Europäische Grenzpolitik

Zweierlei Maß

30.05.2022   Lesezeit: 5 min

Über die Aufnahme der einen und die Abwehr der anderen Flüchtlinge in Polen – und die fortschreitende Kriminalisierung von Flucht und Fluchthilfe an den Außengrenzen der EU.

Von Kerem Schamberger

und Ramona Lenz

In Polen hat sich nach Ausbruch des Krieges im Nachbarland Ukraine eine beeindruckende Willkommenskultur und -praxis entwickelt. Bis Ende April hat das Land mehr als 2,8 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine empfangen. Sie wurden willkommen geheißen von der Zivilgesellschaft, aber auch vom Staat. Der polnische Grenzschutz veröffentlichte Bilder, auf denen er den Ankommenden die Koffer trägt und erschöpfte Menschen stützt, damit sie sich über die Grenze in Sicherheit bringen können.

Es ist schwierig, diese Gesten der Gastfreundschaft und Solidarität mit dem Geschehen an der polnisch-belarussischen Grenze nur wenige hundert Kilometer nördlich zusammenzubringen. Im Herbst 2021 campierten dort Tausende Flüchtlinge in der Hoffnung, in der EU aufgenommen zu werden. In seinem Konflikt mit dieser hatte der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko sie ermutigt und in die Region bringen lassen. Es sind Menschen, die sich aus Ländern wie Afghanistan, Irak, Ägypten, Sudan, Jemen, Türkei oder auch aus Lateinamerika auf den Weg gemacht haben. Während sie immer wieder versuchten und von belarussischer Seite auch dazu gedrängt wurden, über die Grenze und damit in die EU zu gelangen, erklärte Polen den Ausnahmezustand und das Grenzgebiet zum Sperrgebiet. Fortan wurden die Schutz suchenden Menschen, die Krieg und Gewalt in ihren Herkunftsländern entkommen wollten, im abgeriegelten Niemandsland von zwei Armeen hin- und hergetrieben. Und die EU bleibt hart.

Inzwischen hat Polen einen massiven Grenzzaun errichtet und ist die Situation dort aus den hiesigen Medien verschwunden. Noch immer aber befinden sich Flüchtlinge im Grenzgebiet. Einige sind in den weiten Wäldern des Grenzgebiets auch erfroren. Und die, die es nach Polen schaffen und aufgegriffen werden, landen häufig in sogenannten „Detention Centers“, wo die Bedingungen schlechter sind als in polnischen Gefängnissen. Etwa 2.000 Menschen sitzen dort derzeit fast ohne Kontakt zur Außenwelt ein, ohne zu wissen, wann sie entlassen werden. Zunehmend geht die PiS-geführte Regierung auch gegen Menschen vor, die die unerwünschten Flüchtlinge unterstützen. Im März wurden acht Personen – ein Italiener, drei Ukrainer und vier polnische Staatsangehörige – festgenommen, weil sie Flüchtlingen beim Grenzübertritt aus Belarus geholfen haben sollen. Ihnen drohen bis zu acht Jahren Haft. Auch Aktivist:innen des von medico unterstützten Menschenrechtsnetzwerks Grupa Granica sind von den Repressionen betroffen.

Eine polnische Aktivistin bringt die Brutalität des Grenzregimes auf den Punkt, mit der viele Menschen, die Flüchtlinge unterstützen, konfrontiert sind: „Wir können die Menschen nicht mitnehmen oder sie an einen sicheren Ort bringen. Das wäre eine kriminelle Handlung. Aber es ist kein Verbrechen, diese Menschen ihrem langsamen Tod zu überlassen.“ Und angesichts der unterschiedlichen Behandlung von Menschen an der ukrainischen und der belarussischen Grenze sagt ein anderer Aktivist: „Es ist, als gäbe es in einem Land zwei verschiedene Länder mit völlig unterschiedlichen Regeln: In einem werden Menschen gerettet, in dem anderen drohen sie im Wald zu sterben.“

Die Kriminalisierung von Flucht und Fluchthilfe an den Grenzen der Europäischen Union nimmt stetig zu. Zum Beispiel auf dem Weg nach Malta, dem kargen Inselstaat ganz im Süden Europas. Die libysche Küste ist von dort nur etwa 350 Kilometer entfernt. In dem vom Krieg zerrissenen Land warten Tausende Menschen auf eine Chance, sich in Europa in Sicherheit bringen zu können. Doch auf dem Weg dorthin zeigt sich das alltägliche Gesicht der europäischen Grenzpolitik: Wer sich aufmacht, wird per Pushback zurückgewiesen. Mehrere Zehntausend Fälle dieser die Menschenrechte und das Recht auf Asyl verletzenden Praxis wurden alleine auf der Fluchtroute aus Libyen gezählt. Sie ist effektiv: Im Jahr 2021 kamen laut UNHCR nur 832 Menschen auf Malta an. Viele andere haben auf der gefährlichen Überfahrt ihr Leben verloren oder wurden von libyschen Milizen abgefangen und zurückgebracht.

Abdalla, Amara und Kader waren gerade mal 15, 16 und 19 Jahre alt, als sie sich 2019 von Libyen aus auf den Weg nach Malta machten. Bei der Überfahrt droht ihr mit 108 Personen besetztes Boot zu sinken. Sie werden von einem Frachtschiff – der El Hiblu – aus der Seenot gerettet. Doch der Kapitän steuert nicht Europa an, sondern Libyen. Also zurück in Zwangsarbeit und Folterlager, die dort vor allem für schwarze Menschen auf der Flucht Alltag sind. Abdalla, Amara und Kader können etwas Englisch und so beginnen sie zwischen der Crew und den anderen Geflüchteten, die auf keinen Fall zurück nach Libyen wollen, zu vermitteln. Am Ende gelingt es ihnen, den Kapitän davon zu überzeugen, Kurs auf Malta zu nehmen. Doch noch bevor sie an Land gehen, stürmt eine Spezialeinheit das Schiff und nimmt die drei fest. Der Vorwurf: Terrorismus und Entführung. Sie haben die Europäische Union erreicht, sitzen aber zunächst acht Monate wie Schwerverbrecher im Gefängnis. Bis heute laufen die Ermittlungen. An ihnen, die nun als ElHiblu3 bekannt sind, soll ein Exempel statuiert werden. Um die drei zu unterstützen, gründete sich im Oktober 2021 die ElHiblu3 Freedom Commission, der neben medico auch Achille Mbembe, Carola Rackete und Jean Ziegler angehören. Ihre Forderung: „Widerstand gegen illegale Pushbacks nach Libyen ist kein Verbrechen. Freiheit für die ElHiblu3!“

Juristisch bleibt es umstritten, ob die zum Teil lebensgefährlichen Pushbacks durch Küstenwachen, Frontex und libyische Milizen illegal sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat erst kürzlich geurteilt, dass Pushbacks von Griechenland nach Nordmazedonien rechtens seien. Die Menschen hätten ja einfach an eine Grenzstation gehen und dort Asyl beantragen können. „Mit der Realität von Fluchtbewegungen hat diese Rechtsprechung nichts mehr zu tun“, schreiben die Grenzregime-Forscher:innen Lore Graf und Maximilian Pichl. Doch die Urteile des EGMR werden nicht nur aus juristischen Überlegungen gefällt. Seit Jahren steht der Gerichtshof unter Druck, weil die ihn finanzierenden Nationalstaaten mit Entzug von Geldern und Kompetenzen drohen, sollte er eine migrationsfreundliche Rechtsprechung betreiben. Die Justiz wird politisiert und droht ihre Unabhängigkeit einzubüßen. Umso mehr gilt es, auch in Zukunft die Flüchtlinge und Aktivist:innen zu unterstützen, die trotz der immer größer werdenden Gefahr der Kriminalisierung weiter für die Rechte von Menschen auf der Flucht eintreten.

Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig. 

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