Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy segelte am 28. Oktober in den „Utopischen Raum“ im medico-Haus noch mit dem historischen Wind im Rücken, der sie von Paris nach Frankfurt getragen hatte. Am Tag zuvor nämlich hatte sie der feierlichen Übergabe des französischen Staates von 25 überlebensgroßen Statuen aus Benin beigewohnt, die als geraubte Kulturgüter aus der Kolonialzeit dem Herkunftsland zurückgegeben wurden. Savoy hatte mit dem senegalesischen Sozialwissenschaftler Felwine Sarr 2018 einen Bericht für die französische Regierung verfasst. Auf dieser Grundlage fand diese erste Übergabe statt. Für die Französin war dies ein bedeutsamer Tag. Sie verglich ihn mit dem Fall der Mauer.
In ihrem quicklebendigen Vortrag schilderte sie den langen Prozess der Debatten und Auseinandersetzungen um die Rückgabe der geraubten Güter insbesondere am Beispiel deutscher Museen. Deren Archive würden sehr viel hergeben, weil alles mit Aktennotizen dokumentiert sei. Dokumentiert sind damit vor allem die Wege und Mittel, mit denen die deutschen Museumsdirektoren die Rückgabe der Kulturgüter verweigerten – eine Forderung, die mit Beginn der Dekolonisierung vor allem in Afrika mit Nachdruck erhoben wurde. Savoys Forschung passt gerade sehr gut in die generelle Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Museen, wie sie beispielsweise das Deutsche Historische Museum in zwei Ausstellungen über die Geschichte der documenta und die Verwicklung ihres Gründers, Werner Haftmann, in den Nationalsozialismus sowie über die „Gottbegnadeten“ Künstler des Nationalsozialismus und deren unbekümmertes Weiterarbeiten in der Bundesrepublik betreibt.
Die kolonial geprägte Arroganz vieler Museumsdirektoren (die Verwendung des männlichen Generikums ist hier angebracht – es waren nur Männer) gegenüber Rückgabeforderungen aus den sich entkolonisierenden Ländern entpuppte sich in Savoys Forschung als frappierend. Ihr zuhörend, fragte man sich, was geschehen wäre, wenn der Neuanfang dieser Länder auch mit der Rückgabe einhergegangen wäre und der damit verknüpften Anerkennung der Verantwortung der ehemaligen Kolonialherren für die begangenen Verbrechen. Es brauchte 50 Jahre bis heute, um erste Schritte in eine Richtung zu gehen, die den ehemaligen Kolonien ein Stück ihres kulturellen Erbes zurückgibt, dessen materielle Substanz sich fast komplett in den Museen und im Privatbesitz der ehemaligen Kolonialmächte befindet. Der Vergleich mit dem Mauerfall ist also nicht abwegig.
Dieser lange Kampf, den Savoy anhand wunderbarer Fundstücke illustrierte, ist auch ein Teil der medico-Geschichte. Denn in den 1980er-Jahren gab es bereits eine öffentliche Kampagne für die Rückgabe der Kulturgüter, an der sich medico intensiv beteiligt hatte. Savoy zeigte Ausschnitte aus der damaligen Talkshow „Fünf nach Zehn“ im ZDF, die man sich allein wegen ihres offenen Endes im heutigen durchformatierten Fernsehen nicht mehr vorstellen kann. Es ging um Raubkunst. Eine illustre Runde aus vielen Experten und einer Expertin tauschte eben die Argumente aus, die auch heute noch im Raum stehen.
Savoy machte in ihrem Vortrag darauf aufmerksam, dass die über Jahrzehnte durchgehaltene Weigerung der Rückgabe der Werke (abgesehen von der Entschädigung) den Ländern nicht nur das eigene kulturelle Gedächtnis verweigerte – ganz im Sinne der imperialen Geschichtswissenschaften und ihrer Behauptung von der Geschichtslosigkeit der Kolonien. Sie schloss sie auch vom globalen Ausstellungsbetrieb aus. Dieser funktionierte über den Austausch von Leihgaben aus den eigenen Museumsbeständen. Man muss also von einer systematischen Verweigerung von Teilhabe an den wie auch immer strittigen Errungenschaften der Moderne sprechen.
Bénédicte Savoy sprach im Rahmen des dritten Jahresprogramms der Debattenreihe „Der Utopische Raum“, die von der stiftung medico international gemeinsam mit dem Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau organisiert wird. Das Jahresprogramm steht unter dem Motto „Kritik der kolonialen Denkungsart – Auf dem Weg zu einem transkulturellen Bewusstsein“.