Der Zusammenbruch erfolgt so schnell, dass man kaum nachkommt. Fielen gestern Ghazni und Herat an die Taliban, wird es heute Kandahar sein: im Augenblick wird dort nur noch der Flughafen gehalten. Zugleich stolz und verächtlich präsentieren die Taliban der Presse Ismail Khan, bis gestern noch einer der mächtigsten Warlords und Koordinator des Widerstands, jetzt als ihren Gefangenen. Binnen einer Woche haben sie 11 Provinzhauptstädte erobert, heute stehen sie 150 Kilometer vor Kabul. Ebenso schnell entzieht sich der Westen jeder Verantwortung. Dem fluchtartigen Rückzug der Truppen folgt konsequent der politische Rückzug: telefonisch habe die US-Regierung, so war gestern Nacht zu hören, den amtierenden afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani zum Rücktritt aufgefordert – er solle den Weg zur Bildung einer Übergangsregierung - schon mit Taliban-Beteiligung - frei machen.
Dass die USA gleichzeitig 3000 Elitesoldaten neu ins Land bringen, steht dazu nicht im Widerspruch. Sie sollen nichts als die Evakuierung des Personals der amerikanischen Botschaft und ihrer afghanischen Hilfskräfte schützen. Das Angebot, dabei auch Afghan*innen auszufliegen, die im Dienst anderer Westmächte standen, hat die deutsche Regierung abgelehnt: man kümmere sich selbst, heißt es. Das wird sich zeigen. Im ZDF-Interview erklärte Außenminister Maas wortwörtlich, dass Deutschland nur unmittelbar bei Bundeswehr und Botschaft beschäftigte Afghan*innen schützen werde. Die Zahl der Mitarbeiter*innen afghanischer NGOs liege bei Zehntausenden: um die könne man sich nicht auch noch kümmern. Heißt im Klartext: Afghan*innen, die sich in den letzten Jahren aktiv für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben und deshalb jetzt von Folter und Tod bedroht sind, werden ihrem Schicksal preisgegeben. Aus. Denn hierzulande ist Wahlkampf. Deshalb, so der deutsche Außenminister wiederum wortwörtlich, werden in Deutschland lebende, aber straffällig gewordene Afghan*innen auch weiter abgeschoben: wo kämen wir denn da hin?
Als die ZDF-Journalistin fragt, was geschehen wird, wenn die Taliban wie angekündigt ein Kalifat mit Scharia errichten, antwortet Deutschlands Minister des Äußeren: „Wir werden keinen Cent mehr geben, wenn die Taliban das Land übernommen haben.“ Ende gut, alles gut.
Kaum begonnen, schon vorbei?
Vor zwei, drei Tagen schien es allerdings noch eine andere Option zu geben. Es schien nicht ausgeschlossen, dass sich ein erheblicher Teil der ethnisch und religiös zerspaltenen afghanischen Gesellschaft in konzertierter Aktion der Talibbewegung entgegenstellen würde. Das galt vor allem für jüngere Menschen, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben, sondern unter den westlichen Freiheits- und Entwicklungsversprechen aufgewachsen sind. Sie alle wollten auf gar keinen Fall unter das Regime eines „Befehlshabers der Gläubigen.“ Nicht wenige waren bereit, dazu auch ihr Leben zu riskieren. Öffentlich gezeigt haben das besonders junge Frauen, die sich in den letzten Tagen in mehreren Städten des Landes bewaffnet an die Spitze kleinerer, doch entschlossener Demonstrationen stellten. Die Aktivist*innen des medico-Partners Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) bemühten sich fieberhaft um ein Kommunikationsnetzwerk, das Widerstandswillige landesweit verbinden sollte. Gemeinsames Ziel war es, den Afghan*innen eine Stimme zu geben, die sich in eigenem Namen zu Wort melden wollen: gegen die Taliban wie gegen die Warlords und auch gegen die ebenso korrupte wie handlungsunfähige Regierung. Für Demokratie und Menschenrecht.
Sie alle wussten, dass sie im Prinzip keine Chance hatten – und wollten doch genau dieses „so gut wie keine Chance“ nutzen, gestützt auf nichts als den eigenen Mut. Dazu hätten sie ein paar Tage mehr gebraucht. Die hat man ihnen genommen. Jetzt geht’s ums Überleben: der Flughafen Kabul, so heißt es, wird wohl noch eine Woche auf sein.
Währenddessen wird in Doha weiter verhandelt. Schlusslos, weil die Taliban bei ihrem Nein bleiben. Einem Nein zur Möglichkeit, in Afghanistan einen föderalisierten Bundestaat nach Schweizer Modell zu schaffen, also einen lockeren Bund weitgehend autonomer Teilstaaten. Das ist der Vorschlag, den AHRDO und andere Aktivist*innen der Demokratiebewegung unterstützt haben. Den auch die Hazara unterstützen, die größte unter den kleineren ethnischen Gruppen. Religiös der Schia verbunden, geht es den in der Mitte des Landes lebenden Hazara um die Rettung vor drohendem Genozid seitens der anderen, religiös der Sunna verbundenen ethnischen Gruppen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Zahl der Hazara auf weniger als die Hälfte reduziert. Deshalb hat sich in den letzten Jahres ein enges Bündnis zwischen ihnen und den Demokratieaktivist*innen der anderen ethnischen Gruppen herausgebildet. Auch diesem Bündnis wird jetzt die Zukunft genommen. Die Hazara verfügen über eigene bewaffnete Formationen. Talibanangriffe konnten sie bisher zurückschlagen.
Was zu tun bleibt
medico hat den Einmarsch der westlichen Armeen im Jahr 2001 abgelehnt, im Wissen darum, dass Demokratie und Menschenrecht nicht herbeigebombt werden können. Nach dem Einmarsch und dem Sturz des ersten Talibanregimes haben wir gefordert, konsequent alle Bürgerkriegsparteien zu entwaffnen: als Grundvoraussetzung der Möglichkeit der Afghan*innen, sich Demokratie und Menschenrecht selbst anzueignen. Dazu kam es nicht. Als sich trotzdem eine afghanische Demokratiebewegung herausbildete, haben wir deren Aktivist*innen unterstützt. Erst in der Minenräumung, dann in dem langen und mühseligen Prozess um eine Verständigung von unten, quer zu den ethnischen, politischen und religiösen Spaltungslinien. Im Frühjahr 2017 haben wir gemeinsam mit AHRDO eine „Untergrunduniversität“ durchgeführt. In Kabul und in Bamiyan, der Hauptstadt der Hazara, kamen damals Hunderte von Studierenden zusammen, um aus der besonderen afghanischen Perspektive über die „Dialektik der Aufklärung“ zu diskutieren. „Wir suchen“, so sagte uns AHRDO’s Programmdirektor Hadi Marifat damals, „Anschluss an die internationalen linken Debatten. Das ist es, was wir jetzt brauchen.“
Heute brauchen Hadi und seine Mitstreiter*innen Ausreisevisa, um wenn nötig in letzter Minute aus Kabul herauszukommen. „Noch wissen wir nicht“, sagt uns Hadi gestern am Telefon, „ob wir das wirklich tun werden. Die Entscheidung ist eine Sache weniger Tage. Wenn, dann haben wir alles verloren, was wir seit 2009 aufgebaut haben.“
Gleich nach unserem letzten Telefonat schickte uns Hadi ein Video zu. Zu sehen ist dort Mahbouba Seraj, Gründerin des Afghan Women‘s Network, eine der bekanntesten Frauenrechtler*innen des Landes. Sie sagt: „Schämt Euch. Schande über die ganze Welt für das, was ihr Afghanistan angetan habt. Warum habt Ihr das getan? Waren wir in Euren Händen nichts als ein Spielball? Eigentlich möchte ich gar nicht mehr mit Euch reden. Die Zeit, zu reden, ist vorbei. Wir haben gesprochen, wir haben gefragt, wir haben gefordert. Ihr habt Eure dummen Entscheidungen ohne uns getroffen. Ihr zerstört alles, wofür wir so hart gearbeitet haben. Ihr widert uns an.“
Hadi, Mahbouba und ihre Mitstreiter*innen werden sich jetzt vor den Taliban retten müssen. Wir werden versuchen, ihnen zu helfen. Was aber ist mit all‘ denen, die nicht über solche Verbindungen verfügen? Die schutzlos dem ausgeliefert sind, was jetzt kommt?
Auch wenn wir sicher in Frankfurt sitzen, geht es uns in einem Punkt wie Hadi und Mahbouba: Was sollen wir sagen? Für heute nur dieses: Zu weiteren Abschiebungen darf es auf keinen Fall kommen. Die Abgeschobenen müssen zurückgeholt werden. Afghan*innen, die hier sind, müssen sicher bleiben können. Wer aus Afghanistan fliehen muss und will, soll verdammt nochmal fliehen können. Das wenigstens sollten die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union garantieren. Wenigstens das.
medico-Partner:innen in Afghanistan
Seit Wochen stehen wir mit unseren Partner:innen in Kabul in ständigem Austausch und unterstützen sie bei den Vorbereitungen auf das Schlimmste. Dazu gehören auch Sicherheitstrainings, Visa-Beschaffung für eine Ausreise in letzter Minute und die Rettung des umfangreichen Archivs mit vielen hochsensiblen Dokumenten: die dürfen den Taliban nicht in die Hände fallen, sie dürfen aber auch nicht verloren gehen. Ob und wie die Arbeit der medico-Partner in Kabul zukünftig weitergeführt werden kann, vermögen wir heute nicht zu beurteilen. Unterstützen werden wir unsere Parrtner:innen: So gut es geht und hier wie dort.
Spendenstichwort: Afghanistan