Der Medizinisch-industrielle Komplex

Anmerkungen zum Triumph des Lobbyismus. Der Rundschreiben-Kommentar von Thomas Gebauer.

02.12.2009   Lesezeit: 7 min

Kaum waren die ersten Fälle von Schweinegrippe im Frühjahr 2009 bestätigt, da sprach Sir Roy Anderson, der gesundheitspolitische Berater der britischen Regierung, bereits von einer sich bedrohlich über alle Länder und Kontinente hinweg ausbreitenden Pandemie. Zum Glück, so fügte er im Interview mit der BBC hinzu, gebe es wirksame Gegenmittel. Dabei ließ Anderson freilich unerwähnt, dass er nicht nur als Regierungsberater tätig ist, sondern für umgerechnet 136.000 € im Jahr auch als Lobbyist für GlaxoSmithKline – eben jenen britischen Pharma-Multi, der – welch ein Zufall – die von ihm erwähnten Präparate zum Schutz vor der H1N1-Influenza, der sogenannten Schweinegrippe, produziert.

Wirksame Vorkehrungen gegen die Ausbreitung von Krankheiten zu treffen: das gehört fraglos zu den Aufgaben einer verantwortungsbewussten öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Die Gewährleistung eines breit angelegten Impfschutzes ist ebenso vernünftig wie der Wunsch von Menschen, sich vor Infektionen schützen zu können. Problematisch wird es, wenn Bedrohungen inszeniert und Ängste geschürt werden. Das Geschehen rund um die Schweinegrippe legt diesen Verdacht nahe.

Nicht die weitaus aggressivere "normale" saisonale Grippe, die allein in Deutschland alljährlich zwischen 5.000 und 11.000 Tote fordert, beschäftigte in den letzten Monaten die mediale Öffentlichkeit, sondern eine bislang eher milde verlaufende Krankheit: die H1N1-Grippe. Viele Millionen Menschen könnten dennoch an ihr sterben, wenn das Virus in der kalten Jahreszeit erst einmal mutieren würde, warnten Seuchenexperten und ließen dabei außer Acht, dass sich eben diese Befürchtungen in der südlichen Hemisphäre, wo der Winter gerade zu Ende geht, nicht bestätigt haben.

Die Angst, die seit dem Frühjahr umgeht, beschert der Pharmaindustrie nun einen goldenen Herbst. Für 20 Mrd. Dollar haben staatliche Gesundheitseinrichtungen in aller Welt Impfstoffe geordert. Auch Impfstoffe, deren Verträglichkeit nicht unumstritten ist. So werden in Deutschland, anders als in den USA, vor allem Vakzine mit Zusätzen zum Einsatz kommen, die ihre Wirksamkeit verstärken sollen und damit die Menge an benötigten Impfviren pro Dosis reduzieren. Diese Zusätze sind im besonderen Fall noch nicht ausreichend getestet. Weil sich die Bundesregierung frühzeitig mit einem Liefervertrag an den Hersteller GlaxoSmithKline gebunden hat, sollen nun 25 Millionen Bundesbürger zu unfreiwilligen Versuchskaninchen eines pharmakologischen Großversuchs werden.

Und das ist das eigentliche Ärgernis: Bei aller Erörterung der möglichen Vorsorgemaßnahmen gegen die H1N1-Influenza ist bislang unklar geblieben, ob darin öffentliche Fürsorgepflicht zum Ausdruck kommt oder die Begleitmusik für private Geschäftsinteressen. Unter Patienten und Ärzten herrscht Unsicherheit, ob Impfungen sinnvoll sind. Was sollen die Leute denn auch glauben, wenn selbst der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft eine Inszenierung vermutet, mit der die Pharmakonzerne viel Geld verdienen wollen?

Auf exemplarische Weise spiegelt sich in den Fragen der Leute der Skandal eines Gesundheitswesens, das nicht mehr allein von gesundheitlichen Erwägungen bestimmt wird, sondern zunehmend wirtschaftlichen Vorgaben folgt. Es ist die Verquickung von öffentlichem Auftrag und Geschäftemacherei, die das Geschehen für die breite Öffentlichkeit so undurchschaubar macht. Unabhängige Experten und selbst die Mitarbeiter jener öffentlichen Einrichtungen, die mit der Bekämpfung von Epidemien beauftragt sind, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Lobbyisten der Pharmaindustrie. Impfungen, die ehemals zum Kern gesundheitlicher Prävention zählten, stehen im Verdacht, womöglich nur noch in zweiter Linie die Menschen im Blick zu haben. Wo Vertrauen notwendig wäre, herrscht Misstrauen. Deutlich wird, wie leichtfertig es gewesen ist, das öffentliche Gut Gesundheit immer weiter für den Markt zu öffnen. Zugleich verwundert die Unfähigkeit, aus solchen Fehlentwicklungen die notwendigen Lehren zu ziehen.

Nicht Lobbyismus, nicht unsinnige Therapieangebote und auch nicht überteuerte Arzneimittel scheinen dem neuen Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) ein Dorn im Auge zu sein, sondern eine "versteckte Planwirtschaft", die er im deutschen Gesundheitssystem auszumachen glaubt. Nicht die Stärkung eines Vertrauen stiftenden solidarischen Gesundheitswesens scheint ihm am Herzen zu liegen, sondern dessen weitere Öffnung für private Anbieter. Und dabei steht er leider nicht allein. Trotz Finanzkrise und all der Schäden, die sie angerichtet hat, gelten gemeinhin noch immer nicht die notorischen Verfechter des Marktradikalismus als ideologisch Verirrte, sondern diejenigen, die Gesundheit in öffentlicher Verantwortung sehen und mit politischem Handeln etwas völlig anderes verbinden, als nur das Bedienen der eigenen Klientel.

Der Blick in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung macht deutlich, um was es geht: Bei aller Unbestimmtheit finden sich in ihm auch Passagen, die die Handschrift der Lobbyisten der Gesundheitswirtschaft erkennen lassen. Was Wunder, dass die sich nun zufrieden zeigen. Die Verbände der Pharmaindustrie und der deutschen Apotheker begrüßten, dass "die Überregulierung des deutschen Arzneimittelmarktes" überprüft werden soll, aber auch BDA-Präsident Hundt freute sich, werden doch mit dem Einfrieren der Arbeitgeberanteile alle weiteren Preissteigerungen alleine zu Lasten der Versicherten gehen.

Mit bald 300 Mrd. € Umsatz zählt das deutsche Gesundheitswesen zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Landes. Seit Jahren schon gilt die Gesundheitswirtschaft als profitable Wachstumsbranche. Auf kaum noch versteckte Weise versuchen private Leistungsanbieter Anteile aus dem "sozialen Eigentum" der gesetzlich Krankenversicherten herauszuschlagen – und dies offenbar mit Erfolg! Stolz vermeldete der Krankenhausbetreiber "Rhön-Klinikum AG" kürzlich eine Gewinnsteigerung um 15%, der börsennotierte weltweit tätige Medizinkonzern "Fresenius" einen bereinigten Überschuss von 14%, der Pharma-Multi "Bayer HealthCare", der zuletzt eine eher schlechte Zeit hatte, ein Anwachsen der Gewinne vor Steuern und Abschreibungen um immerhin 12%. Es sind gesunde Gewinne, die aus solchen Zahlen sprechen; Gewinne, die Anteilseignern eine hohe Dividende sichern, aber keineswegs auch eine bessere Gesundheitsversorgung bedeuten. Denn in der Versorgung selbst regiert der Rotstift, und das haben vor allem die chronisch Kranken, die Alten und all jene, die sich keine private Zusatzversicherung leisten können, zu spüren: Menschen, die bekanntlich keine Lobby haben. Auf 7,8 Mrd. € wird das Defizit im deutschen Gesundheitsfonds für das nächste Jahr geschätzt. Es ließe sich mit einem Schlag um 3,3 Mrd. € auf nahezu die Hälfte senken, wenn hierzulande Medikamente nur so teuer wären wie in Großbritannien. Sogar 20 Mrd. € pro Jahr ließen sich einsparen, wenn die Anwendung sinnloser Gerätediagnostik und unsinniger Medikamente gestoppt würde. Und noch einmal 8 - 24 Mrd. € müssten nicht verloren gehen, wenn endlich dem notorischen Abrechnungsbetrug und der unterdessen großflächig im Gesundheitswesen zu beklagenden Korruption der Riegel vorgeschoben würde.

Die Zustände, die im deutschen Gesundheitswesen herrschen, haben eben nichts von "versteckter Planwirtschaft", aber leider viel von organisierter Kriminalität. Und eben die hat unterdessen auch das Bundeskriminalamt auf den Plan gerufen. Von systematischer Korruption ist in seinen Jahresberichten zu lesen, von Tausenden von Betrugsfällen zu Lasten der Solidargemeinschaften. Immer größere Mittel müssten die gesetzlichen Krankenkassen aufbringen, um den Auswüchsen jenes medizinisch-industriellen Komplexes auf die Schliche zu kommen, an dem Ärzte, Labore, Kliniken, die Pharmahersteller, Apotheker, Zahntechniker, Sanitätshäuser und Krankenkassen-Mitarbeiter mitwirken. Das Netz der Korruption im deutschen Gesundheitswesen sei inzwischen so groß, dass auch die Strafverfolgungsbehörden nicht mehr hinterherkommen. Zu lange, so Transparency International, habe die Politik der Wirtschaft nachgegeben, statt ihr einen Rahmen zuzuweisen, und zu lange habe sie die öffentlich-rechtlichen Körperschaften des Gesundheitswesens sich selbst überlassen, statt nach Kontrollmechanismen zu suchen, die für alle verbindlich sind. Die wunderbare Idee mündiger Bürgerinnen und Bürger verwirklicht sich nur da, wo ihnen Institutionen zur Seite stehen, denen man vertrauen kann.

Die Bedeutung, die solche öffentlichen Güter für das Zusammenleben von Menschen haben, wird mitunter erst dann deutlich, wenn sie verloren sind. Als sich Anfang 2008 auf den Straßen Neapels der Müll türmte, waren nicht ineffiziente Behörden am Werk, sondern private Akteure, die mit der ungeregelten, meist illegalen Müllbeseitigung Milliarden verdienten. Das Chaos war nicht Ausdruck öffentlicher Schlamperei, sondern Ergebnis eines Lobbyismus, dem sich die Stadt Neapel vollständig ergeben hatte. Von "geplanter Barbarei" (und nicht "versteckter Planwirtschaft") sprach die FAZ damals, von "einer chronischen Infektion der Demokratie" als Folge antistaatlicher Zustände, in denen am Ende alleine mafiöse Strukturen triumphieren könnten. Neapel zeige der Welt, wie eine Demokratie aussieht, deren Kern die organisierte Kriminalität ist.


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