Das Recht auf Unglück im Zeitalter nach Ford

01.04.1999   Lesezeit: 4 min

Mustafa Mannesmann:

Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: »Merkwürdig, was die Menschen zu Lebzeiten Fords des Herrn über den Fortschritt der Wissenschaft geschrieben haben. Sie schienen sich einzubilden, daß die Wissenschaft ewig fortschreiten dürfe, ohne Rücksicht auf alles übrige. Erkenntnis war das höchste Gut, Wahrheit der erhabenste Wert, alles andere war nebensächlich und untergeordnet. Allerdings begannen sich schon damals die Anschauungen zu verändern. Ford, der Herr selbst, trug viel dazu bei, das Schwergewicht von Wahrheit und Schönheit auf Bequemlichkeit und Glück zu verlegen. Die Massenproduktion verlangte diese Verlagerung. Allgemeines Glück läßt die Räder unablässig laufen; Wahrheit und Schönheit bringen das nicht zuwege. Und natürlich ging es, sooft die Massen an die Macht kamen, stets mehr um Glück als um Wahrheit und Schönheit.«

Mustafa Mannesmann fuhr fort: »Industrielle Zivilisation ist nur ohne Selbstverleugnung möglich. Selbstbefriedigung bis an die äußersten Grenzen, die Volksgesundheit und Volkswirtschaft gesetzt sind. Sonst stehen die Räder still.«

»Ihr hättet Grund zur Keuschheit!« fuhr der Wilde fort und errötete ein wenig bei diesem Wort.

»Keuschheit bedeutet Leidenschaft. Keuschheit bedeutet Neurasthenie. Und Leidenschaft und Neurasthenie bedeuten Unbeständigkeit. Unbeständigkeit aber bedeutet das Ende der Zivilisation. Keine dauerhafte Zivilisation ohne eine Menge angenehmer Lüste.«

»Gott ist der Grund alles Edlen und Erhabenen und Heroischen. Wenn ihr einen Gott hättet …«

»Mein lieber junger Freund«, sagte Mustafa Mannesmann. »Die Zivilisation hat nicht den geringsten Bedarf an Edelmut oder Heldentum. Derlei Dinge sind Merkmale politischer Untüchtigkeit. In einer wohlgeordneten Gesellschaft wie der unseren findet niemand Gelegenheit zu Edelmut und Heldentum. Solche Gelegenheiten ergeben sich nur in ganz ungefestigten Verhältnissen. Wo es Kriege gibt, Gewissenskonflikte, Versuchungen, denen man widerstehen, und Liebe, die man erkämpfen oder verteidigen muß – dort haben Heldentum und Edelmut selbstverständlich einen gewissen Sinn. Aber heutzutage gibt es keine Kriege mehr. Mit größter Sorgfalt verhindern wir, daß ein Mensch den anderen zu sehr liebt. Und so etwas wie Gewissenskonflikte gibt es auch nicht: Man wird so genormt, daß man nichts anderes tun kann, als was man tun soll. Und was man tun soll, ist im allgemeinen so angenehm und gewährt den natürlichen Trieben so viel Spielraum, daß es auch keine Versuchungen mehr gibt. Sollte sich durch einen unglücklichen Zufall wirklich einmal etwas Unangenehmes ereignen, nun denn, dann gibt es Soma, um sich von der Wirklichkeit zu beurlauben. Immer ist Soma zur Hand, um Ärger zu besänftigen, einen mit seinen Feinden zu versöhnen, Geduld und Langmut zu verleihen. Früher konnte man das alles nur durch große Willensanstrengung und nach jahrelanger harter Charakterbildung erreichen. Heute schluckt man zwei, drei Halbgrammtabletten, und damit gut! Jeder kann heutzutage tugendhaft sein. Man kann mindestens sein halbes Ethos in einem Fläschchen bei sich tragen.«

Der Wilde: »Tränen sind unerläßlich. Erinnern Sie sich nicht an Othellos Worte? ›Wenn jedem Sturm so heit're Stille folgt, dann blast, Orkane, bis den Tod ihr weckt!‹ Was euch not tut«, sagte der Wilde, »ist etwas mit Tränen. Zur Abwechslung. Bei euch kostet nichts genug. ›Und gebt eu'r sterblich und verletzbar Teil dem Glück, dem Tode, den Gefahren preis für eine Nußschal'.‹ Ist da nicht etwas Wahres dran?« fragte er mit einem Blick zu Mustafa Mannesmann. »Von Gott gar nicht zu reden, obwohl Gott natürlich ein Grund wäre. Läßt sich nicht manches zugunsten eines Lebens der Gefahr sagen?«

»Sehr viel sogar«, antwortete der Aufsichtsrat. »Männer, ebenso wie Frauen, müssen von Zeit zu Zeit ihre Adrenalindrüsen stimulieren lassen.«

»Was?« fragte der Wilde verständnislos.

»Es ist eine der Voraussetzungen für vollkommene Gesundheit. Darum haben wir den TLE-Behandlungszwang.«

»TLE?«

»Tolle-Leidenschaft-Ersatz. Regelmäßig einmal im Monat. Der ganze Organismus wird mit Adrenalin durchflutet. Es ist ein hundertprozentiges physiologisches Äquivalent für Angst und Wut. Erzielt genau die gleichen tonischen Wirkungen wie Desdemona zu erwürgen oder von Othello erwürgt zu werden – ohne die Unannehmlichkeiten.«

»Aber ich liebe die Unannehmlichkeiten.«

»Wir nicht!« versetzte der Aufsichtsrat Mannesmann. »Uns sind die Bequemlichkeiten lieber.«

»Ich brauche keine Bequemlichkeiten. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde.«

»Kurzum«, sagte Mustafa Mannesmann, »Sie fordern das Recht auf Unglück.«

»Gut denn«, erwiderte der Wilde trotzig, »ich fordere das Recht auf Unglück.«

»Ganz zu schweigen von dem Recht auf Alter, Häßlichkeit und Impotenz, dem Recht auf Syphilis und Krebs, dem Recht auf Hunger und Läuse, dem Recht auf ständige Furcht vor dem nächsten Tag, dem Recht auf typhöses Fieber, dem Recht auf unsägliche Schmerzen jeder Art?« Langes Schweigen!

»All' diese Rechte fordere ich«, stieß der Wilde endlich hervor.

Mustafa Mannesmann zuckte die Achseln und sagte: »Wohl bekomm's!«

(Aldous Huxley, Brave new world)


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