medico: Du hast im November 2021 von Karin Urschel die Leitung der bisherigen Projektabteilung übernommen. Diese hat sich kurz vorher in „Abteilung für transnationale Kooperation“ umbenannt. Warum?
Till Küster: Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass der technische Begriff Projekt die tatsächliche Zusammenarbeit mit unseren Partner:innen stark verengt und weder ihrem noch unserem Selbstverständnis entspricht. Sie setzen ja keine Projekte im Auftrag von medico um und sie machen viel mehr als das, was ausschließlich aus administrativen Gründen eine „Projektform“ hat. Ausgehend von geteilten politischen Anliegen umfasst unsere Zusammenarbeit Wissensaustausch, Vernetzung und Strategieentwicklung. Hinzu kommt: Ein Projekt hat einen Anfang und ein Ende. Mit den meisten Partner:innen arbeiten wir aber langfristig an der Weiterentwicklung einer gemeinsamen Agenda. Es sind Kooperationen, die teilweise über Jahrzehnte halten und natürlich auch auf uns bei medico zurückwirken. Hinzu kommt, dass die Arbeit in transnationalen Netzwerken an Bedeutung gewonnen hat. Dabei spielt eine Rolle, dass wir globale Entwicklungen wie die Klimakrise, Fluchtbewegungen und Migration, aber auch feministische Ideen über Landesgrenzen hinweg verstehen und unterstützen wollen. All das spiegelt der neue Abteilungsname wider.
Sei es die fortdauernde Pandemie, die Klimakatastrophe oder der Umsturz in Afghanistan: 2021 haben sich globale Krisen weiter verschärft. Vor welche Herausforderungen stellt das die Kooperationen von medico?
medico hatte schon immer den Anspruch, Teil globaler sozialer Kämpfe für die Durchsetzung von Rechten zu sein. Dabei reagieren wir ständig auf sich verändernde Bedingungen und Ereignisse, vor allem reflektieren wir selbstkritisch das Prinzip von Hilfe. Tatsächlich haben wir in den vergangenen Jahren eine Zunahme extremer Ereignisse erlebt, dazu zählen auch autoritäre Entwicklungen, neue Kriege, die Pandemie, globale Fluchtbewegungen und massive Bedrohungen unserer Partner:innen. All das zwingt uns, Arbeitsweisen anzupassen oder neu zu entwickeln. Wie können wir eine globale Entwicklung wie die Klimakatastrophe sinnvoll bearbeiten? Wer sind die progressiven Kräfte auf globaler und lokaler Ebene, die tragfähige Ideen und Alternativen entwickeln? Wie weitermachen, wenn die Räume schrumpfen? Inzwischen haben wir zum Beispiel in Afghanistan und in Nicaragua – zwei Länder, in denen medico eine sehr lange Geschichte hat – extrem erschwerte Bedingungen. Unsere Partnerorganisationen sind verboten, massiv gefährdet oder ins Exil gedrängt.
Wie kann die Arbeit trotzdem weitergehen, im Exil und im Land selbst?
Das erarbeiten wir gerade zusammen mit den Partner:innen, womöglich müssen wir auch neue Formen der „Projektarbeit“ entwickeln. Wichtig ist, dass wir nicht bei null anfangen müssen, sondern uns auf unseren politischen Kompass ganz gut verlassen können. Der Kontext ist neu, aber Herangehensweise sind lange eingeübt und bewährt, Vertrauen wurde über viele Jahre aufgebaut. Dabei lernen wir immer auch wieder von den Ideen und Ansätzen unserer Partner:innen. Zum Beispiel konnten wir nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine schnell neue Kooperationen in Osteuropa aufnehmen, weil wir über die langjährige Arbeit im Bereich Flucht und Migration Kontakte hatten. Kooperationen in Gewaltkontexten wie Syrien helfen uns beim Verstehen der Ereignisse in der Ostukraine. Die Herausforderung ist immer, das Wissen zu übertragen auf neue Konstellationen. Bei medico zu arbeiten hieß schon immer, sich permanent auf die Suche zu machen nach Partnerschaften, die eine bessere Zukunft gestalten wollen und deren Kämpfe es zu unterstützen gilt.
Das Interview führte Moritz Krawinkel.
Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.