Wenn ein rechtsradikaler Präsident wie Jair Bolsonaro in Brasilien die Corona-Pandemie als „leichte Grippe“ abtut und dem tausendfachen Sterben im Land – insbesondere der armen, schwarzen und indigenen Bevölkerung – mit Häme zusieht, dann kann man sagen: Es war nicht anders zu erwarten. Gleiches muss man inzwischen auch vom nicaraguanischen Präsident Daniel Ortega und seiner Vize Rosario Murillo sagen. Während außer Brasilien alle anderen Länder Lateinamerikas auf physische Distanzierung, Quarantäne und Kontaktsperren setzen und damit mehr oder weniger erfolgreich die Covid-19-Pandemie eindämmen, fällt Nicaragua komplett aus der Reihe.
Das Ortega-Regime ignoriert die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und verzichtet weitestgehend darauf, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Stattdessen greift Murillo in ihren schrillen Auftritten und religiös verbrämten Reden die Oppositionsbewegung an, die den eigentlichen Virus verbreite, nämlich den des Hasses. Die Regierung stehe dagegen für „Liebe in Zeiten von Covid-19“ – so der Titel einer sandinistischen Großdemonstration Mitte März.
Der Alltag soll weitergehen: Schüler*innen und Studierende sollen weiter die Schule bzw. Universität besuchen, die 170.000 Angestellten des Staates müssen arbeiten gehen. Wer aus Angst vor einer Ansteckung zuhause bleibt, kann bestraft oder exmatrikuliert werden. Darüber hinaus fördert die Regierung bis zum heutigen Tag öffentliche Zusammenkünfte – von Sportevents über Feste und politische Kundgebungen bis zu kirchlichen Veranstaltungen. Mit dem Argument, es solle keine Panik geschürt werden, verbot die Regierung ihrem Gesundheitspersonal Anfang März das Tragen von Masken und Handschuhen.
Deshalb wandten sich in der vergangenen Woche fünf ehemalige Gesundheitsminister*innen in einem Brief an die Weltgesundheitsorganisation. Die Unterzeichnenden beschuldigen Ortega, „die Gesundheit der Bevölkerung einem sehr ernsten Risiko auszusetzen“ und warnten vor den verheerenden Folgen der Pandemie in Nicaragua. Viele Menschen übernehmen deshalb selbst die Vorsorge: Sie halten auf der Straße und in Geschäften Abstand zueinander, bei einigen Banken misst das Wachpersonal die Temperatur der Eintretenden, Eltern schicken ihre Kinder trotz der Drohungen nicht in die Schule und Angestellte machen unter der Hand Homeoffice.
Viel mehr Tote als offiziell bestätigt
Das nicaraguanische Gesundheitsministerium bestätigt inzwischen offiziell 17 Tote durch Covid-19 (Stand 27. Mai) und registrierte in der Woche vom 12. Bis 19. Mai 254 neue Fälle, eine Steigerung um 229 im Vergleich zur Vorwoche. Weil diese Zahlen aber kaum jemand glaubt, klären soziale Bewegungen und selbstorganisierte Initiativen die Bevölkerung über Covid-19 auf und legen die Lücken in der offiziellen Berichterstattung offen. So hält das Observatorio Ciudadano COVID-19 en Nicaragua die offiziell vorgelegten Infektionszahlen für viel zu niedrig und geht auf Grundlage eigener Datenerhebung von über 1500 Covid-19-Fällen aus. Der unabhängige Zusammenschluss von kritischen Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen schätzt, dass bereits über 350 Menschen gestorben sind. Und die Pandemie steht erst am Anfang ihrer Verbreitung in Nicaragua.
Auch die journalistische Berichterstattung über die Pandemie wird in Nicaragua erschwert, wie die Journalistin Gabriela Selser im Gespräch mit dem Deutschlandfunk berichtet: „Uns Journalisten wird der Zugang zu den Friedhöfen verwehrt. Die Regierung nutzt ihren Sicherheitsapparat, um zu verhindern, dass die Toten registriert werden und dass über das berichtet wird, was sich in den Krankenhäusern abspielt.“
Von einer Vertuschung der Dimension, die Covid-19 jetzt schon in Nicaragua hat, muss man ausgehen, wenn man sich Videos und Berichte in den sozialen Medien anschaut: Da häufen sich inzwischen Berichte von Angehörigen Verstorbener, denen Bluthochdruck, Diabetes oder Atemwegserkrankungen wie „atypische Lungenentzündungen“ als Todesursache genannt werden. Nächtliche Express-Beerdigungen von eingeschweißten Leichen ohne die Möglichkeit, Abschied zu nehmen, machen eine Nachverfolgung und Überprüfung unmöglich.
Ebenso wie Bolsonaro oder Trump gefährdet das Ortega-Regime ganz erheblich die Gesundheit seiner Bevölkerung. Die hohen Infektionszahlen und vielen Todesopfer in den USA und Brasilien lassen nichts Gutes für das zentralamerikanische Land vermuten. Nur die eigenverantwortlichen Schutzmaßnahmen der Bevölkerung und die Selbstorganisation der Gesundheitsmitarbeiter*innen lassen noch die Hoffnung aufkeimen, dass es nicht so schlimm kommen möge.
Angesichts der staatlichen Untätigkeit in Nicaragua unterstützt medico international zivilgesellschaftliche Initiativen, die selbstorganisiert Schutz- und Aufklärungsmaßnahmen ergreifen. Wir finanzieren die Erstellung von Informationsmaterial und die Beschaffung von Schutzausrüstung für Gesundheitspersonal, um den vom Regime verbotenen Selbstschutz der Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen zu ermöglichen.