Sie nannten sie „Flüchtlingskanzlerin“, obwohl – abgesehen von einem sehr kurzen Herbst offener Grenzen – während ihrer Amtszeit eine Asylrechtsverschärfung auf die andere folgte. So wurde beispielsweise die Abschiebung von kranken Menschen erleichtert und der Nachzug von Familienangehörigen erschwert. Keine noch so hartherzige Politik zum Nachteil von Asylsuchenden hielt die AfD und ihr rechtsextremes Umfeld jedoch davon ab, der deutschen Bundeskanzlerin gebetsmühlenartig zu unterstellen, sie vertrete eher die Interessen der Geflüchteten als der Eingeborenen und arbeite langfristig auf einen Bevölkerungsaustausch hin. Eine abstruse Meinungsmache, die erschreckend wirkungsvoll war.
Ähnlich verhält es sich jetzt mit der Kritik am Migrationspakt der Vereinten Nationen, über den seit zwei Jahren verhandelt wird. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die ähnlich abwegige Kritik daran genau jetzt laut wird, wo Angela Merkel ihren Rückzug angekündigt hat. Vielleicht braucht die extreme Rechte einfach eine neue Pappkameradin, an der sie sich abarbeiten kann und hat sich dafür die ohnehin geschwächte UNO ausgesucht. Vielleicht ist man auch einfach deswegen dagegen, weil Angela Merkel dafür ist.
Haltlose Unterstellungen
Weder die Unterstellung, der Migrationspakt untergrabe die nationalstaatliche Souveränität, noch der Vorwurf, er verwische die Grenzen von Flucht und Migration oder von „legaler“ und „illegaler“ Migration, lässt sich anhand des Dokuments belegen. Schon gar nicht ist der Pakt darauf ausgerichtet, Migranten und Migrantinnen aus aller Welt Tür und Tor in das deutsche Sozialsystem zu öffnen und ihnen ebenso wie anerkannten Flüchtlingen einen Schutzstatus zu gewähren. Im Gegenteil: Es wird betont, dass die staatliche Souveränität unangetastet bleibt; Flüchtlinge und Migrant_innen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus werden nur insoweit in einem Atemzug genannt, als dass für alle die Menschenrechte gelten; und anstelle erhöhter Anziehungskraft für Migrant_innen ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Pakt im Gegenteil die Migration nach Deutschland erschweren und Rückführungen erleichtern wird.
Die haltlosen „Argumente“ gegen den Pakt werden dennoch hemmungslos verbreitet und offenbar gerne geglaubt. Für die Regierungen der USA, Australiens, Ungarns, Österreichs, Polens, Tschechiens und Kroatiens sind sie sogar Grund genug, sich vom Migrationspakt zu distanzieren. Weitere Länder werden voraussichtlich folgen. Die Liste liest sich wie das Who-is-Who flüchtlingsfeindlicher, nationalistischer und rassistischer Regime des globalen Nordens. Die Opposition gegen den Pakt scheint eine willkommene Gelegenheit zu sein, sich in Gegnerschaft zu einer gemeinsamen Feindin – so schwach und zahnlos die UNO auch ist – international zu verbünden.
Deutsche Politikerinnen und Politiker positionieren sich
In Deutschland haben sich eine Reihe von CDU-Politikerinnen und -Politiker (sowie Sahra Wagenknecht von der Linkspartei) der AfD-Kritik am Migrationspakt angeschlossen. Spekulationen über taktische Motive in parteiinternen Machtkämpfen sind wohlfeil. Interessant sind vielmehr die Argumente, die von konservativer Seite zur Verteidigung des Pakts formuliert werden. So bekräftigte die Bundeskanzlerin, der Migrationspakt sei ein „Beitrag zur Eindämmung illegaler Einwanderung“, und auch Stephan Harbarth, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU im Bundestag, sieht darin die Chance, „den Migrationsdruck“ für Deutschland zu reduzieren. „Wir wollen, dass Migranten auch in anderen Ländern bleiben und sich nicht auf den Weg nach Deutschland machen.“
Man muss sich fragen, warum die AfD und ihr Umfeld genau diesen Effekt des Paktes beharrlich ignorieren, obwohl der doch in ihrem Sinne sein müsste – genauso wie sie es mit den Asylrechtsverschärfungen unter Angela Merkel getan haben, die für sie trotz allem nach wir vor als „Flüchtlingskanzlerin“ gilt.
Den Pakt verteidigen – aber aus den richtigen Gründen
Die Ablehnung des Migrationspaktes aus kruden Gründen lässt nun Befürworter_innen und differenzierungsfähige Kritiker_innen zusammenrücken. Von konservativen und neoliberalen Kräften aus CDU und FDP über SPD, Grüne und Linkspartei bis hin zu zivilgesellschaftlichen Akteurinnen stellt sich ein sehr breites Bündnis hinter den Pakt. Dabei sind aus einer linken, menschenrechtsbasierten Perspektive die Ziele, die Konservative und Neoliberale damit verbinden, alles andere als begrüßenswert. Ebenso wenig stimmt es aus dieser Perspektive hoffnungsvoll, dass der Pakt nicht verbindlich ist, denn die Umsetzung all der durchaus richtigen Forderungen nach einer Stärkung der Rechte von Flüchtlingen wie Migrant_innen, nach dem Ausbau legaler Migrationswege, der Beseitigung von Rassismus und Diskriminierung und der wirkungsvollen Anerkennung eines Zusammenhangs zwischen Klimaveränderung und Migration wird dadurch nicht wahrscheinlicher.
Ein Interesse an der Beendigung „illegaler Einwanderung“, was Angela Merkel betont, gibt es rechts wie links, aber mit unterschiedlicher Stoßrichtung: Die einen kriminalisieren oder viktimisieren Migrant_innen und Flüchtlinge und begründen eine Strafverfolgung von Schlepperei und Menschenhandel sowie eine Aufrüstung von Grenzen damit; die anderen fordern die Legalisierung der betroffenen Menschen und das Überflüssigmachen von Schlepperei und Menschenhandel durch die Erleichterung legaler Grenzübertritte. Die Differenzen sind so grundlegend und vielfältig, dass sie schwerlich in einem einzigen Pakt eingeebnet werden können, und doch ist es richtig, am Pakt – und damit an der gemeinsamen Verantwortung der Staatengemeinschaft für Migrant_innen – festzuhalten. Dass dabei wichtige Forderungen geschliffen werden, ist allerdings mehr als ein bedauerlicher Nebeneffekt.
Der Flüchtlingspakt im Windschatten des Migrationspaktes
Und dann ist da ja noch was: Der Flüchtlingspakt. Für Flüchtlinge gibt es bereits die Genfer Flüchtlingskonvention mit ihren Zusatzprotokollen, aber parallel zur Entwicklung des Migrationspaktes laufen seit zwei Jahren auch die Verhandlungen über einen Flüchtlingspakt, der aktuellen Fluchtbewegungen Rechnung tragen soll. Auch dieser Pakt soll im Dezember verabschiedet werden, bekommt angesichts der Aufregung um den Migrationspakt jedoch kaum Aufmerksamkeit. So kann es sein, dass im Windschatten der Scheingefechte um den Migrationspakt ein weiterer Pakt verabschiedet wird, der die Bekämpfung von Fluchtursachen weiter den Herkunftsländern überlässt, ohne endlich die Verantwortung des globalen Nordens in Rechnung zu stellen; der die Aufnahme von Flüchtlingen weiterhin an die Länder des globalen Südens delegiert, wo sich 85 Prozent aller Flüchtlinge weltweit aufhalten, und der den Zugang zum globalen Norden nicht vom Schutzbedarf der Menschen sondern vom Arbeitskräftebedarf hiesiger Märkte abhängig macht.
Flüchtlingslager als neue Absatzmärkte?
Der UN-Prozess zur Entwicklung der beiden Pakte verfolgte einen Multistakeholder-Ansatz, der nicht nur Nichtregierungsorganisationen, sondern auch die Privatwirtschaft einbezog. „While some companies feel a moral imperative or responsibility to act, the sheer size of the refugee community also represents a clear business opportunity“, hieß es 2016 in New York bei den ersten Treffen der Privatwirtschaft zu den geplanten Globalen Pakten. Ein Unternehmen wie Vodafone erhielt dort die Gelegenheit, Tablets zu präsentieren, mit denen es bis 2020 bis zu drei Millionen Kinder in Flüchtlingslagern erreichen will. Die Flüchtlingslager wurden dabei freilich nicht offen als neue Absatzmärkte gefeiert, sondern das Ganze wurde philanthrokapitalistisch als Bildungsoffensive verkauft. Das heißt: Konzerne wie Vodafone, die ständig auf der Suche nach neuen Absatzmärkten sind und ihren Kundinnen und Kunden jedes Jahr ein neues Smartphone versprechen, das – wie alle Smartphones – auf Rohstoffausbeutung im globalen Süden basiert und damit zur Schaffung von Fluchtursachen beiträgt, haben an Migrations- und Flüchtlingspakt mitgestrickt.
Wie kann man eine Kritik an den Pakten äußern, z.B. am Einfluss der Wirtschaft auf UN-Prozesse, ohne zusätzliches Wasser auf die Mühlen derer zu kippen, die den Multilateralismus ablehnen? Wie kann man ihre Vor- und Nachteile diskutieren, wenn sich Medien und Öffentlichkeit doch lieber an dem hanebüchenen Gekeife der AfD abarbeiten? Ist es am Ende besser, sich zum Schutz der Vereinten Nationen vor den abstrusen Angriffen der Rechten einfach für die Pakte auszusprechen und die philanthrokapitalistische Unterwanderung von UN-Institutionen als kleineres Übel hinzunehmen? Ist die Wahl zwischen Pest und Cholera überhaupt noch eine Wahl?