medico: Nach 17 Jahren hast du die Leitung an deinen Kollegen Till Küster übergeben, im kommenden Jahr wirst du auch die regionalen Zuständigkeiten abgeben. Ein Blick zurück: Was hat sich bei medico in den vergangenen Jahren aus deiner Sicht verändert?
Karin Urschel: Ausgehend von dem immer schon breiten Verständnis von dem, was Gesundheit ausmacht und erfordert, ist es gelungen, dies auch in neuen Feldern zu erproben. 2006 etwa haben wir die Arbeit im Bereich Flucht und Migration aufgenommen, die seither stetig an Bedeutung gewonnen hat. In den vergangenen Jahren ist der Bezug auf feministische Bewegungen stärker geworden. Und die Klimakrise bzw. das Thema Klimagerechtigkeit stehen auch seit einigen Jahren verstärkt auf der Agenda. Es ist gut, dass es medico gelungen ist, solche Entwicklungen aufzugreifen und mit zu befördern. Auffällig auch, wie sehr die Abteilung und medico insgesamt gewachsen sind. Wir haben im Moment in 33 Ländern aktive Partnerschaften, das ist deutlich mehr als Anfang des Jahrtausends. Neben der Erweiterung der thematischen Arbeitsbereiche sind auch Kooperationen in neuen Regionen entstanden.
Bei medico gibt es aktuell eine andere Veränderung: Die Abteilung, der du so lange vorstehst, hat sich umbenannt. Aus der „Projektabteilung“ ist die „Abteilung für transnationale Kooperation geworden“. Wie ist es dazu gekommen?
In der Abteilung hat schon vor vielen Jahren eine Debatte darüber begonnen, ob der Begriff Projekt eigentlich zu unserem Verständnis von Zusammenarbeit mit unseren Partner:innen im Globalen Süden passt. Und wir sind uns einig, dass der Begriff für Missverständnisse sorgt und Verkürzungen mit sich bringt.
Der Reihe nach: Was ist missverständlich?
Projekt klingt danach, als würde man punktuell zusammenkommen, etwas fertigstellen und dann wieder auseinandergehen. So arbeiten wir aber gar nicht. Wir unterstützen emanzipatorische Prozesse mit offenem Ende. Und wir gehen mit unseren Kooperationspartner:innen Beziehungen ein, die länger halten sollen, als es eine Maßnahme vorsieht. Mit der Landlosenbewegung in Brasilien arbeiten wir jetzt seit 16 Jahren zusammen. Formal läuft das über Projekte und Folgeprojekte. Worum es aber geht, ist eine politische Verbundenheit, die über die Zeit trägt. Ein anderes Beispiel: Im Zuge des Syrienkrieges ging es auch darum, Leute aus dem Land zu holen. Das haben wir gemacht. Aber das ist kein „Projekt“. Natürlich kann man alles in die Form eines Projektes gießen – Maßnahmen formulieren, Budgets kalkulieren, Finanzierungsrichtlinien festlegen und ähnliches. All das tun wir immer wieder. Vieles, was unsere Zusammenarbeit ausmacht, was wir teilen und versuchen, zusammen aufzubauen, hat aber nichts mit Geld zu tun. Für mich ist das das Entscheidende: Unsere Partner:innen und uns verbindet viel mehr als Projekte. Die Betonung liegt auf dem „viel mehr“. Hinzu kommt, dass der Projektbegriff ein traditionelles Geber-Nehmer-Verhältnis suggeriert. Auch das entspricht weder unserer Vorstellung von Zusammenarbeit noch der unserer Partner:innen. So wie diese sich nicht als „Umsetzer:innen von Projekten“, sondern als politische Akteur:innen verstehen, so ist es auch bei uns: Auch medico sieht sich als politisch handelnde Organisation und nicht primär als Bewilligungsinstanz.
Gleichwohl gibt medico das Geld – oder eben auch nicht. Wird dieses Machtverhältnis in einem Begriff wie Kooperation nicht unsichtbar?
Wir können und wollen gar nicht verleugnen, dass wir in der Rolle sind, hier durch Spenden oder Zuschüsse erhaltene Gelder weiterzugeben. Es geht auch nicht darum, so zu tun, als gäbe es keine Machtunterschiede und als würde man sich, nur weil man es sich wünscht, automatisch auf Augenhöhe begegnen. Was man aber tun kann, ist, die Bedingungen der Zusammenarbeit zu reflektieren und sich permanent um eben jene „Augenhöhe“ zu bemühen. Voraussetzung dafür ist es, die Initiativen, Organisationen, Bewegungen oder Netzwerke, mit denen wir zusammenarbeiten, als eigenständig agierende politische Akteur:innen zu respektieren.
Wie stehen die Partner:innen dazu?
Eine gewisse Skepsis gegenüber der Unterstützung in Form von Projekten ist bei einigen immer schon da gewesen. Die Umbenennung ist aber von niemandem an uns herangetragen worden, der Antrieb kommt aus der Abteilung selbst. Ich will aber auch betonen: Projekt ist kein Begriff des Teufels und wir fördern auch Projekte. Nach Katastrophen wie den Tsunamis in Indonesien oder den Erdbeben in Haiti haben wir klar umrissene Nothilfeprojekte durchgeführt. Doch auch in akuten Krisensituationen zielt unser Konzept der kritischen Nothilfe darauf, Prozesse und Kräfte zu fördern, die über den Tag hinaus wirken. Und es sind eben genau die über lange Jahre aufgebauten Partnerschaftsbeziehungen, die es auch in akuten Nothilfesituationen ermöglicht haben, schnelle Hilfe zu organisieren. Für uns sind Projekte schon lange eben auch eins: Inseln der Vernunft. Und nicht Teil eines neoliberalen Projektmanagements.
Hätte die Abteilung auch vor 15 Jahren schon anders heißen können und sollen?
Die Umbenennung holt eine Entwicklung nach, die schon lange läuft. In ihr kommt zum Ausdruck, dass sich das Denken weiterentwickelt. Aber sie läutet kein neues Programm ein. Sie weist darauf hin, dass Projekte ein zwar noch notwendiger Teil der Zusammenarbeit sind, aber eben nicht der wichtigste – und auch ein schwieriger. Tatsache ist, dass wir in verschiedensten Kontexten beobachten, dass das Denken und Arbeiten in Projekten die Arbeit unserer Partner:innen segmentiert und die Gefahr birgt, sie zu entpolitisieren. Auf der ständigen Suche nach Finanzierungsquellen werden sie in Projekte gedrängt, die zum Teil nicht ihre sind – nur um ihre Struktur zu finanzieren, die sie zur Erreichung ihrer Ziele benötigen. Deshalb bin ich auch froh darüber, dass es uns inzwischen immerhin häufiger möglich ist, auch mehrjährige institutionelle Förderungen zuzusagen und Zusammenarbeiten zu vereinbaren. Das ist noch eine Frage des Haushaltsmanagements, wie oft uns das gelingen kann. Aber es ist wünschenswert.
Vor zehn Jahren gab es bei medico gerade mal zwei „institutionelle Förderungen“, bei denen nicht einzelne Maßnahmen, sondern eben Organisationsstrukturen finanziert werden. Inzwischen sind es sehr viel mehr. Darin zeigt sich doch ein veränderter Ansatz.
Das stimmt. Und gleichzeitig spiegeln sich darin die erweiterten Möglichkeiten, die medico inzwischen hat. Man muss allerdings auch sagen, dass für viele unserer Kooperationspartner:innen eine institutionelle Förderung keine passende Form der Unterstützung ist, weil mit ihr bestimmte Anforderungen wie eine Gesamtwirtschaftsprüfung einhergehen. Eine soziale Bewegung etwa wird das gar nicht wollen. Ich sag es mal so: Wir schätzen institutionelle Förderung. Aber sie passt nicht für alles und alle. Und selten beginnt eine Zusammenarbeit auf diese Weise. Eine institutionelle Förderung ist Ausdruck erprobter Nähe.
Du hast betont, wie wichtig die Unterstützung lokaler Partnerorganisationen bleibt. Man kann doch sehr wohl sagen, dass Vernetzungsarbeit für medico wichtiger geworden ist.
medico verfolgt diesen Ansatz schon lange, das zeigt zum Beispiel das starke Engagement im People’s Health Movement. Aber tatsächlich hat sich der Vernetzungsgedanke im Zuge der Globalisierung und auch mit der Herausbildung neuer sozialer Bewegungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkt. So wie anfangs Weltsozialforen Ausdruck stärkerer transnationaler Vernetzung wurden, so hat sich auch bei uns etwas geändert. Ich würde allerdings niemals sagen, dass jetzt alles zu einem Netzwerk werden muss. Ob wir regionale Treffen von Partner:innen organisieren, grenzüberschreitende Treffen fördern, zu Konferenzen einladen oder wie in Südafrika ein Programm fördern, in dem mehrere und ganz unterschiedliche Partner:innen über Jahre zusammenarbeiten: Uns geht es dabei stets darum, Verbindungen zu schaffen und den Austausch von Erfahrungen und Perspektiven zu stärken. Auch der transnationale Newsletter, den es jetzt seit einem Jahr gibt, soll dazu beitragen, sich anders und besser miteinander in Dialog zu begeben. Es geht um einen Dialog, der nicht mehr nur auf eine deutsche, sondern eben auch auf eine transnationale Öffentlichkeit zielt. Dass sich dieses Verständnis stärker in unserer Arbeit umsetzt, ist gut. Und dass sich das nun auch in einem neuen Namen der Abteilung niederschlägt, passt dazu.
Interview: Christian Sälzer
17 Gemeinsame Jahre
Ein Rückblick
Als Karin Urschel vor 17 Jahren bei medico als Leiterin der Projektabteilung anfing, brachte sie einen eindrücklichen Berg an Erfahrung im Ausland mit. Für die Heinrich-Böll-Stiftung und ihre Vorgängerinnen hatte sie zuerst das Zentralamerika-Büro in El Salvador aufgebaut – das war noch zu Zeiten der Befreiungsbewegungen – und später das Büro in Brasilien.
Ich bin mehrmals mit ihr in Brasilien gewesen und habe nicht nur von ihrer profunden Kenntnis der politischen Landschaft und der sozialen Bewegungen profitiert, sondern auch von ihrem klaren Verständnis für mögliche Gefahrensituationen. Sie erzählte hin und wieder die Geschichte, wie bewaffnete Jugendliche ihre Autotür geöffnet hatten und ihre Tasche stehlen wollten, und sie die Tasche so lange festhielt, bis der Trupp unverrichteter Dinge abzog. Sie habe dabei zwei Fehler gemacht. Erstens, das Auto nicht abgeschlossen und zweitens, die Tasche verteidigt. Aber manchmal kann man eben gegen seinen Charakter nicht an. Karin ist eine Frau, die sich nicht so leicht geschlagen gibt. Auch bei hohem eigenen Risiko.
Der Mut von Karin hat unsere Zusammenarbeit in den vielen medico-Jahren getragen. Dabei wurden manchmal Entscheidungen getroffen, die sie nicht teilte oder gern länger abgewogen hätte. Aber einmal gefallen, war es für sie nie eine Frage, dass sie alles daran setzen würde, die Sache zu einem guten und erfolgreichen Ende zu bringen: Die Einrichtung eines medico-Büros in Ramallah, darunter auch die Unterstützung für einen Büroleiter mit israelisch-jüdischer Herkunft, der unbedingt in Ramallah leben wollte, was hoch umstritten war; oder die Arbeiten in Haiti nach dem Erdbeben, deren Komplexität und die Fragilität der Partner:innen eine enorme Herausforderung darstellten und einen wichtigen Lernprozess in der Organisation auslösten.
Ihre Idee war es, einhundert Haitianer:innen des Bauernverbands „Tet Kole“ auf die Schulen der brasilianischen Landlosenbewegung zu schicken, wo sie sowohl politische Bildung wie auch Ausbildung in ökologischem Landbau erhielten. Ganz nebenbei gab es auch noch Erfahrungen zu machen, wie eine nichtpatriarchale Organisationskultur aussehen kann. Alle einhundert Frauen und Männer kehrten nach Haiti zurück und sind – soweit wir wissen – im Bauernverband weiterhin aktiv. Dass es in einer so volatilen Situation wie in Haiti vielleicht besser ist, in Menschen und ihre Entwicklung zu investieren, als Häuser zu bauen, darauf war kaum eine Hilfsorganisation gekommen.
Karin Urschel hat medico entscheidend geprägt. Auf diesem Fundament lässt sich weiter bauen.
Katja Maurer
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!