Hanau

Mein Sohn

28.08.2020   Lesezeit: 3 min

Serpil Temiz Unvar über ihren Sohn Ferhat, der bei dem rassistischen Anschlag in Hanau vor sechs Monaten starb.

Diese Rede hielt Serpil Temiz Unvar am 22. August 2020 auf der Kundgebung in Hanau. Nachdem die geplante Demonstration verboten worden war, wurde sie im Internet gestreamt und an vielen Orten gehört.

Ich bin Serpil, die Mutter von Ferhat.

Keiner entscheidet sich mit welcher Nationalität er geboren wird. Keiner entscheidet sich für schwarze oder blonde Haare. Wie kann es sein, dass das ein Grund dafür ist zu morden?

In dieser Nacht lag mein Sohn über eine sehr lange Zeit hinter der Theke im Kiosk und keiner hat nach ihm geschaut. Das geht nie aus meinem Kopf, wie lange er da gelegen hat und niemand war bei ihm.

Ich hätte ihm noch so vieles sagen müssen. Wir dachten ja immer, wir haben noch so viel Zeit. Wir haben so vieles erlebt, in diesem kurzen Leben meines Sohnes und vieles davon tut mir immer noch weh.

Ich denke so viel darüber nach, wie oft wir uns über die Schule gestritten haben.

Ferhat war ein hochbegabtes Kind. Sehr intelligent. Und sehr lebendig. Manchmal war es nicht einfach mit ihm. Es war ihm schnell langweilig. Und er hatte seinen eigenen Kopf.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Lehrer ein hochbegabtes Ausländerkind oft nicht akzeptieren. Ferhat hat immer wieder diese Erfahrung gemacht. Und ich habe immer wieder zu ihm gesagt: Du musst mehr arbeiten als die anderen, weil Du nicht die gleichen Chancen hast wie die deutschen Kinder. Er hat sich sehr angestrengt. Aber wenn er gespürt hat, dass die Lehrer gegen ihn waren, dann hat er es nicht aushalten können. Viele Lehrer hassen ausländische Kinder. Und Kinder merken das.

Sein Mathelehrer hatte sich zum Bespiel damals so sehr über ihn aufgeregt, dass er zu mir gesagt hat: "Entweder er geht von der Schule oder ich gehe von der Schule."

Am Ende hat Ferhat seinen Abschluss an einer anderen Schule gemacht. Mit sehr guten Noten. Er war einer der besten. Er wollte gerne ein Studium machen. Das war sein großes Ziel.
Er war wirklich ein Kämpfer, mein Sohn.

Wir kämpfen weiter für unsere Kinder. Wir müssen viel dafür tun, dass andere Kinder und Eltern nicht diese Erfahrung machen müssen. Wir müssen das verändern. Für die Zukunft so vieler anderen Kinder. Das ist die große Aufgabe, die mir bleibt. Lasst uns das zusammen schaffen.

Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende sein, das Ende rassistischer Angriffe. Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas neuem. Von Schulen ohne Rassismus und von einem Zusammenleben in dem wir alle gleiche Rechte haben.

Wenn wir das geschafft haben, dann werde ich am Grab meines Sohnes stehen und ihm davon erzählen. Ich werde ihm sagen: Das war Dein Kampf und Du hast es geschafft.

Welche Mordtaten in einer rassistischen Stimmung gedeihen, zeigen die Anschläge von Halle und Hanau. Nicht zur Tagesordnung überzugehen ist deshalb Aufgabe einer Zivilgesellschaft, zu der sich medico zählt. Die Erinnerung an die Ermordeten von Hanau wachzuhalten, ist Unterstützung für die Angehörigen und Einsatz gegen Rassismus zugleich. medico beteiligt sich daran mit der finanziellen Unterstützung für eine sich in diesem Sinne politisch verstehenden psychosozialen Beratung in Hanau.


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