Der Klammerkrieg

18.08.2006   Lesezeit: 6 min

Das Projekt 523 oder: Warum es so schwer ist, eine Resolution für eine Patientenorientierte Arzneimittelforschung bei der WHO durchzusetzen. Von Christoph Goldmann.

1967 sprach Ho Chi Minh in Peking vor und bat den Vorsitzenden Mao Tse-Tung und seinen Premier Tschou En-Lai um sozialistische Bruderhilfe. In den malariaverseuchten Dschungeln Vietnams starben mehr Guerillakämpfer auf dem Krankenbett als im Kampf gegen die US-Truppen. Benannt nach dem Datum seiner Gründung am 23. Mai, begannen mehr als 500 Wissenschaftler unter dem Schlachtruf "Besiegt die Malaria mit dem Mao-Tse-Tung-Gedanken" das geheime "Projekt 523". Nach zwei Jahren pharmazeutischer Archäologie legten die Wissenschaftler eine Liste von 640 traditionellen chinesischen Rezepten vor. Noch einmal drei Jahre später filterten sie schließlich ein Heilkraut heraus: Artemisia. In klinischen Tests wurden mehr als 90% der Patienten durch Artemisinin-Präparate geheilt. .

Im Jahr 1982 stellten die Chinesen bei einem Treffen mit Abgesandten der WHO in Peking ihre Ergebnisse vor. Die WHO war interessiert. - Und unternahm zwanzig Jahre lang nichts. Erst 2004 verkündeten die WHO, der Global Fund, Unicef und andere Geldgeber ihren Marschbefehl an Afrikas Malaria-Länder: Sie sollten von nun an Artemisinin-Kombinationspräparate kaufen. Warum hat die Welt so lange gebraucht, bis sie das neue Mittel anerkannte?

Die lapidare Antwort gab Sir John Sulston, Nobelpreisträger für Medizin 2002, am Rande der alljährlichen Vorstandssitzung der Weltgesundheitsorganisation im Januar 2006 in Genf. Malaria sei eben eine Krankheit der Armen, der Bauern. Und die haben keine Lobby. Es sei denn, die Interessen der reichen Länder seien berührt.

Sir Sulston hat recht. Seit den Tagen kolonialer Eroberungen kennzeichnet die Sozial- und Kulturgeschichte der Malariabekämpfung eine enge Verbindung von Herrschaftsanspruch und medizinischem Fortschritt. Ronald Ross, der für die Entdeckung des Malariaüberträgers im Jahre 1897 den Nobelpreis erhielt, war General in Indien, wichtige Vorarbeit leistete der in Diensten der französischen Armee stehende Charles Laveran. Und es waren die neu gegründeten Tropeninstitute in Liverpool und London, die zur Malariabekämpfung der strikten Trennung schwarzer und weißer Lebenswelten in den Kolonien das Wort redeten. Die Apartheid ist eine Erfindung der Kolonialmedizin.

Im Grunde hat sich dieser Blickwinkel auf die Armutskrankheiten der Welt nicht geändert. Arzneimittel zu ihrer Bekämpfung werden erforscht und entwickelt, wenn diese Krankheiten ein Sicherheitsproblem für die reichen Länder darstellen. Patientenbedürfnisse spielen höchstens eine untergeordnete Rolle.

Aus diesem Grund legte die Regierung von Kenia mit der Unterstützung Brasiliens auf besagter WHO-Vorstandssitzung eine Resolution vor, die Wege für einen grundlegenden Richtungswechsel bei der Erforschung und Entwicklung von lebensrettenden Medikamenten vorschlägt. Begründung der sogenannten Kenia-Resolution: Täglich sterben 35.000 Menschen, weil sie keinen Zugang zu Medikamenten haben. Sei es, weil ihnen das Geld fehlt, oder weil es keine wirksamen Medikamente gibt, denn die Erforschung sogenannter Armutskrankheiten ist für die gewinnorientierten Pharmakonzerne uninteressant.

Aber schon die ersten beiden Worte der Kenia-Resolution, nämlich die Forderung nach einem "New Global Framework" (neue globale Rahmenbedingungen), erregten den Unmut der Industrieländer und der Pharmaindustrie, weil das viel zu weitgehend sei und mit ungeahnten Folgen einhergehe.

Gegen die Ahnung, hier könnten Gewinninteressen der Industrie tangiert sein, stand das Plädoyer für ein neues Denken von renommierten Wissenschaftlern der Welt, allen voran Nobelpreisträger Sir Sulston: "Es tut mir leid, aber ich muss nicht nur an die Millionen denken, die leiden und sterben, weil wir sie bewusst vernachlässigen. Mir kommen auch meine Erfahrungen als Leiter des Human Genome Projects, der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, in den Sinn. Wissenschaftlicher Fortschritt muss allen Menschen zugänglich sein. Jenseits ökonomischer Interessen. Ich hoffe, dass die Resolution Kenias breite Unterstützung findet." (siehe auch Brief der Wissenschaftler an die WHO)

Exakt vier Stunden, 30 Minuten und 55 Sekunden wurde die Kenia-Resolution verhandelt. Rein statistisch starben 6.562 Menschen in diesem Zeitraum, weil sie für den reichen Norden wirtschaftlich nicht von Interesse sind. Und vieles deutet darauf hin, dass sie auch weiterhin vom Recht auf Gesundheit ausgeklammert bleiben sollen, und das ist durchaus im wörtlichen Sinne zu verstehen. Nach der ersten Präsentationsrunde der Resolution sind alle Inhalte, die für einen Richtungswechsel stehen, in Klammern gesetzt. Dabei forderte der Originalvorschlag von Kenia lediglich die Einsetzung einer Arbeitsgruppe interessierter Staaten, die neue internationale Richtlinien zur patientenorientierten Entwicklung und Forschung von Medikamenten aufstellen sollte.

Der Autor dieser Zeilen wurde auf der Zuschauerbühne in der WHO Zeuge einer seltsamen Dramaturgie, bei der die Regieanweisungen aus der Lobby kamen. Vor der Mittagspause hatte der pakistanische Sitzungsleiter noch davon gesprochen, dass Patienten-Interessen vor Patent-Interessen stehen müssten. Nach der Mittagspause eröffnete er die Sitzung mit dem Hinweis, in der Lobby habe man ihn darauf hingewiesen, dass man doch bitte von Patienten- und Patent-Interessen reden müsse. Offenbar hatte man "in der Lobby" verstanden, dass der von der Kenia-Resolution geforderte neue globale Rahmen Gewinninteressen, die durch Patente geschützt werden, in Frage stellen könnte.

Dabei war der erste Akt am Vormittag aus Sicht der Status-quo-Anhänger durchaus gelungen. Kenias und Brasiliens Ruf nach schnellem Handeln wurde von Portugal im Namen der Europäischen Union zugunsten einer eingehenden "Überprüfung" der Kenia-Resolution ausgebremst. Das alte Lied, so die thailändische Delegation, die nicht ohne eine gewisse Ironie darauf hinwies, dass ohne einen schnellen Konsens die Gefahr bestehe, dass die Kenia-Resolution dann nicht bis Mai zur Generalversammlung der WHO vorliegen würde, dass alles auf das nächste Jahr vertagt werden würde, dass dann schließlich frühestens in weiteren drei oder vier Jahren mit wirklichem Handeln zu rechnen sei.

Was wäre, wenn die Lobby voll von betroffenen Bauern gewesen wäre statt von gut betuchten Lobbyisten der Wirtschaftsmächte?

Vielleicht hätte der 2. Akt am Nachmittag dann eine andere Wendung genommen. So aber verfing man sich in weiteren Erörterungen, die der Sitzungsleiter mit der formalen Begründung abwürgte, dass die Diskussion trotz aller Dringlichkeit nicht weitergeführt werden könne, weil die Übersetzer nur bis 19 Uhr zur Verfügung stünden. Als die brasilianische Delegation daraufhin ihren Redebeitrag in englisch fortführen wollte, erinnerte der Sitzungsleiter mit Hinweis auf die Tragweite des Problems noch einmal an die fehlenden Übersetzer. "Danke, der nächste Tagesordnungspunkt bitte…."

Ergebnis: Die Kenia-Resolution samt all der ausgeklammerten Fragen wurde zur Weiterberatung an eine Arbeitsgruppe verwiesen und soll der Generalversammlung der WHO im Mai zur Beurteilung vorgelegt werden. Ein Text also, der zu 50% in Klammern steht, was soviel wie "noch nicht entschieden" bedeutet. Ein Text, der aus Durchstreichungen und neuen Formulierungen besteht, die den Sinn der ursprünglichen Resolution völlig verändern.

Auf der Rückfahrt mit dem Zug ziehen die Namen der großen Pharma-Multis Sandoz, Roche, Novartis am Fenster vorbei. Es ist Paul Herrling, Chef der Forschungsabteilung von Novartis, der im Magazin "Nature" für "Experimente in sozialer Verantwortung" seines Basler Unternehmens plädiert. Novartis hat ein neues Institut für tropische Krankheiten in Singapur eröffnet, das sich der Erforschung des Dengue-Fiebers und der Tuberkulose widmen will. Herrling zitiert Jahrzehnte alte Binsenweisheiten entwicklungskritischer Experten als neueste Erkenntnisse, betont, jedes potentielle Korruptionsrisiko der Südpartner im Vorfeld auszuschließen, das mit den ethischen Grundsätzen von Novartis gerade bei der Herstellung von wissenschaftlichen Testergebnissen unvereinbar sei. Zu guter Letzt fragt er sich verwundert, was wohl zu so einem Umdenken bei der profitorientierten Pharmaindustrie, die dem schnellen Gewinn seiner Aktionäre verpflichtet ist, geführt habe: genuine compassion, echtes Mitempfinden, so seine Vermutung. Solange die Aktienbesitzer dieser neuen Ausrichtung zustimmten, wolle Novartis weiter an unlukrativen Krankheiten forschen und außerdem sei man angesichts von Reisen, Tourismus und Welthandel den Krankheiten der Armen vielleicht doch viel näher als viele denken. Die Interessen des globalen Nordens also sind berührt. Die Sozial- und Kulturgeschichte der Bekämpfung von Armenkrankheiten schlägt ein neues Kapitel auf.


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