Bosnien-Herzegowina wird in der deutschen Öffentlichkeit zurzeit vor allem als Teil der sogenannten Balkanroute thematisiert – zuletzt nach dem Brand des Flüchtlingslagers Lipa im Dezember 2020. Für die sich daraufhin abzeichnende humanitäre Notlage machte der damalige Landesdirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Peter Van der Auweraert vor allem die komplizierten politischen Strukturen Bosniens verantwortlich: „Die aktuelle Situation in Lipa ist das Ergebnis der Unfähigkeit der staatlichen Behörden in Bosnien und Herzegowina auf allen Ebenen zu einer Einigung zu kommen.“ Er vernachlässigte dabei, was die Verhältnisse für flüchtende Personen in den westlichen Balkanstaaten überhaupt erst derart prekär macht: die Integration in eine Strategie der Externalisierung, der Auslagerung der eigenen Grenzen durch die Europäische Union. Durch rechtswidrige und oftmals brutale Zurückweisungen an den Außengrenzen durch europäische Grenzpolizeien, sogenannte Pushbacks, entstehen in den westlichen Balkanstaaten Zonen, in denen flüchtende Personen an der Weiterreise nach Zentraleuropa gehindert werden. Oft sind sie dort monate- oder sogar jahrelang unterwegs und verbleiben für die meist begrenzte Dauer ihres Aufenthalts in einem rechtlichen Zustand der Illegalität.
Bosnien-Herzegowinas Rolle in diesem Regime der Ausgrenzung scheint abseits seiner Funktion als Transitstaat – wenn überhaupt – nur am Rande wahrgenommen zu werden, oft wird es unterschiedslos als Teil oder zumindest Anhängsel der Europäischen Union dargestellt. Das wirkt angesichts der Geschichte und der gegenwärtigen Realität des Landes paradox: Es ist nicht nur durch einen Bürgerkrieg, sondern auch selbst von Migrationsbewegungen geprägt, die aus Perspektivlosigkeit und ökonomischer Prekarität hervorgehen. Und: Bosnien-Herzegowina ist kein Mitgliedstaat der Europäischen Union, seine Einwohner*innen genießen auch nicht die Freizügigkeit des Schengen-Raums. Stattdessen sind sie bis heute institutionell fremdbestimmt, denn Bosnien-Herzegowina steht noch immer unter der Schirmherrschaft der internationalen Gemeinschaft. Was bedeutet das für die Einbindung Bosnien-Herzegowinas in das europäische Regime der Abschottung?
Nidžara Ahmetašević, bosnische Journalistin und promovierte Politikwissenschaftlerin in Sarajevo, beschreibt im Interview die Reaktion der Menschen in Bosnien-Herzegowina auf die zunehmenden Zahlen flüchtender Menschen ab 2018 – trotz einer schlechten ökonomischen und politischen Situation im Land – als sehr positiv. Viele Einheimische zeigten sich damals solidarisch: „Ich war positiv überrascht“, sagt sie. Allerdings gab es – wie am Beispiel Lipa zu beobachten – große Probleme in der Etablierung offizieller Versorgungsstrukturen, die es angesichts der steigenden Zahlen Hilfsbedürftiger eigentlich gebraucht hätte. Das liegt weniger an fehlendem Geld als an der Komplexität des politischen Systems und schlicht mangelndem politischen Willen. Die Verantwortung für die Asyl- und Migrationspolitik liegt bezeichnenderweise beim bosnischen Sicherheitsministerium, welches den Asylstatus verleiht.
Das komplizierte Asylsystem manifestiert Bosniens Rolle als Transitland: Einen gesicherten Asylstatus zu bekommen ist sehr schwer und nur Wenigen vorbehalten, sogar Syrer*innen erhalten im besten Fall nur subsidiären Schutz. Berichte über Abschiebungen in autoritär regierte Herkunftsländer mehren sich, beispielsweise von Kurdinnen und Kurden in die Türkei. Ebenfalls besorgt zeigt sich Ahmetašević über die sichtbare und einflussreiche Rolle der IOM in Bosnien-Herzegowina, die – hauptsächlich durch die EU finanziert – immer mehr den Charakter einer in den Grenzgebieten agierenden parastaatlichen Institution annimmt. Sie betreibt nicht nur temporäre Flüchtlingsunterkünfte wie in Lipa, sondern ist auch für die Finanzierung und die Ausbildung von Sicherheitskräften und lokalen Polizeieinheiten zuständig.
Bosnien-Herzegowinas komplizierte politische Struktur ermöglicht es in einigen Fällen, flüchtende Menschen ohne Prüfung ihres Asylstatus und ohne dokumentiertes Asylverfahren in der Europäischen Union in ihre Herkunftsländer abzuschieben oder auf eine „freiwillige“ Rückkehr zu setzen, die ebenfalls von der IOM organisiert wird. Es zeichnet sich ab, dass das in der Zukunft eher noch zunehmen wird. Aber wie kam es überhaupt zu dieser dysfunktionalen Struktur?
Im Inneren der Festung Europa
Die einflussreiche Rolle der IOM kann als Ausdruck einer historischen Kontinuität internationaler Machtausübung in Bosnien-Herzegowina gelesen werden. Diese zeigt sich auch in der Verfassung, die durch den international ausgehandelten Friedensvertrag von Dayton konstituiert ist, mit dessen Unterzeichnung 1995 in der Praxis der Krieg in Bosnien beendet und das erste Halb-Protektorat in der modernen europäischen Geschichte geschaffen wurde. Er ist das Herzstück einer komplexen politischen Struktur, die sich über einen Staat, drei Entitäten, verschiedene Bezirke und Kantone erstreckt. Die höchste formale Macht im Land obliegt dabei allerdings immer bei einem Mitglied der internationalen Gemeinschaft: „Wir haben sehr viele Wahlen in Bosnien-Herzegowina – viel mehr, als wir brauchen“, erklärt Ahmetašević. „Wir haben alles und mehr. Insgesamt sind es über 160 Minister*innen und drei Präsidenten. Über allen schwebt das Amt des Hohen Repräsentanten [der internationalen Gemeinschaft], der die Macht hat, sie abzusetzen, Gesetze zu verabschieden und alle möglichen anderen Entscheidungen zu treffen.“
Der Hohe Repräsentant von Bosnien-Herzegowina ist seit August diesen Jahres Christian Schmidt, ehemaliger Abgeordneter der CSU-Bundestagsfraktion, der sich besonders auf sicherheits- und migrationspolitische Fragen spezialisiert hat. Bis heute sei das Büro des Hohen Repräsentanten als einziges politisches Organ in Bosnien-Herzegowina in der Lage, den Friedensvertrag juristisch zu interpretieren und durchzusetzen, kritisiert Ahmetašević. Wenn eine Entscheidung auf dessen Grundlage gefällt werde, sei es in der Praxis sehr schwierig, vor Gericht dagegen vorzugehen. Auch das Wahlverfahren dieses Organs sei für die Bürger*innen Bosniens sehr intransparent, niemand mache sich die Mühe, darüber aufzuklären. Man spürt die Wut, die sie angesichts der politischen Situation im Land befindet – und für die sie die internationale Gemeinschaft mitverantwortlich macht.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Ämter, Kommissionen und Büros, die durch internationale Politiker*innen bekleidet werden, das Büro des EU Special Representative in Sarajevo ist sogar das zweitgrößte EU-Büro nach Brüssel. Seit 2016 befindet sich Bosnien-Herzegowina zwar offiziell im Beitrittsprozess für die Europäische Union. Das ist mit bestimmten Auflagen verbunden, die sich mit jeder neuen Europäischen Kommission verändern – auch das sorge für eine Menge Hin und Her und destabilisiere den politischen Prozess weiter, so Ahmetašević.
Am Beispiel der Protestwellen 2014 erläutert sie, wie sich diese groteske Überregulierung auf die Bevölkerung auswirkt. Damals forderten tausende Menschen den Rücktritt der Regierungen – auf allen administrativen Ebenen. Gleichzeitig bildeten sich im ganzen Land selbstorganisierte Bürger*innen-Versammlungen: Orte, an denen Angehörige unterschiedlicher Ethnien miteinander ins Gespräch kamen, miteinander verhandelten, mit Demokratie experimentierten. Auf Drängen der internationalen Gemeinschaft blieben aber alle Politiker*innen im Amt.
Irgendwann haben Leute angefangen, vor der US-amerikanischen Botschaft zu protestieren. Als Ahmetašević die Protestierenden gefragt habe, warum sie ausgerechnet dorthin gegangen seien, sagten sie: Wir wissen nicht, wohin wir sonst gehen sollten. Wer ist überhaupt verantwortlich hier? „Das ist das perfekte Bild von Bosnien-Herzegowina 25 Jahre nach dem Krieg.“ Diese Überregulierung, die Intransparenz der politischen Prozesse und die Wechselhaftigkeit der politischen Entscheidungen befeuern den Diskurs der Nicht-Regierfähigkeit Bosnien-Herzegowinas, obwohl die Proteste von 2014 eigentlich gezeigt haben, dass es in der Bevölkerung einen Willen zu politischer Veränderung und zum Austausch untereinander gibt. Die verschiedenen durch internationale Politiker*innen besetzten politischen Ämter haben jedenfalls offenbar nicht dazu beigetragen, die Situation in Bosnien-Herzegowina demokratischer zu gestalten – im Gegenteil scheint der Ab- bzw. Unwählbarkeit des formal höchsten politischen Amtes im Land etwas inhärent Anti-Demokratisches anzuhaften. „25 Jahre lang hat die Europäische Union mich demokratisiert“, sagt Ahmetašević, „Vielleicht sollte ich jetzt der EU etwas über Demokratie erzählen. Aber ich bräuchte erst ein Visum.“
Eine eingefrorene Region
Ähnlich wie in anderen Hotspots an den europäischen Außengrenzen hat sich auch in Bosnien-Herzegowina die Präsenz von NGOs und kleineren, oft autonom agierenden internationalen Gruppen seit 2018 spürbar erhöht. Und auch darin zeigen sich historische Kontinuitäten zu den 1990er Jahren, sagt Ahmetašević. Die humanitäre Hilfe scheint jedoch nach wie vor nicht dazu beizutragen, tatsächlich etwas an den Strukturen zu ändern, die diese Hilfe nötig machen. „Damals wie heute kamen Menschen mit den besten Absichten. Trotzdem sind die mitverantwortlich für das Chaos, in dem ich heute leben muss. Niemand macht sich die Mühe, die Hölle des Lebens in einem Halb-Protektorat zu verstehen oder was es bedeutet, im Inneren der Festung Europa eingesperrt zu sein. Seit Ende des Krieges haltet ihr uns aus Europa heraus, und ich habe niemanden schreien gehört.“
Ihre Erzählungen machen deutlich, wie demütigend es ist, nicht zu wissen, ob man ins vier Stunden entfernte Zagreb reisen, die vollständige Souveränität über die eigene Regierung haben, jemals vollständiger Teil Europas sein darf. „Die Europäische Union ist überall um uns herum, wir sind in der Mitte Europas. Warum werden wir ausgeschlossen?“ Aufgrund anhaltender Perspektivlosigkeit verlassen viele junge Menschen die Region, das Gesundheitssystem – im sozialistischen Jugoslawien noch eines der besten weltweit – ist schlecht, wirklich linke Positionen finden sich weder im Parlament noch in einer organisierten Zivilgesellschaft, Nationalismus und Korruption sind auf dem Vormarsch. Neben einer anhaltend starken parlamentarischen Rechten gibt es auch eine Radikalisierung junger Menschen, die an die ethnisch konstruierten Trennlinien vorheriger Generationen anknüpft. Die Wunden des Genozids und des Krieges sind noch frisch. Statt eine Heilung und gegenseitige Anerkennung zu fördern, habe die internationale Gemeinschaft mehr Wert auf eine gründliche Säuberung von sozialistischen Überbleibseln gelegt. Heute, sagt Ahmetašević, sei die ganze Region wie eingefroren.
Es existieren natürlich unterschiedliche Meinungen zum Erfolg oder Misserfolg der Intervention in Bosnien-Herzegowina. Es gibt Stimmen, die froh sind, dass bestimmten Politiker*innen aufgrund von Korruptionsvorwürfen oder rechtsextremen Positionen untersagt wird, ihr Amt weiter auszuführen. Die Ambivalenz gegenüber der internationalen Gemeinschaft ist auch in Ahmetaševićs Worten erkennbar: „Wir hatten nie wirklich die Chance, darüber nachzudenken, dass wir vielleicht nicht in den Krieg zurückmüssen, dass hier auch Frieden herrschen könnte. Wir haben überhaupt keinen Raum, darüber nachzudenken, so allgegenwärtig ist die Angst vor dem Krieg. Dann willst du allen sagen: Bitte bleibt hier. Bitte geht nie mehr weg. Ihr wollt mehr Militär? Bringt mehr Militär! Ihr wollt mehr Macht? Okay, nehmt sie, aber bitte lasst mich nie wieder zur Zielscheibe werden.“
Die von Ahmetašević verwendete Formulierung „im Inneren der Festung Europa“ kann als eine Artikulation der einschließenden Ausgrenzung gedeutet werden, die sich in eine lange Tradition der (neo-)kolonialen Stereotypisierung der Balkanregion einreiht und die Maria Todorova in Abgrenzung zum Orientalismus als „Balkanismus“ bezeichnet hat. Dazu gehört das Postulat des „Wilden Balkans“, dessen Bevölkerung unfähig sei, sich selbst zu regieren. Die Affirmation eines parastaatlichen Akteurs wie der IOM durch die EU ist dazu unbedingt in Zusammenhang zu setzen. Sie gibt Auskunft darüber, wie die Europäische Union Bosnien-Herzegowina in ihre sicherheitspolitischen Strategien der Abschottung integriert, die dem Zweck dienen, Migrationsbewegungen zu kontrollieren und letztlich zu unterbinden. Denn auch hier verschleiern und reproduzieren Rassismen und Stereotypisierungen globale Machtverhältnisse und geostrategische Interessen. Eine europäische Linke, die es mit dem Kampf um das Recht auf Bewegungsfreiheit ernst meint, muss sich indes auch mit dieser spezifischen Form der Stereotypisierung auseinandersetzen. Dazu gehört es, die Perspektiven zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in den Balkanländern wahrzunehmen und anzuhören.
Christin Stühlen ist in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international tätig und seit ihrer Gründung im April 2020 in der Initiative Balkanbrücke aktiv.