Als die meisten deutschen Tageszeitungen am Morgen des 6. Juni auf der ersten Seite von den Blockadeaktionen von Heiligendamm berichteten, teilte sich der Erfolg der Protestwoche gegen den G8-Gipfel in Bildern mit, die von keiner politischen Erklärung zu überbieten war: der globalisierungskritischen Bewegung war nicht nur eine symbolische, sondern die effektive Blockade des Gipfels gelungen, und das in einer Aktion des zivilen Ungehorsams, die zugleich von der Entschlossenheit wie vom Witz der AktivistInnen kündete. Tatsächlich ist dieser Erfolg aber nicht nur das Resultat der Woche von Rostock, sondern die Bewährung einer zweijährigen Mobilisierung.
Getragen wurden Mobilisierung und Protestwoche von einem breiten Bündnis, das von NGOs, Umwelt- und Friedensverbänden, Gewerkschaften, sozialen Initiativen verschiedenster Art, vom Netzwerk attac und schließlich von verschiedenen linken Gruppen, auch der Partei DIE LINKE, getragen wurde. Ihnen allen ist zu verdanken, dass 60.000 Leute an der Demonstration des 2. Juni und 20.000 Leute an der folgenden Protestwoche teilnahmen: an den Camps, den folgenden Demonstrationen, den Blockaden, den Konzerten und dem Alternativgipfel.
Natürlich dienen solche Bündnisse zunächst dem Ziel, möglichst viele Leute auf die Straße zu bringen. Doch sind sie nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern im gelungenen Fall immer auch ein Selbstzweck: ein Ort des freien und solidarischen Austauschs, eine Gegenöffentlichkeit, in der aus zunächst getrennten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine gemeinsame Sache werden kann. Exemplarisch lässt sich dies an den zwei Veranstaltungen zeigen, an denen medico international beteiligt war: der sog. "Satelliten-Veranstaltung" des 3. Juni, mit der die Protestwoche nach der Demonstration eröffnet wurde, und dem Workshop Globale Soziale Rechte, der am Donnerstag im Rahmen des Alternativgipfels stattfand.
Über Europa (hinaus) – Beyond Europe
Beide Veranstaltungen gingen auf eine Konferenz zurück, die medico zusammen mit attac, FIAN, dem antirassistischen Netzwerk kein mensch ist illegal und die Grundsatzabteilung der IG Metall am 27. Februar in Frankfurt organisiert hatten. Das mehr als ungewöhnliche Bündnis verstand die Konferenz ausdrücklich als Beitrag zur Mobilisierung nach Heiligendamm. Ausgangspunkt war die gemeinsame Erfahrung, im jeweils eigenen Feld auf den Begriff und die Sache der Globalen Sozialen Rechte gestoßen zu sein. Gemeinsam war auch die Unterstellung, in der strategischen Wendung auf über den Nationalstaat hinausreichende Soziale Rechte eine erste Antwort auf die Verwerfungen kapitalistischer Globalisierung gefunden zu haben. Gemeinsam schließlich die Entscheidung, das Fundstück nicht hochzujubeln, sondern kritisch auf sein politisches Potenzial zu prüfen. Das taten die 130 TeilnehmerInnen dann auch in einer Folge ausgesprochen lebendiger Diskussionen, die von 10 Uhr morgens bis 23 Uhr abends andauerten. Den vorläufigen Abschluss markierte Hans Jürgen Urban von der Grundsatzabteilung der IG Metall. Er verortete die gewerkschaftlichen, internationalistischen und antirassistischen Auseinandersetzungen um Globale Soziale Rechte im offenen Horizont eines sich formierenden anti-neoliberalen Gesellschaftsprojekts und machte in einer Allianz von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen dessen möglichen Träger aus – wobei die Gewerkschaften sich dazu von der Sozialdemokratie trennen und in eine soziale Bewegung verwandeln müssten. Der nächste Ort der Durchsetzung eines solchen Projekts sei für uns der europäische Raum, die nächste Bewährungsprobe der Kampf um die "Konstitution" der EU – das Wort im doppelten Sinn verstanden: als formelle Verfassung und als Prozess der Hervorbringung.
Der Erfolg der Konferenz führte ihre miteinander ja nicht gerade sehr vertrauten Veranstalter dazu, die Diskussion in Rostock fortsetzen zu wollen. Die erste Gelegenheit dafür war die Satelliten-Veranstaltung am Sonntag nach der Demo, an der sich neben dem Frankfurter Bündnis noch die Friedens- und Zukunftswerkstatt, die Euromärsche und die IL beteiligten. Vor 700 TeilnehmerInnen wiederholte die IG Metall-Grundsatzabteilung ihren Vorschlag einer europaweiten Zusammenführung verschiedener sozialer Kämpfe und setzte ihn der Probe durch die anderen RednerInnen aus. Lucille Daumas von attac Marokko verlangte von einem "anderen Europa" offene Grenzen und die Anerkennung des Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit. Gyekye Tanoh vom African Trade Network sah den Beginn einer Zusammenführung der Kämpfe im gemeinsamen Widerstand gegen die EPAs-Abkommen, mit denen die EU die afrikanischen Staaten ihren Handels- und Rohstoffinteressen unterwerfen will. Miroslav Prokes vom tschechischen Sozialforum fragte nach dem Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten und der Rolle der EU-Militärpolitik im Einigungsprozess. Angela Klein von den Euromärschen führte die einzelnen Beiträge zusammen und bezog sie noch einmal auf den Kampf um die Konstitution Europas. Im Anschluss teilten sich die TeilnehmerInnen auf unterschiedliche Netzwerktreffen auf.
Globale Soziale Rechte
Die über 100 TeilnehmerInnen des im Rahmen des Alternativgipfels durchgeführten Workshops analysierten am Mittwoch in der Petrikirche vier Stunden lang die unterschiedlichen Auseinandersetzungen um Globale Soziale Rechte. medico und FIAN nehmen Begriff und Sache wörtlich: geht es uns doch um das globale Recht auf den gleichen Zugang aller zu Gesundheit bzw. das globale Recht aller auf Nahrungssicherheit (FIAN) und damit um ein Leben und Überleben in Würde. Medico und FIAN wissen, dass die eingeforderten Rechte nur auf der Grundlage eines Ressourcentransfers von Nord nach Süd durchgesetzt werden können. Wir sind uns klar darüber, dass dies nur durch eine Umwälzung der aktuellen Machtverhältnisse zu erreichen sein wird, in denen der Ressourcentransfer bekanntlich in umgekehrter Richtung verläuft. Und wir wissen, dass eine solche Umwälzung nur in der globalen Kooperation sozialer Bewegungen erreicht werden kann.
Für GewerkschafterInnen geht es im Kampf um Globale Soziale Rechte erst einmal um die Transnationalisierung ihres "Kerngeschäfts" in zunächst konzernweiten Kooperationen ihrer noch immer national beschränkten Organisationen. kein mensch ist illegal bestand darauf, dass die Transnationalisierung von Arbeitskämpfen schon im eigenen Land beginnt, im gemeinsamen Widerstand weißer und migrantischer ArbeiterInnen gegen untertarifliche Ausbeutungsverhältnisse und im Kampf für ein Recht auf Legalisierung des Aufenthalts. Valery Alzaga von der us-amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU führte überzeugend aus, dass das nur um den Preis der Rückverwandlung von Gewerkschaften in Bewegungen erreicht werden kann, für die der Begriff des "social movement unionism" steht. Neu an Bord war schließlich die Umweltorganisation Greenpeace. Deren Mitarbeiterin Barbara Kamradt bestimmte den Preis einer Globalen Ökologischen Gerechtigkeit und bestand auf der Dringlichkeit einer ihr angemessenen Verwandlung der herrschenden Produktions- und Konsumweisen. Den Bezug auf die EU stellte diesmal Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) her, parteiloser Abgeordneter im Europaparlament.
Das Gemeinsame
Nimmt man die drei Veranstaltungen in ihrem Zusammenhang, wird deutlich, wie verfehlt der Vorwurf der "Orientierung auf den Event" ist, der gegen die Heiligendamm-Mobilisierung gerichtet wurde. Umgekehrt wird ein Schuh draus: der Event wurde zum mehr oder minder zufälligen und zugleich längst erwarteten Anlass, Debatten zu kreuzen und dabei auf ihren eigenen und zugleich gemeinsamen Punkt zu bringen. Dem entspricht, dass die VeranstalterInnen in der nächsten Zeit auf der Grundlage eines noch zu formulierenden Papiers zusammen auf Tour gehen wollen, um ihre Debatten durchs Land zu tragen. Einladungen können von allen Seiten ausgesprochen werden: von einem Ortskartell der IG Metall, von der attac-Sommerakademie, von einer lokalen Aktionsgruppe.