herstellung biologischer Chancengleichheit verlangen werden.
Interessanter ist im Augenblick die Zukunft, in die der Kapitalismus von der prädiktiven Medizin geführt wird. Geht sie weiterhin so energisch zu Werke wie in den letzten anderthalb Jahrzehnten, dann wird der Kapitalismus bald an einen Wende- oder Krisenpunkt geraten. Die Technik könnte ihm einen Konstitutionswandel aufzwingen, wie er ihn in diesem vergangenen Jahrhundert noch nicht hat durchstehen müssen. Der über seine eigene Natur ignorante bürgerlich-kapitalistische Mensch gerät mit der Lesbarkeit seines Genoms und mit der prädiktiven Medizin in die nun unvermeidbare Lage, sich und seine Sozialität revolutionieren zu müssen. Daran war noch vor 10 Jahren nicht zu denken.
Revolutioniert werden muß damit auch der Kapitalismus. Ob das, worein er sich transformiert, noch Kapitalismus sein wird, kann einstweilen nicht bekümmern; dafür fehlt es derzeit auch an sozialer Phantasie. Man kommt aber, auch wenn man ein von der Geschichtsphilosophie gebranntes Kind ist, nicht umhin, dem Kapitalismus eine Entwicklungsrichtung zuzuschreiben. Der Eintritt in die Eugenik zwingt gewissermaßen dazu, seine Geschichte rückwärts zu lesen, auf die in ihm codierte Zweckhaftigkeit hin. Damit wird er zur Epoche, wird menschheitsgeschichtlich – und erneut kritisierbar. Eben dies hatte die postmodernistische Luderei ein für allemal abschütteln wollen. Karl Marx hätte übrigens die Idee entzückt, daß dem Markt ein weiteres Mal durch einen selbst verursachten Emanzipationssprung eine Existenzkrise beschert wird. Noch aber sind wir nicht ganz so weit.
Ausrottung des Zufalls – Zerfall der Solidarität
Wo zuviel Gewißheit herrscht, da kann nicht versichert werden. Wenn Unsicherheit und Risiko unter eine kritische Größenordnung sinken, findet man nicht genug Prämienzahler, also Menschen mit verdunkelter Zukunft. Damit werden Solidaritäten unmöglich, die auf die gemeinsame Angst vor der Unberechenbarkeit der individuellen Schicksale gegründet sind. Es werden also, durch zu genaue Prognose für zu viele Gefährdete, die Institutionen unterminiert, die Sozialität im Wirtschaftsstaat durch Vergesellschaftung der Wahrscheinlichkeiten von Unfall und Zufall garantieren. Diese Falle wird soeben von der prädiktiven Medizin aufgebaut. Und es ist ihre eigene Grundlage, die sie zu zerstören droht. Die Entstehung der prädiktiven Medizin wäre undenkbar ohne die fortwährende Potenzierung von Therapie, die ja von der Versicherung nicht nur bezahlt wird, sondern auch vorangetrieben werden muß. Nun gefährdet gerade der Erfolg dieser Institution, einer der stärksten Integrationsklammern der Industriegesellschaft, deren eigene Existenzbedingung, nämlich die Unsicherheit des biologischen Schicksals der meisten. Die Konsequenzen der Genomanalyse für das Versicherungswesen sind schon bald nach dem Beginn des Humangenomprojekts zum Thema gemacht worden, doch haben sich die gesundheitspolitischen Öffentlichkeiten darum kaum gekümmert. Freilich, täten sie es, würden sie allzu viele Fragen aufwerfen, denen einstweilen weder sie selber noch die wissenschaftliche Expertenwelt gewachsen sind.
Es ist nunmehr eine plausible, von den meisten Fachleuten geteilte Annahme, daß um das Jahr 2006 die genetischen Wirkungsbedingungen für eine Reihe von Massenkrankheiten hinreichend bestimmt sein werden. Hinreichend bedeutet, daß Aussicht auf eine Therapie in naher Zukunft besteht. Es werden also auf einmal große Populationen entstehen, die prinzipiell einen Anspruch auf Diagnose und Therapie stellen können. Dazu gehören nicht nur die manifest Kranken, sondern die in der Regel viel größere Zahl von potentiell Belasteten, die nur epidemiologisch geschätzt sind. Allein die Gewißheit von demnächst anwendbaren Therapien wird große Informationsmengen entstehen lassen, die alsbald auf den Markt kommen und dort Wirkung zeigen werden. Anzunehmen ist ebenso, daß gleichzeitig mit der Aussicht auf Therapien entsprechende Tests zu geringem Preis allgemein zugänglich sein werden – wenigstens in den reichen Ländern. Die Krankenversicherungen, ob öffentlich oder privat, können die massenhaften Ansprüche auf vorsorgliche Diagnose nicht nur nicht abweisen, sie müssen sie sogar wünschen, auch wenn sie für sich daraus unangenehme Konsequenzen zu erwarten haben. Das gilt zumal für solche Krankheiten, die durch individuelles Verhalten oder durch Umwelt aktualisiert oder verstärkt, also nicht allein gentherapeutisch behandelt werden können, sondern Milieu- und Verhaltensveränderungen verlangen. Das werden nicht zuletzt die Normgesunden unter den Mitgliedern verlangen, die sich vorläufig geringer Krankheitserwartung erfreuen dürfen und keine Lust haben werden, mit hohen Prämien die schlechter ausgestatteten Solidargenossen zu unterstützen. Das hätte unter anderem die Folge, daß an den Börsen die Versicherungswerte sinken. Jedes hinlänglich bestimmte, also therapieversprechende Gen muß die Aktienwerte der Pharmaindustrie steigen, die der Versicherungsindustrie abrutschen lassen. Die prädiktive Medizin, die die Versicherungsinstitutionen mit allzu großem Angebot von Prognose überlastet, muß überdies auf besonders heimtückische Weise die Zerstörung der dort organisierten Solidaritäten fördern. Das, was schon heute mit der Zuweisung von Dialysegeräten und Transplantationsorganen geübt wird, wird generalisiert werden müssen. Da die prädiktive Medizin dazu führt, daß die anonyme Gesamt- masse der Versicherten mehr und mehr in diskrete Gruppen aufgelöst werden kann, müssen Prioritäten gesetzt und Privilegierungen für Diagnose- und Therapiefähige eingerichtet werden. Es muß also zwischen und innerhalb von Populationen potentieller Patienten diskriminiert werden. Schließlich werden die Versicherungen auch dazu gebracht werden, Systeme der Verhaltensdisziplinierung zu fordern und auszubauen. Das kann im Falle von gruppen- oder schichtspezifischen Erbbelastungen, die durch Verhalten und Umwelt virulent werden, zu kaum lösbaren Konflikten führen. Die Fettsucht zum Beispiel, deren Genkom position nunmehr gelungen ist, ist eine typische Unterklassenkrankheit. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten besonders dort ausgebreitet, wo sich ein Kreislauf von Armut, Arbeitslosigkeit, Illettrismus und sozialer Marginalisation eingenistet hat. Man müßte also, wollte man sinnvoll gentherapeutisch arbeiten, ein ganzes Milieu mitverändern. Bei diesem Milieu hieße das mehr oder weniger Zwang, jedenfalls erst einmal Diskriminierung. Wenn die Einheit der gegen das Risiko solidarisierten Versicherungsbürger aufgebrochen und in Gruppen partikularisiert wird, handelt es sich auch um politische Zerstörung.
In Amerika, wo die individualisierte Krankenversicherung in der Regel direkt an das Beschäftigungssystem gekoppelt ist & die schlechte Gesundheitsprognose unmittelbar die Arbeitschancen bedroht, hat sich bereits mit Aids viel härter die soziale Zerreißfrage gestellt. Die Weigerung von Versicherungsunternehmen, Aidskranke aufzunehmen, hat bereits auf die Dramatik einer Entwicklung vorausgewiesen, die sich durch die prädiktive Medizin zu verallgemeinern verspricht: Wer aufgrund schlechter Prognose nicht versicherbar ist oder doch außergewöhnlich hohen Prämien ausgesetzt wäre, ist auch nicht berufsfähig. Kann sich eine Firma durch Fernhaltung von Risikogruppen heute noch für sauber halten und in den Genuß von verminderten Prämienzahlungen für ihre Angestellten kommen, so kann sich das schon morgen ändern. Es tauchen nämlich immer neue Risikogruppen auf – was sich auch aus der zunehmenden Verschärfung der Sicherheits- und Ausschlußregeln ergibt. Schnell verschärfen sich die Situationen, die den Unternehmen eine biologisch selektierende Auswahl ihres Personals nahelegen. Und die Versicherungsunternehmen, auf die der Druck zunimmt, weil der Anteil der genetisch gut Ausgestatteten mit günstiger Prognose abnimmt, werden bald am Ende ihres Lateins sein. Auch die sozialstaatliche Versicherungsorganisation der Europäer kann vor der Grunddrift nicht bewahren, die eine Desolidarisierung der in kollektiver Risikoabwehr Vereinigten erzwingt, weil Prognose zu einer gemeinschädlichen Gewalt umkippt. Die Überlegung, wie die bewährten Versicherungsinstitutionen zu reformieren und zu erhalten sind, bricht sich alsbald an der Tendenz, die der prädiktiven Medizin im allgemeinen und der Genomanalyse im besonderen innewohnt: Es muß dem Träger des Genoms das gesamte erreichbare Wissen über seine genetische Konstitution verfügbar gemacht und zugemutet werden. Und es muß dieses Wissen allgemein und offen zugänglich gemacht werden. Das Genom und die Prognose der prädiktiven Medizin müssen vom Individuum offenbart werden, weil sie sich als ein Geheimnis gegen den Interessenangriff der anderen nicht mehr verteidigen lassen. Wenn ein jeder von sich das Mögliche weiß, weiß er zuviel, um seiner Lust an Ungleichheit durch Überlegenheit seiner biologischen Chancen frönen zu können. Der Körper muß also entheimlicht werden. Es ist auch die zweckmäßigste Überlebensstrategie, den Körper ganz offenzulegen und die anderen zu gleichem aufzufordern. Die Privatheit des Körpers ist nämlich im Prinzip schon verloren. Kein right of privacy, kein Arztgeheimnis, kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird sie retten können. Und kein Individuum wird sich in sein Recht auf Nichtwissen flüchten können.
Am Auflösungsprozeß der Versicherungsorganisationen, ob nach amerikanischem oder nach europäischem Modell, wird man diese in der Entschlüsselung des Genoms angelegte Tendenz die nächsten 2 Jahrzehnte hindurch verfolgen können. Die Institution Versicherung, die den Fortschritt der präventiven Medizin ebenso brauchte wie vorantrieb, schützte den privaten Körper des Erwerbsbürgers. Wenn sich diese Privatheit nun nicht länger aufrechterhalten läßt, trifft dies auch die Grundvoraussetzung der reinen Marktlehre, die soeben ihren letzten und größten Triumph feiert. Ihre Glaubenspfeiler sind der methodische Individualismus und die optimierende Rationalität, die erst den Markt als eine befriedende und glückverheißende Sozialorganisation möglich machen. Diese beiden Maximen verlangen unter anderem, daß jeder durch Prognose die eigenen Kräfte und Chancen einschätze, damit er sich auf dem Markt bewähren und seinem Selbstinteresse auf vernünftige, das heißt ökonomische Weise folgen kann. Zwar können das Wissen vom eigenen Genom & die Prognose der prädiktiven Medizin nicht die ganze Person und ihr natürliches, also individuelles Selbstinteresse bestimmen, doch tritt mit dem technischen Fortschritt eine neue Lage ein. Nicht nur verlangt die Berechenbarkeit des eigenen biologischen Kapitals Begrenzungen und Verzichte des Verhaltens, wie sie das unternehmerische Indi- viduum bisher nicht gekannt hatte. Es kann auch der Befund der Körper-Kapital-Prognose nicht in der Alleinverfügung des Besitzers bleiben. Nicht nur die Erfordernisse des sozialen Lebens verlangen die größtmögliche Kenntnis vom Körper der einzelnen und ihre Offenlegung. Erst recht fordern geregelte Marktbeziehungen die Entprivatisierung dieser Kenntnis und die Transparenz der Vitalbilanzen. Man wird einen Vorteil nicht mehr daraus ziehen können, daß man sich selbst biologisch unbekannt bleibt und dem anderen, mit dem man Geschäfte machen will, seine Undurchdringlichkeit entgegensetzen kann. Man kann also am Verlauf der Zerstörung, denen die für den Markt unerläßliche Institution Versicherung ausgesetzt ist, auch die Zerstörung einer Bedingung des Besitzindividualismus studieren.
Claus Koch
Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung des Menschen in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muß. Ich verspreche ein tragisches Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden.
(Friedrich Nietzsche, Ecce homo)