Ende der 1970er Jahre arbeiteten bei medico sechs Zivildienstleistende und drei Festangestellte, es gab noch keine Computer, noch kein Fax und noch kein Internet. Mit den Projektpartnern im Süden kommunizierten wir per Post; nicht selten dauerte es Wochen, bis wir auf einen Brief Antwort bekamen.
Heute hat medico 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ist sehr viel besser technisch ausgestattet, sind längst aufs engste mit Menschen in aller Welt vernetzt und verfügen über ein Vielfaches an Mitteln. Das sind ohne Frage große Veränderungen. Wir können heute sehr viel schneller auf akute Notlagen reagieren und sehr viel umfangreicher und gezielter den Initiativen von Menschen zur Seite stehen, die auf eine Verbesserung ihrer gesundheitlichen Lebensumstände drängen. Im letzten Jahr waren es über 120 Projekte in 30 Ländern, die medico fördern konnte. Das klingt nach Wachstum, Erfolg … aber ist nur die halbe Wahrheit. Denn in den zurückliegenden Jahrzehnten hat nicht nur der Handlungsrahmen von medico zugenommen, sondern im Zuge der marktradikalen Umgestaltung der Welt auch der Bedarf an Hilfe. Immer schneller ist die Zerstörung menschenwürdiger Lebengrundlagen zuletzt vorangeschritten.
Und wie groß die Schrecken der Welt heute sind, – davon haben viele hierzulande erst mit der Ankunft von Hundertausenden von Flüchtlingen eine Ahnung bekommen. Ob aufgrund von Kriegen, Hunger oder Chancenlosigkeit – immer häufiger sehen Menschen heute nur noch den einen Ausweg: sich auf den Weg zu machen.
Und das sind die eigentlichen Veränderungen, die heute unsere Arbeit bestimmen. Die Integration der Länder des Südens in einen von Wachstum und Renditestreben geprägten globalen Markt hat die Welt zwar näher zusammengerückt, aber zugleich auch tief gespalten.
Wachstum und Fortschritt scheinen an großen Teilen der Weltbevölkerung vorbeigegangen zu sein. Nur auf unterster Stufe wurden sie in den Weltmarkt integriert: als billige Arbeitskräfte z.B. in der globalen Textilproduktion, als Tagelöhner in der Produktion von Bioäthanol oder Palmöl, als Käufer von überteuerten und ungesunden industriell produzierten Nahrungsmitteln, deren Konsum auf fatale Weise aber die Teilhabe an der Moderne suggeriert.
Mit Hilfe allein ist der Ungleichheit nicht beizukommen
In diesem Spannungsfeld zwischen Integration und Ausschluss, zwischen Beschleunigung und Stillstand bewegt sich die Arbeit von medico heute. Wir stehen Menschen zur Seite, für die sich der Fortschritt nicht als eine Befreiung von Not und Notwendigkeit bemerkbar gemacht hat, sondern zunächst einmal nur als eine dramatische Zunahme von sozialer Verunsicherung.
Für eine Organisation, die darum weiß, dass sich Gesundheit zuallererst auf soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation gründet, liegt in solchen Umständen eine große Herausforderung. Mit humanitärer Hilfe alleine ist den prekären Folgen der wachsenden sozialen Ungleichheit nicht beizukommen. Dennoch wächst der Bedarf an Hilfe. Immer schneller und immer umfassender müssen wir reagieren; mitunter bleibt kaum noch Zeit, das eigene Tun zu reflektieren.
Genau das aber ist wichtig. Unbedingt gilt es zu verhindern, bei all der Not, die es zu bekämpfen gilt, selbst in ein nur noch geschäftiges Treiben hineingezogen zu werden. Ein Treiben, das beständig darum bemüht ist, die Mittel zu optimieren, dabei aber das Ziel aus dem Auge verliert. Mit großer Skepsis sehen wir, wie viele Hilfsorganisationen heute den Erfolg ihrer Arbeit an den Mengen gelieferter Hilfsgüter, an reibungslos funktionierenden Transportwegen, an einem akribischen Belegwesen und zeitnahen Berichten messen und dabei jede Idee verlieren, was denn menschenwürdiges Leben eigentlich meint.
Und auch das zählt zu den Veränderungen, die wir in den zurückliegenden Jahrzehnten beobachten mussten. Den Eigensinn sozialen Handelns, seinen emanzipatorischen Gehalt gegen die Ausrichtung von Hilfe an betriebswirtschaftlichen Kriterien zu verteidigen, fällt immer schwerer. Einsteins Warnung, dass nicht alles, was sich messen lässt, auch zählt, und nicht alles, was zählt, auch messbar ist, scheint im Zuge der prekären „Manageralisierung“ von Hilfe in Vergessenheit zu geraten.
Große Ziele, wie die Schaffung sozialer Gerechtigkeit oder das, was wir die Demokratisierung der Demokratie nennen oder das Nachdenken über eine Ökonomie, die sich nicht auf Wachstum gründet, fallen unter solchen Umständen weg. Genau darum aber geht es uns.
Es geht, wenn Sie so wollen, um die Fortsetzung jenes politischen und kulturellen Projektes, das mit 1968, dem Gründungsjahr von medico verbunden ist: um Emanzipation als Voraussetzung für die Gestaltung selbstbestimmter Lebensformen.
In einer solchen politischen Verortung von Hilfe sehen wir übrigens keine nur akademische Beschäftigung und schon gar keinen Luxus. Hilfe, die Not und Abhängigkeit nachhaltig überwinden will, kann gar nicht anders, als immer auch die Umstände in den Blick zu nehmen, die Hilfe erst erforderlich machen. Nur so lässt sich der Blick für die Möglichkeit einer anderen, einer solidarischen Welt bewahren.
Es geht auch anders
Heute wächst inmitten des Krisengeschehens auch die Idee dafür, dass es auch anders gehen kann. Dass die Krise nicht alternativlos ist, dass Rettung möglich ist. Wenn die soziale Verunsicherung von Menschen zugenommen hat, dann gilt das auch für das Aufbegehren der Leute, Auch die Zahl deren, die sich mit dem Status Quo nicht abfinden zu wollen, auch das Drängen auf Veränderung hat zugenommen.
In den Projekten unserer Partner lässt sich das Andere bereits entdecken. Es zeigt sich beispielsweise in Guatemala, wo inmitten einer von mafiösen Gewaltverhältnissen geprägten Gesellschaft mutige Juristen für ein Ende der Straflosigkeit streiten und ganze Dörfer eigene selbstverwaltete Lebensformen entwickeln. Es zeigt sich im brasilianischen São Paolo, wo die Bewegung der Wohnungslosen leer stehende Hochhäuser in Wohnraum umwandelt. Es scheint auf im bewundernswerten Bemühen afghanischer Studierenden, die sich inmitten von Krieg und Krise und ohne Rückgriff auf funktionierende Bibliotheken mit „Kritischer Theorie“ auseinanderzusetzen. Es lässt sich entdecken in den Gedichten, mit denen geflohene Jugendliche ihr Leid und ihre Wünsche zu Papier bringen. Es lebt im mutigen Widerstand afrikanischer Kleinbauern, die ihren Grund und Boden gegen Landraub und Extraktionswirtschaft verteidigen, usw, usw.
Das Verbindende solcher „Inseln der Vernunft“ ist die Idee einer andern Globalität, – einer Lebensweise, die sich nicht auf Konkurrenz und Egoismus stützt, sondern auf Mitgefühl, Neugier und Kreativität.
Die Welt mag aus den Fugen geraten zu sein, aber sie ist noch immer bunt, vielfältig und voller Widersprüche. Und in eben diesen Widersprüchen werden auch die Möglichkeiten von Emanzipation sichtbar. Das Rettende lauert überall. Diesen Gedanken haben wir uns bei medico zu eigen gemacht und zum Leitspruch für das Jubiläumjahr gewählt.