In diesen Tagen erinnerte ich mich an das erste Symposium über Gesundheitspolitik, das im Oktober 1979 in Brasilia stattfand, und an dem ich als Mitglied einer Delegation des brasilianischen Zentrums für Gesundheitsstudien (CEBES) beteiligt war. CEBES hatte sich 1976 mit dem Ziel gegründet, einen Raum für kritische Reflexion über Gesundheitsfragen zu schaffen, in dem ihre politischen, sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen berücksichtig würden. Es ging mitten in Diktaturzeiten darum, kritisches Denken im Bereich der Gesundheit zu entwickeln.
CEBES war damals die organisatorische und mobilisierende Kraft, aus der heraus sich eine einflussreiche Gesundheitsbewegung entwickelte. Gesundheit betrachteten wir nicht als einen Zustand. Das Binom Gesundheit/Krankheit war aus unserer Sicht ein historischer, multikausaler, dynamischer Prozess, der über die traditionellen Variablen des medizinisch-klinischen oder epidemiologischen Modells hinausgehen musste. Später fand sich manches davon in dem Konzept der „sozialen Determinanten von Gesundheit“ wieder, das in der WHO diskutiert und verabschiedet wurde. Die damaligen Debatten in Brasilien gingen allerdings weit über offensichtliche Beziehungen von Gesundheit und sozialem Status hinaus. Am Ende stand 1988 der Vorschlag zur Gründung eines einheitlichen Gesundheitssystems – Sistema Único de Saúde (SUS) – , das in Verfassungsrang erhoben wurde.
Unser Vorschlag trug nicht den Titel „für eine neue Gesundheitspolitik“. Er hieß: „Die demokratische Frage im Gesundheitswesen“. Das war mehr als nur ein Verweis auf die damalige Militärregierung. Es trug der Tatsache Rechnung, dass Demokratie ein Kernaspekt von Gesundheit darstellt. Der Vorschlag für ein einheitliches Gesundheitssystem revolutionierte mit seinem politischen und sozialen Ansatz die Art, wie in Brasilien über das Thema nachgedacht wurde. Seither sind Gesundheit und Demokratie miteinander verbunden: Gesundheit ist Demokratie – Demokratie ist Gesundheit. Gesundheit war damit nicht mehr auf die Behandlung von Krankheiten oder die Förderung gesunder Lebensgewohnheiten beschränkt, es war ein Ansatz, Leben zu schaffen. Es ging nun um die materiellen und symbolischen Bedingungen des Lebens, der Arbeit, des Zusammenlebens und um öffentliche Räume wie Institutionen und ihren Umgang miteinander.
Im historischen Kontext des Kampfes um die Redemokratisierung des Landes war das SUS das konkrete Projekt, um Gesundheit als Recht aller und als Pflicht des Staates zu garantieren. Das brasilianische Gesundheitssystem vor der Einführung des SUS kann man sich heute kaum noch vorstellen. Es war hochgradig elitär, privat finanziert und ausschließend. Sein Schwerpunkt lag auf rein kurativer, spezialisierter Medizin und war auf Krankenhäuser fixiert. Nur die Reichsten hatten Zugang. Die anderen waren mittellos, unglücklich, der Gnade öffentlicher Wohltätigkeit oder dem guten Willen des Staates überlassen. Dem gegenüber bedeutete Universalität Zugänglichkeit für alle.
Hinzu kam das integrale Verständnis. Im Rahmen des SUS sollte sich der komplexe soziale Prozess zwischen physischen und psychischen, zwischen sozialen und biologischen Ursachen von Erkrankungen spiegeln. Gesellschaftliche Teilhabe sollte durch die Einrichtung von Gesundheitsräten gewährleistet werden, die heute auf kommunaler, staatlicher und nationaler Ebene bestehen. Klare und egalitäre Kriterien sollten die Beteiligung von demokratisch gewählten Vertreter*innen der Gesellschaft sowie der Dienstleistungsanbieter*innen und des Staates gewährleisten, um einen umfassenden Prozess der Partizipation und der sozialen Kontrolle zu entwickeln. Diese Räte sollten die Grundlagen, Prinzipien und Prioritäten der Gesundheitspolitik innerhalb ihres Territoriums und ihres Geltungsbereichs definieren. Gleichzeitig gab es Gesundheitskonferenzen. Auch sie sollten kein Treffpunkt von Autoritäten und Experten sein, sondern einen Prozess der Konsultation und der sozialen Konstruktion initiieren. Es ging nicht nur um neue Gesetze, Normen und Vorschriften, sondern um einen institutionalisierten Prozess, kritisches Denken zu verankern. Auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit und der Psychiatrie-Reform war die „Demokratische Psychiatrie“ des italienischen Psychiaters Franco Basaglia wesentlicher Bezugspunkt. Deshalb übernahmen wir im Rahmen des SUS auch das Grundprinzip, dass Menschen mit psychischen Leiden ein Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung besitzen. Der Prozess der brasilianischen Psychiatriereform gilt als weltweit beispielhaft.
In der Praxis traten Probleme auf, die vor allen Dingen in der misslichen Finanzierung bestanden und bestehen. Daran hat keine Regierung bis heute etwas geändert. Während der private Gesundheitssektor auf geradezu manische Weise gestärkt wurde, blieb das öffentliche System unterfinanziert. Zudem wird es beharrlich, selbst von Gewerkschaften oder linken Parteien, als ineffizient denunziert. Trotzdem hat das SUS überlebt. Es widersetzt sich den ständigen Privatisierungsangriffen. Sein Widerstand erhält sich in den partizipatorischen Prozessen, in den Gesundheitsräten und Konferenzen, die noch immer aus Ideen der Gesundheitsbewegung der 1980er Jahre gespeist werden. Hier sind die ethischen Grundsätze, die Verpflichtung auf die Prinzipien der kollektiven Gesundheit, als Recht der Gesellschaft und als Pflicht des Staates, tief verankert. Deshalb ist das SUS, so angegriffen und zersplittert es sich darstellt, in der Pandemie wie ein Phönix aus der Asche auferstanden und hat seine Fähigkeit zur Fürsorge, zur Achtung des Lebens, zum Zuhören und zur Solidarität unter Beweis gestellt. Und daher steht die Verteidigung des SUS wieder auf der politischen Agenda. Denn in ihm werden die Prinzipien und revolutionäre Praktiken eines Gemeinwesens verteidigt, das sich der kapitalistischen Zerstörung des Lebens widersetzt.
Paulo Amarante
Paulo Amarante ist Psychiater, war lange Präsident des medico-Partners Brasilianisches Zentrum für Gesundheitsstudien CEBES und ist einer der Pioniere der Psychiatriereform in Brasilien.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!