medico: In Ihrem Buch „Die Welt nach den Imperien“ gehen Sie weit zurück: zum Beginn der Entkolonisierung in Afrika und den westindischen Inseln. Wir treffen auf Persönlichkeiten wie Kwame Nkrumah, den ehemaligen Präsidenten von Ghana, oder Michael Manley, Ende der 1980er-Jahre Premier von Jamaika. Heute sind sie weitestgehend in Vergessenheit geraten. Warum halten Sie es für nötig, ihr Denken wieder zu entdecken?
Adom Getachew: Ich halte es deshalb für wichtig, weil für junge Leute und Aktivist:innen die Sprache der Entkolonisierung wieder wichtig geworden ist. Das bezieht sich auf die Debatten an Universitäten, auf die Rückgabe von Kulturgütern und auf die Beschäftigung mit dem Siedlerkolonialismus. Deshalb schien es mir wichtig, genauer zu untersuchen, worin das ursprüngliche Projekt der Dekolonisierung bestand. Ich beschäftige mich mit dem Thema seit zehn Jahren. Damals schien es so, dass die globale US-Hegemonie unantastbar ist. Ich wollte eine alternative Vision der Welt erzählen, wie sie bei jenen Personen vorkam, die den kolonisierten Teil der Welt repräsentierten.
Kwame Nkrumah war eine zentrale Figur der Unabhängigkeitsbewegung in Ghana und spielt eine zentrale Rolle in ihrem Buch. Was waren die wichtigsten Elemente seines Denkens?
Ich will nicht behaupten, dass sich die Überlegungen von Nkrumah und anderen Persönlichkeiten, mit denen ich mich beschäftige, einfach auf heute übertragen ließen. Die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war ein besonderer Moment. Heute beschäftigen uns andere Fragen, insbesondere der Klimawandel, dessen Bearbeitung die Frage nach einer gerechteren Weltordnung mit neuer Dringlichkeit stellt. Dennoch ist eine Sache zentral: Die antikolonialen Politiker waren sich bereits damals im Klaren, dass nationale und internationale Belange eng miteinander verflochten sind. Sie wussten, dass man Selbstbestimmung und Selbstverwaltung nicht in einem Land allein verwirklichen kann.
Der europäische Kolonialismus hatte diese Länder in hohem Maße in seine Ökonomie integriert, und zwar auf extrem ungleiche Weise. Die Denker des Antikolonialismus wussten, dass man diese Welt mit ihren Abhängigkeiten nicht einfach verlassen kann. Deshalb war für sie Selbstbestimmung aufs Engste mit einer anderen Weltgestaltung verknüpft. Sie hielten es für möglich, eine andere internationale Ordnung und andere interstaatliche Beziehung zu schaffen. Sie besaßen eine große Weltzugewandtheit.
Die Möglichkeit einer solchen dekolonialen Weltgestaltung schien nur in einem kurzen historischen Zeitraum möglich. Woran scheitert dieses Unternehmen?
Einen Wendepunkt stellten die vom IWF im Zusammenhang mit der Schuldenkrise verhängten Strukturanpassungsmaßnahmen dar, die bereits in den 1970er-Jahren zum ersten Mal in Jamaika verhängt wurden und dann die Staaten des Südens sukzessive veränderten. Dazu zählen aber auch die internen Krisen der Nationalstaaten, der Krieg in Biafra und die Sezession von Bangladesch. Die Nationenbildungsprozesse und Visionen in den entkolonisierten Staaten bargen bereits viele Widersprüche. Schon die Idee, dass es ein nationales Volk gebe, scheiterte an vielen Stellen. Und es gab tiefe Widersprüche zwischen den demokratischen Begehren in den jungen Nationalstaaten und einer staatlich gelenkten ökonomischen Entwicklung, die sich beispielsweise in der Stärkung des Zentralstaates ausdrückte.
Noch schwerer war es natürlich, Hebel zu finden, um die internationale Ordnung zu verändern. In allen Momenten dieses Prozesses haben die mächtigen Staaten, darunter die ehemaligen Kolonialmächte, große Hürden aufgebaut. So haben weder die USA noch die europäischen Länder das Recht auf Selbstbestimmung unterstützt. Die Neue Internationale Wirtschaftsordnung, die von den entkolonisierten Ländern im Rahmen der UNO gefordert wurde, und auch mit der Gründung der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD eine Form bekam, kam letztlich nie zustande.
Sie unterscheiden zwischen dem europäischen Nationalstaat, der das Imperiale in den Nationalstaat überführte, und dem antikolonialen Selbstbestimmungsrecht. Worin liegt der Unterschied?
Wenn man im westlichen Sinne von Selbstbestimmung spricht, dann ist damit das Konzept des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und des Völkerbunds gemeint, entwickelt im Kontext der Auflösung der Imperien nach dem Ersten Weltkrieg. Wilsons Begriff der Selbstbestimmung war eigentlich eine Antwort auf die bolschewistische Revolution und schränkte das Selbstbestimmungsrecht so weit wie möglich ein. Die Bolschewiki unter Lenin hatten dagegen das Recht auf Sezession für unterdrückte Völker betont und glaubten, dass es einen Bildungs- und Entwicklungsprozess bräuchte, bis ein Land seine Unabhängigkeit erreichen würde. In ihren Augen gab es Völker, die möglicherweise nie zur Selbstbestimmung in der Lage sein würden. Sie hatten also einerseits ein graduelles Verständnis von Selbstbestimmung, andererseits negierten auch sie dieses Recht.
Und die antikolonialen Theorien sahen dies grundlegend anders?
Das antikoloniale Verständnis von Selbstbestimmung transformierte das Konzept grundlegend. Entwicklung sollte nicht der Selbstbestimmung vorausgehen, sondern Selbstbestimmung wurde verstanden als Voraussetzung für Entwicklung. Das ist an sich schon eine grundlegende Kritik am imperialen Staat und einem Entwicklungsbegriff, der einzig die weitere koloniale Herrschaft rechtfertigte. Und es war diesem Verständnis tief eingeschrieben, dass nationale Selbstbestimmung nur in einem Prozess der Weltgestaltung stattfinden kann. Dass also eine egalitäre Weltordnung nationale Selbstbestimmung ermöglichen muss.
Wenn man sich heute die tiefen Spaltungen in der Welt anschaut, könnte man schlussfolgern, dass nichts davon realisiert wurde. Das ist natürlich auf den ersten Blick richtig. Aber in den ersten 20 bis 30 Jahren der Unabhängigkeit vieler Staaten sank die Müttersterblichkeit entscheidend und die Alphabetisierungsrate wuchs, sehr wichtige Transformationen fanden statt. Es sind gerade die Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF, die den postkolonialen Staat einschränkten und diese Erfolge zunichtemachten. Deshalb ist es so wichtig, die guten Anfänge zu erinnern.
Sie arbeiten an einer politischen Theorie des Postkolonialen. Wie steht diese in Beziehung zu anderen postkolonialen Denker:innen, die sich eher mit der Kritik und den Auswirkungen des Kolonialismus beschäftigen. Ist die politische Theorie ein fehlendes Element im postkolonialen Denken?
Mir ist die Beschäftigung mit den Ausgangsbedingungen der postkolonialen Welt wichtig. In der politischen Theorie haben wir dafür Kategorien wie Staat, Demokratie, Repräsentanz etc. Sie sind wichtig, sie gehen aber explizit auf europäisches und westliches Denken zurück. Mein Vorschlag ist, auch die Erfahrung der sich dekolonisierenden Welt in die politische Theorie aufzunehmen. Wie kann der Übergang vom Kolonialen zum Postkolonialen uns helfen, bestimmte Konzepte, die eher aus Europa oder den USA stammen, zu überprüfen und vielleicht zu revidieren? Es geht mir um die Charakterisierung der internationalen Ordnung, um eine genauere Betrachtung des Problems der Herrschaft. Beim Imperium geht es nicht nur um Beherrschung, sondern um eine Integration, die auf Ungleichheit beruht.
Sie sprechen von postkolonialem Kosmopolitismus. Wie steht er in Verbindung zum Universalismus, den die haitianische Revolution begründete?
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schien es an der Zeit, den Begriff des Kosmopolitismus wiederzubeleben. Dazu gehörte auch die Stärkung der Europäischen Union. Ich denke an Jürgen Habermas, der über eine postnationale Staatsbürgerschaft nachdachte. Auch meine Lehrerin Seyla Benhabib schrieb über Menschenrechte und Migration. Sehr schnell wurde das Konzept von Souveränität aufgegeben. Wozu auch gehörte, die Politik der Nichtintervention aufzugeben. Das war die neue kosmopolitische Welt.
Tatsächlich aber war ja das Ende der Souveränität und der Nichteinmischung nicht die Geburtsstunde eines neuen Kosmopolitismus, sondern eines neuen Imperiums unter Führung der USA. Das Projekt der Entkolonisierung bleibt für mich trotzdem ein universelles, ein humanistisches Projekt einer besseren Welt für alle. Frantz Fanon beendet sein Buch „Die Verdammten dieser Erde“ mit dem Aufruf zu einer neuen Humanität über Europa hinaus. Es gibt viele Forscher:innen in meinem Feld, die wesentlich skeptischer gegenüber dem Begriff Universalismus sind, weil sie glauben, dass er immer Herrschaft in sich trägt. Dagegen beziehe ich mich positiv auf das Begehren, das im Universalismus steckt.
In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass die afrikanischen Politiker der Entkolonisierung auch den Juden ein Recht auf Selbstbestimmung zusprachen und Israel in diesem Sinne begrüßten. Können wir mit Ihrer politischen Theorie einen anderen Blick auf den dramatischen israelisch-palästinensischen Konflikt werfen?
Zu Beginn der Entkolonisierung gab es sogar Versuche, den israelischen Entwicklungsweg nachzuahmen. Israel entsandte Ratgeber in afrikanische Staaten. Aber bereits damals nahm man in Afrika wahr, dass das Projekt auch siedlerkoloniale Züge trug. Wenn ich von der Zeit ausgehe, die ich in meinem Buch untersuche, so spielten damals föderative oder konföderative Ideen eine große Rolle. Das wäre sicher auch eine mögliche Zukunft für Israel und Palästina. Ich denke zudem an Südafrika – auch wenn vieles nicht geglückt ist. Das Post-Apartheid-Projekt stellt die Frage, wie sich ein Zusammenleben gemeinsam herstellen lässt. Das scheint mir auch für den israelisch-palästinensischen Kontext fundamental. Was würde es bedeuten, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir alle Bürger:innen gleichen Ranges sind?
Wenn wir von der Notwendigkeit sprechen, den Westen zu dekolonisieren, dann ist vor allen Dingen das Überlegenheitsdenken angesprochen. Was hieße das aus Ihrer Perspektive?
Dekolonisierung war immer ein kulturelles, politisches und ökonomisches Konzept. Dekolonisierung meint, uns selbst und unser Denken zu dekolonisieren. Es fasziniert mich, dass die Sprache der Dekolonisierung vom Globalen Süden in den Globalen Norden migriert ist. Student:innen und Aktivist:innen im Westen wollen die Museen und die Curricula in den Universitäten dekolonisieren. Das liegt auch daran, dass sich die Bevölkerungen im Westen transformiert haben, sie sind viel gemischter, multireligiös und multiethnisch geworden. Viele junge Leute mit unterschiedlichen Hintergründen verstehen gut, dass das westliche Denken und die kapitalistische Ökonomie uns in Sackgassen geführt haben. Das hat eine große Suche nach anderen Ressourcen und anderen Denkformen ausgelöst. Das finde ich sehr machtvoll.
Sehen Sie hier einen Weg, der Herausforderung, eine „Welt jenseits des Imperiums zu errichten“, wie Sie schreiben, zu begegnen?
Ich weiß, dass die Welt sich gerade nicht in diese Richtung bewegt. Trotzdem inspirieren mich die vielfältigen Bewegungen junger Leute, die sich eine Welt jenseits des Imperiums wünschen. Menschen sind sehr gut darin zu protestieren, aber es fehlt noch ein Weg, dieses politische Handeln auch zu institutionalisieren, also die Kraft von Massenmobilisierungen dazu zu nutzen, auch institutionelle Transformationen zu erreichen. Das ist in der augenblicklichen Konjunktur noch schwieriger geworden. Mit Blick auf die großen Aufstände der letzten 10 bis 15 Jahre ist das aber unsere Aufgabe.
Das Interview führte Katja Maurer.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!