Neben mir sitzt eine junge Medizinstudentin, eingeloggt ins ICE-WLAN, und sucht nach Famulatur-Stellen im Ausland. Ich schaue mir Billigflüge an. Korfu vielleicht? Die Welt ist ein offenes Buch, wenn man aus Deutschland kommt. Als Besitzer_innen eines deutschen Passes stehen wir fraglos mit der Welt per Du. Alles ist Freundesland, wenn man den richtigen Pass besitzt.
Das Ganze mutet komischen an, wenn man wie ich gerade von der Emanzipationstagung kommt, die u.a. die Humboldt Uni, die Technische Universität und medico international Ende Mai gemeinsam in Berlin organisierten. Darin eingebettet war auch der Festakt zum 50. medico-Jubiläum in der Urania. Komisch, denn medico musste im Vorfeld dieses Ereignisses einen schier aussichtlosen Kampf um Einreisevisa für die Kollegen aus Afghanistan und Sierra Leone führen, die in Berlin sprechen sollten. Dieser Kampf, der schließlich scheiterte, war eine tägliche Wasserstandsmeldung der Erniedrigung für medico und die beiden Direktoren unserer Partner aus Sierra Leone und Afghanistan, Abu Brima und Hadi Marifat. Schon die deutschen Auslandsbotschaften erwiesen sich als uneinnehmbare Hürde im Visums-Hindernislauf. Der Sicherheitsstaat funktioniert.
Die medico-Feier in der Urania
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Dabei schien doch die Globalisierung wenigstens ein Moment von Emanzipation aufzuweisen. Dass es nämlich immer wieder gelang, dass die Ausgeschlossenen für sich selbst sprechen. Auf der medico-Tagung Beyond Aid 2014 war das noch problemlos der Fall, als dort Shrin Saroor aus Sri Lanka und Romeo Ntamag aus Mali mit deutlichen Worten die Hilfsindustrie kritisierten und mitteilten, diese Hilfe wollten sie nicht mehr. Würden sie heute noch ein Visum bekommen? Oder können wir nur noch auf Leute wie den Künstler Kader Attia hoffen, der nicht nur einen algerischen, sondern auch einen französischen Pass besitzt und eine Art globale Ästhetik der Reparatur entwickelt hat. Eine Voraussetzung vielleicht, um einen neuen „kreolischen Kosmopolitismus“ (Georg Seeßlen) zu entwickeln.
Selbst sprechen
Es wäre eine Form der Reparatur gewesen, wenn Hadi Marifat über seine Arbeit in Afghanistan auf dem medico-Kolloquium „Emanzipation in der Katastrophe“ während der Berliner Konferenz hätte sprechen können. So musste medico-Kollege Thomas Seibert einspringen. Dass hätte gelingen sollen, denn er hat sich intensiv mit der Arbeit der afghanischen Kollegen beschäftigt und war mehrmals dort. Gerade aber wenn es um Emanzipation als Prozess individueller und gesellschaftlicher Befreiung von Herrschaft und der Weiterentwicklung eines zivilisatorischen Projekts geht, müssen die Ausgeschlossenen und ihre Repräsentant_innen selbst sprechen. Die Diskussion nach dem Beitrag von Thomas Seibert über Afghanistan bekam nämlich so eine merkwürdige Schlagseite. Sie geriet zur Methodendebatte deutscher Helfer_innen. Was die afghanischen Kolleg_innen tatsächlich umtreibt, geriet aus dem Blick. Ihre Arbeit an den Brüchen und Spaltungen in Afghanistan ist gefährlich. Sie riskieren sich selbst. Das wiederum ist eine radikal „andere Form der Wirklichkeitsbehauptung“, wie sie der Sozialpsychologe Harald Welzer auf einem anderen medico-Kolloquium während der Konferenz einforderte. Dagegen ist eine Debatte um Projektmethoden belanglos. Wäre Hadi Marifat in Berlin gewesen, wäre das deutlich geworden. So haben manche nur gehört, dass der afghanische medico-Partner auf das „Theater der Unterdrückten“ zurückgreift, wenn sie in städtischen und ländlichen Kommunen Opfern der Gewalt einen Raum zur Selbstreflektion und öffentlichen Wirksamkeit ermöglichen.
Vielleicht wäre auch etwas anderes deutlicher geworden, was Harald Welzer mit der „Transformation des Vorstellbaren“ so gut umschrieb. Emanzipation in der Katastrophe – das war beispielsweise eine dreitägige Untergrund-Universität zu aktuellen philosophischen Fragen an mehreren Orten in Afghanistan, an der allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda hunderte von Studierenden teilnahmen. Von all dem berichtete Thomas Seibert. Aber die politische Praxis von AHRDO ohne AHRDO geriet ungewollt in der Wahrnehmung einiger Diskutant_innen zu einer Projektperformance, denen sie in der Diskussion noch das Recht auf Theoriebildung als „Elitenprojekt“ absprachen.
Nicht nur Charity, sondern auch Theorie
Gerade an dieser Debatte wurde deutlich, warum der Begriff Emanzipation für eine Hilfe, die sich selbst überwinden will, so wichtig ist. Denn anders als „nachhaltige Entwicklung“ stecken in ihm die Befreiung und das Freilassen, die freie Autonomie der Einzelnen und ihre freiwillige Assoziation in Beziehungen und Gesellschaft. Das Bindeglied zwischen dem/der Einzelnen und der Gesellschaft – heute muss man sogar von Weltgesellschaft sprechen – ist die Solidarität über alle sozialen, kulturellen und nationalen Grenzen hinweg. Dazu braucht es dann nicht nur Charity, sondern auch Theorie. So wie sie unsere afghanischen Kolleg_innen praktizieren. Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung nannte das in ihrer Laudatio auf dem Festakt die „Befreiungshilfe“, an der medico seit vielen Jahrzehnten festhalte.
Befreiungshilfe und Befreiungspädagogik – alles Begriffe, die sich den 68ern und Folgenden verdanken – spielen heute in der sozialen Arbeit und internationalen Hilfe eine so marginale Rolle wie die Emanzipation selbst. Sabine Hark, Soziologie-Professorin an der TU Berlin und eine der bedeutendsten feministischen Forscherinnen in Deutschland, nannte in ihrem Beitrag auf dem Abschlusspanel der Konferenz mit Blick auf Claude Levi-Strauss Emanzipation „eine traurige Trope die sich erschöpft im Recht jeder und jedes Einzelnen, sich von den anderen zu unterscheiden.“ Statt einer nach vorne offenen Idee von Emanzipation bestimmen heute Resilienz und Empowerment entwicklungspolitische und sozialarbeiterische Konzepte. Fit Für die Katastrophe, so nannte sich ein Stiftungssymposium von medico, das sich damit kritisch auseinandersetzte.
Nicht nur deshalb lässt sich Emanzipation nicht fraglos ins Heute übernehmen. Auch deshalb, weil Bemühungen der Emanzipation in immer neue Formen der Herrschaft mündeten, worauf der Frankfurter Philosoph Christoph Menke verwies. Vielmehr auch wegen der jüngsten Erfahrungen mit der Trump-Präsidentschaft. Wendy Brown von der University of California sprach gar von einer „Emanzipation von rechts“, die sich von einer liberalen Hegemonie befreie hin zu einer völligen Enthemmung und zum Recht auf jede Form von Hass.
Rechte Emanzipation
Ob man, wie Wendy Brown vorschlug, die Emanzipation als Begriff aufgeben und durch Vernunft ersetzen solle, sei dahin gestellt. Dass aber die Anhänger_innen des Begriffes „Trauerarbeit“ (Sabine Hark) leisten müssen, ist klar. Dazu zählt nicht zuletzt die syrische Erfahrung eines Emanzipationsversuchs, der vorerst in einer noch härteren Autokratie geendet ist. Es delegitimiert nicht das Begehren, das in Hunderten von Basiskomitees in Syrien zum Ausdruck kam. Und der medico-Partner Omar Sharaf betonte zu Recht, dass Emanzipation als Begriff nur dann tauge, wenn seine Anhänger_innen auch in der Lage wären, die Biografien der Protagonist_innen und emanzipativen Ereignisse auch emotional in das kollektive Gedächtnis der Emanzipation zu inkorporieren. Das Begehren nach Freiheit und Demokratie, wie es in der syrischen Revolution mit ihren Basisstrukturen zum Ausdruck kam, die das Gemeinwohl mit Schulen und Krankenhäusern verantworteten, waren insofern „andere Formen von Wirklichkeitsbehauptungen“, die nicht durch ihr Scheitern delegitimiert werden. Sie fragten sich nicht, ob sie eine Chance auf Dauerhaftigkeit hatten, sie fanden in den Zwischenräumen eines anderen Möglichen einfach statt.
So wäre vielleicht auch Emanzipation weiter zu verteidigen. Die SPD-Politikerin und emeritierte Hochschuldirektorin Gesine Schwan, die in Berlin zum zweiten Mal bei einem medico-Panel zu Gast war, tat das auf eine erfrischende und unnachahmliche Weise mit der Wiederholung ihres Vorschlags, einen EU-Fonds einzurichten, aus dem Städte in Europa kommunale Angelegenheiten finanzieren könnten, wenn sie Geflüchtete aufnehmen. Als reformerische SPD-Politikerin ist sie tatkräftig dafür unterwegs und schmiedet Bündnisse. Eine unabdingbare Voraussetzung, um der Idee der Emanzipation eine tragfähige Praxis hinzuzustellen. Wenn sich diese Praxis, wie im Fall des Schwan-Vorschlags, entlang der großen Bruchlinien und Konflikte bewegt, sind Reformismus und Pragmatismus keine schlechten Bündnispartner_innen der Emanzipation.
Nicht ohne Postkolonialismus
Denn eine der wesentlichen Erkenntnisse der Konferenz war, dass Emanzipation nur zu retten ist, wenn sie um das postkoloniale Denken erweitert wird. Charles Mills von der City University of New York hielt dazu einen zentralen Beitrag unter dem Stichwort „Emancipation and Race“. Zu bedenken ist, dass der Diskurs in Deutschland in der Fokussierung auf die rassistischen Verbrechen der Nazi-Zeit weitestgehend stehen geblieben ist und die postkolonialen Debatten, die etwa eine Erweiterung der Kritischen Theorie um diese Fragen fordert, nicht genug berücksichtigt. Der vielleicht wichtigste postkoloniale Denker Achille Membe, der leider trotz Zusage doch nicht kommen konnte, hat in seinem Buch „Politik der Feindschaft“ einen tragfähigen Vorschlag gemacht. Er nennt Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in einer Reihung, um den neuen Nationalismus mit seiner Sicherheits- und Abgrenzungsideologie in seinem Kern zu beschreiben. Dieser Punkt fehlte auf der Konferenz. Es gibt hoffentlich Gelegenheit vor einem ähnlichen großen Auditorium – es waren weit über tausend Teilnehmer_innen dabei – weiter zu diskutieren.
Emanzipation aus der Katastrophe
Während anerkannte Wissenschaftler und vor allen Dingen Wissenschaftlerinnen – sie stellten zwei Drittel der Rednerinnen – sich auf der Tagung „Emanzipation“ sehr grundlegend und kritisch, soziologisch und philosophisch mit dem Begriff der Emanzipation auseinandersetzten, sollten die medico-Kolloquien emanzipatorische Praxis unter den gegenwärtigen globalen Bedingungen reflektieren. Dies sind eben vor allen Dingen Bedingungen des Ausschlusses, weshalb monatelange Bemühungen für unsere Kollegen aus Sierra Leone und Afghanistan, Abu Brima und Hadi Marifat, Visa zu erhalten, scheiterten oder wie im Fall von Hadi Marifat zu spät gelangen. Immerhin konnte Vera Malaguti, die Kriminologin aus Rio de Janeiro einreisen. Auf der Weltkarte der Exklusion gilt Brasilien noch als Schwellenland der westlichen Hemisphäre. Deshalb visafrei. Vera verwies auf die Verdienste der 68er Bewegung gerade in ihrem wissenschaftlichen Forschungsbereich. Denn so sei eine kritische Kriminologie entstanden, die beschreibt, wie das „Elend durch das Justizsystem verwaltet“ werde. Brasilien habe die drittgrößte gefangene Bevölkerung und die zweitgrößte Wachstumsrate bei Gefangenen. Die Gefangenen seien in Gefängnissen eingesperrt, die für die Hälfte der gegenwärtig dort Untergebrachten geplant gewesen seien. Und 40 Prozent von ihnen seien nicht einmal verurteilt. Es gehe nicht mehr um die Disziplinierung einzelner, sondern um die „Eindämmung und das Managment“ ganzer Bevölkerungsgruppen in Gefängnissen, Checkpoints, Warteschlangen vor Krankenhäusern oder Lebensmittelverteilungszentren. Alles Wartezonen, in denen die Zeit der Armen stillgestellt werde. Es müsse darum gehen den Ausgeschlossenen zu ermöglichen „Netze der Solidarität, Kooperation und Kraft zu bilden, die ihnen erlauben in die Legalität zurückzukehren.“ Und damit in die Sichtbarkeit.
Solidarität in der Katastrophe
Was, wenn die Apokalypse längst Realität ist? Dem kamerunischen Philosophen Achille Mbembe zufolge findet der Untergang der Welt, zugegen in Gewalt, Entbehrung und Aussichtslosigkeit, für einen großen Teil der Menschheit bereits statt. Auch wenn Mbembe kurzfristig absagen musste, hatte der Soziologe Stephan Lessenich nicht minder Drastisches zu diagnostizieren: Sein Begriff der Externalisierungsgesellschaft beschreibt, wie der globale Norden das Destruktive der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise auslagert und anderswo wirksam werden lässt. Die Verwüstung geschehe in aller Offenheit und diese Offenheit ist noch Teil ihrer Verdrängung. „Die globale weiße Ignoranz besteht darin, dass dies nicht einmal mehr schmerzt.“ Ein Ausweg? Man müsse das verdrängte Unheimliche anerkennen und selbstverständlich gewordene Lebensweisen ändern. Es gehe – wieder einmal, nun im 21. Jahrhundert – um eine „Politisierung des Alltags“. Einen Vorschlag in diese Richtung im Bereich der Flüchtlingsfrage machte die Politikwissenschaftlerin und Politikerin Gesine Schwan, indem sie noch einmal ihren Ansatz einer „dezentralen Ansiedlungspraxis auf Basis von Freiwilligkeit“ erläuterte. Angesichts des Versagens der nationalen Regierungen in Europa vor der Flüchtlingsfrage sollten die Kommunen berechtigt und befähigt werden, Flüchtlinge aufzunehmen – und hierfür mit Geld aus einem europäischen Fonds belohnt werden. „Man muss Solidarität mit Interessen verbinden“, so Schwan. Für Schwan liegt darin ein Potenzial zur Politisierung. Lessenich reichte das nicht, es sei nicht weit genug gedacht und gefordert. Solidarität in Katastrophe brauche eine Utopie als Fluchtpunkt. Und so wurde herzhaft gestritten.
Öffentlichkeit als globale Res Publica
Die Schrecken der Welt muten mitunter derart komplex an, dass ein lähmendes Ohnmachtsgefühl aufzukommen droht. Auf dem Podium des dritten Kolloquiums wurde allseits widersprochen. Der Soziologe und Verfechter eines Wandels zu einer nachhaltigen Moderne, Harald Welzer, verwarf die „Komplexitätsbehauptung als Komfortzone“: „Sich als Bürger eines demokratischen Rechtsstaats als entmächtigt zu imaginieren, ist arrogant.“ Die Überwältigung durch Teilprobleme funktioniere nur, weil man angesichts eines eklatanten Utopieverlustes nicht weiß, wohin man will. Sein Rezept: andere Wirklichkeitsbehauptungen aufstellen und auf die Möglichkeit anderer Verhältnisse pochen. Milo Rau und Eva Maria Bertschy vom International Institute of Political Murder konnten als Form einer Gegenöffentlichkeit auf ihre künstlerische Praxis verweisen, sei es, dass sie ein Tribunal über die Verbrechen im kongolesischen Bürgerkrieg abgehalten haben, sei es die Konstitution eines Weltparlaments von unten als „Repräsentation eines globalen dritten Standes“ vor einem Jahr in Berlin. Beides waren zwar symbolisch-artizifielle Akte, aber auch Setzungen. Als Aufführung einer wünschenswerten Wirklichkeit, so Rau, haben sie aber den Raum des Vorstellbaren erweitert und damit eine mögliche Zukunft vorweggenommen. Christin Lüttich bewegt sich seit Jahren im realen Grauen. Mit der Initiative Adopt a Revolution unterstützt sie die demokratische syrische Zivilgesellschaft. Ihr Aufstand und ihr Ausharren sei ein Akt der Selbstermächtigung. Dies müsse man aber auch wahrnehmen statt nur beklommen auf die Schurkereien des Assad-Regimes, Russlands und all der anderen Mächte zu schauen. Wer praktische Solidarität leiste, müsse es auch aushalten, sich in Widersprüchen zu bewegen. Dem sprang Harald Welzer bei: Das beste Mittel gegen Ohnmacht sei, etwas zu tun – wissend, dass man dabei Fehler machen kann und wird.