Im Zuge ihrer neoliberalen Transformation seit den 1970er Jahren haben sich Staaten in vielen Regionen der Welt auf ihre Kernkompetenz Sicherheitspolitik beschränkt und die Sozialpolitik anderen überlassen. Zum Teil war dieser Prozess Resultat expliziter politischer Prioritätensetzungen, zum Teil hatten schwache Staaten nicht die Ressourcen, um diesen Bereich auch noch kontrollieren zu können.
Die Lücke staatlicher Politik wurde von Nichtregierungsorganisationen gefüllt, die insbesondere im Gesundheitsbereich Staatsfunktionen übernommen haben. Seit einiger Zeit versuchen Regierungen allerdings, diesen Bereich zurückzuerobern – und NGOs zurück zu drängen. Damit einher gehen mehr staatliche Kontrolle, mehr bürokratische Hürden und zum Teil mehr Repressalien. Folge ist eine Einschränkung demokratischer Freiheiten, die von sozialen Bewegungen und auch NGOs erkämpft worden sind.
„Shrinking spaces“
„Shrinking spaces“ heißt das in politischen Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen. Vergangene Woche fand bei medico im Kontext eines internationalen Workshops zur Gesundheit in der humanitären Hilfe auch eine Gesprächsrunde zu den Erfahrungen der medico-Partner damit statt.
Beispiel Libanon: Das Recht, eine Vereinigung zu gründen, ist im Zedernstaat hoch angesehen, das NGO-Gesetz gilt als eines der besten in der arabischen Welt. Der Registrierungsprozess ist einfach und viele Organisationen arbeiten einfach ohne Anmeldung. Durchgesetzt würden Gesetze ohnehin kaum, sagt Virginie Lefèvre von medico-Partner AMEL. Angesichts der syrischen Krise und den hohen Summen, die an Hilfsgeldern ins Land kommen, um geflohene Syrer_innen zu versorgen, gibt es aber Bestrebungen in der Regierung, die Kontrolle zu verschärfen.
Die Regierung wirft den NGOs Intransparenz und mangelnde Qualität ihrer Arbeit vor. „Zum Teil ist die Kritik berechtigt“, bestätigt Virginie. Vor allem aber wolle die Regierung ihren Teil vom Kuchen abhaben. So soll erreicht werden, dass alle Hilfsgelder durch staatliche Hände gehen. Ob ein solches Eingreifen angesichts der grassierenden Korruption aber sinnvoll wäre, bezweifelt Virginie. Der Demokratie würde es in dem Falle wohl kaum helfen.
Dass staatliche Kontrolle nicht per se schlecht ist, darüber sind sich die Teilnehmer_innen des Gesprächs aber einig. medico-Projektreferentin Sabine Eckart berichtet aus Mali, wo der Staat kaum präsent sei und dadurch sehr viel Raum für NGOs entstehe. Das aber führe zu einer Beliebigkeit der Akteure, die auch nicht helfe.
Eine Frage der Demokratie
Auf den Philippinen trugen Nichtregierungsorganisationen maßgeblich zur Demokratisierung nach dem Ende der Diktatur in den 1980er Jahren bei, erzählt Rosalinda Tablang vom philippinischen medico-Partner SOS. Dabei wurden manche Organisationen aber direkt in Regierungsprojekte eingebunden und verloren damit ihre Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit. Diese Gefahr bestehe auch in Sri Lanka noch, wo progressive Organisationen, darunter medico-Partner, eine führende Rolle beim „regime change“ vom Januar 2015 gespielt haben und seither eng mit der neuen Regierung verbunden sind. Entscheidend dafür war, dass es nach der mit massiven Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen einhergehenden Zerschlagung der Tamilen-Guerilla den Mut zu einem neuen, gemeinsamen Projekt gab, berichtet medico-Öffentlichkeitsarbeiter Thomas Seibert.
„Schon mehr Solidarität miteinander wäre wichtig“, sagt medico-Partner Itai Rusike von der Community Working Group on Health (CWGH) in Simbabwe. Im Land sind so viele internationale NGOs aktiv, aber sie unterstützen kaum lokale Organisationsstrukturen. Mit ihren Kontakten und Ressourcen schließen die internationalen Akteure stattdessen die lokalen NGOs aus. „Und wenn wir angesichts der Cholera-Krise doch zu einem Runden Tisch eingeladen werden, kommt als erstes die Frage, wieviel Geld wir einbringen.“
Solidarität mit wem?
Eine Präzisierung fordert medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer: „Solidarität mit wem?“ Es gebe schließlich nicht immer einen Konflikt zwischen Zivilgesellschaft und Staat, sondern oftmals eher zwischen politischen Positionen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind eben nicht per se progressiv.
Projektkoordinatorin Usche Merk ergänzt, dass nicht für alle Organisationen die Räume kleiner werden. Shifting statt shrinking? „Auch unter den NGOs gibt es regierungstreue Profiteure.“ Deren Räume würden eher größer, während vor allem vor allem Menschenrechtsorganisationen bedroht seien. Stimmt, sagt Virginie, auch im NGO-Land Libanon seien Organisationen, die Menschenrechte und die Rechte der LGBTI*-Community vertreten, am ehesten bedroht.
Deutsche Post-Demokratie
Bei der Debatte um „Shrinking spaces“ wird in der Regel auf außereuropäische Länder verwiesen, höchstens Ungarn taucht noch in der Negativliste auf. Doch wenn das Frankfurter Finanzamt attac die Gemeinnützigkeit entzieht, weil das globalisierungskritische Netzwerk zu politisch sei, dann zeigt das eine ähnliche Entwicklung. Deutsche Post-Demokratie.
Hier wie in der Zusammenarbeit mit unseren außereuropäischen Partner_innen ist Solidarität gefragt: gegenseitiger Schutz durch Vernetzung. Eben nicht mit der Zivilgesellschaft an sich, sondern mit progressiven Akteuren, die für Menschenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit kämpfen.
* Lesbian, Gay, Bi, Transgender, Intersexual.