Mitte März erreichte der arabische Freiheitsfunken auch Syrien. Aber anders als in Tunesien und Ägypten schlägt das syrische Regime blutig zurück und verstärkt so die - nach über 40-jähriger Alleinherrschaft der Baath-Partei - tiefsitzende Kultur der Angst. Der Klimaaktivist Elias Perabo reiste noch vor den ersten Protesten nach Damaskus. Ungeplant inmitten einer Protestwelle gelandet, suchte er Kontakt zu syrischen Aktivisten und beschrieb in Emails seine Eindrücke. medico dokumentiert hier einige Auszüge.
Damaskus, den 28. April 2011:
Wie ihr sicherlich mitbekommen habt, überschlagen sich die Ereignisse in Syrien momentan. Auf meiner Fahrt von Aleppo nach Damaskus konnte ich sehen, wie um Städte wie Homs und Hama Checkpoints eingerichtet wurden, an denen Soldaten und bewaffnete Zivilisten mit Maschinenpistolen die wenigen noch fahrenden Autos kontrollierten. Selbst in Vororten von Damaskus sind entlang der Autobahn Sicherheitsbeamte mit Maschinengewehren positioniert. Spätestens seit den Protesten vom letzten Freitag ist allen Damaszenern klar, dass der Aufstand auch sie erreichen wird. Für die Demonstranten gibt es kaum ein Zurück mehr. Zuviel wurde riskiert, zu viele haben sich in die Öffentlichkeit gewagt, zu viele sind jetzt schon gestorben. Die Brutalität der letzten Tage ist kaum fassbar: Auf offener Straße werden Menschen erschossen, ganze Ortschaften vom Militär belagert, Strom- und Telefonleitungen gekappt. Aufzuhören hieße, sich wehrlos der staatlichen Repression auszusetzen. Von Freitag zu Freitag wird die Situation immer festgefahrener. Anders als in Ägypten oder Tunesien stehen den Demonstranten nicht nur die Polizei, sondern große Teile des Sicherheitsapparats gegenüber. Die Freiheitsbewegung wird vor allem regional getragen, fast alle Demonstrationen werden fast autonom in den jeweiligen Regionen organisiert und sind oft wenig vernetzt. Meistens sind es einfache Leute, die auf die Straße gehen - was sich auch daran zeigt, dass sich der Protest vor allem in kleineren Orten abspielt. Interessant ist, dass die Bewegung wie in Ägypten auf die sonst üblichen Ressentiments gegen Israel bzw. die USA verzichtet.
Damaskus, den 5. Mai 2011:
Die Lage ist geradezu explodiert, das Militär rückt mit Panzern und schwerem Geschütz in verschiede Orte vor, eine riesige Verhaftungswelle hat begonnen. Ein Aktivist sagte: "Bis jetzt wurden wir ins Gefängnis gesteckt, jetzt weiß niemand, wohin die Menschen kommen.” Doch trotz der Toten scheint die Angst bei vielen gebrochen. Es ist nicht einfach, den Charakter der Proteste bündig einzuschätzen. Die Bewegung ist sehr heterogen, wird von keiner besonderen Schicht oder Altersgruppe dominiert, ein Konglomerat von Aktivisten, lokalen Vereinen und Gruppen, Nachbarschaftsinitiativen, dazu viele Einzelpersonen. Charakteristisch dafür ist schon der Anfang der Proteste am 6. März, in der Kleinstadt Daraa. Nach der Festnahme von 15 Kindern und Jugendlichen wegen regimekritischer Graffitis demonstrierten erst 200 Menschen, meist Familienangehörige, aber über Nacht, nachdem die Polizei in die Menge gefeuert hatte, wurden es Tausende. Auch der Fokus der Proteste änderte sich rasant: Allgemeine Rufe nach Frieden und Gerechtigkeit wurden schnell von politischen Forderungen nach dem Ende der Notstandsgesetze abgelöst. Das Verdienst der Aktivisten in Daraa ist auch, dass sie die Ersten waren, die ein regionales Komitee gründeten. Dass ausgerechnet die Moscheen zum Ausgangsort der Proteste wurden, liegt daran, dass sie mittlerweile die einzigen Orte sind, an denen man sich noch relativ frei versammeln kann. Anderen Möglichkeiten, etwa Fußballspielen, wurden schnell Riegel vorgeschoben - alle Großveranstaltungen in Syrien sind verboten, selbst die traditionellen christlichen Osterprozessionen wurden abgesagt. Trotzdem spielt die Religion eine untergeordnete Rolle, die Muslimbrüder schafften es nicht, den Aufstand zu prägen. Einer der beliebtesten Sprechchöre lautet: "Wir brauchen keine Bruderschaft, wir brauchen einen Schritt nach vorn." Für die Aktivisten wird neben der Kampagne gegen das Regime die zweite Herausforderung darin bestehen, den religiösen Fundamentalisten keinen Raum zu lassen.
Beirut, den 12. Mai 2011:
Vor wenigen Tagen bin ich in den Libanon ausgereist. Hier arbeite ich mit Rami Nahkle zusammen, einem syrischen Aktivisten, der Anfang des Jahres aus Damaskus fliehen musste und inzwischen eine der ganz zentralen Figuren des Widerstands ist. Wir systematisieren Informationen, prüfen ihren Wahrheitsgehalt und vermitteln Augenzeugen und Interviews an die internationale Presse. Damit der Informationsfluss nicht abreißt, bringen wir auch Hardware (Satellitentelefone, Minikameras etc.) ins Land. Die Menschen gehen immer selbstbewusster auf die Straße. Uns erreichen Videos, in denen sich Demonstranten den Anweisungen der Sicherheitskräfte lautstark widersetzen. Andere geben mit Name und Gesicht Interviews, in denen sie die Abdankung von Assad fordern. All dies war vor Wochen undenkbar. Ein Reporter von Al Jazeera sagt: "Die Angst hat die Seiten gewechselt." Mit 800 toten Demonstranten ist der syrische Frühling dennoch der blutigste der arabischen Aufstände, vom Bürgerkrieg in Libyen abgesehen. Das Regime versucht die Impulse und Aktionen der Protestbewegung systematisch zu brechen: Mindestens zwei Gefangenen- und Folterlager in Fußballstadien wurden eingerichtet. Problematisch ist allerdings die mangelnde Beteiligung der Mittelschichten in Aleppo und Damaskus. Seit einigen Tagen erleben wir einen Wandel im staatlichen Umgang mit den Demonstrationen. Wir nennen es die "Iran-Strategie". Zu Anfang setzte Assad auf einen Mix von vorgetäuschter Dialogbereitschaft und brutalem Schusswaffeneinsatz. Aber die Abschreckung funktionierte nicht, die Demonstrationen wuchsen mit jedem Toten. Jetzt setzt das Regime auf Massenfestnahmen: Unmengen Leute werden allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Zielgruppen für mindestens eine Woche verhaftet und gefoltert, zuletzt Tausende Männer im Alter zwischen 20 und 35 Jahren in Daraa und Baniyas. In den Vororten von Damaskus trifft es Bewohner ganzer Straßenzüge. Soldaten der 4. Division der Armee oder der Präsidentengarde umstellen die Viertel, Scharfschützen postieren sich auf den Dächern, dann werden die Leute festgenommen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Deutlich weniger Tote, also weniger Beerdigungen samt folgender Demonstration - entsprechend niedrigere internationale Empörung. Dass die meisten Inhaftierten nach einer Woche wieder entlassen werden, liegt nicht nur an Kapazitätsengpässen, sondern folgt einem perfiden Kalkül. Die Betroffenen sollen von dem Grauen, den körperlichen und seelischen Misshandlungen erzählen, um andere damit abzuschrecken. So wurde vor gut zwei Jahren die grüne Revolution im Iran niedergeschlagen. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass es in den letzten Wochen zu einem massiven Geheimdienstaustausch zwischen Teheran und Damaskus gekommen ist.
Beirut, den 26. Mai 2011:
Heute erreichte uns eine merkwürdige Anfrage: eine Aktivistin aus Syrien, seit längerer Zeit im Untergrund, konnte ihre Katzen nicht in ihr neues Versteck mitnehmen. Jetzt fragt uns ihre Freundin, ob wir nicht jemanden kennen, der die Katzen aufnehmen könnte. Vor dem Hintergrund, dass inzwischen in Syrien mehr als eintausend Menschen von Sicherheitskräften erschossen wurden, Gräber mit unbekannten Leichen aufgetaucht sind, viele Hunderte Menschen vermisst und Tausende noch verhaftet sind, scheint es geradezu absurd, dass wir uns um ein Katzenasyl kümmern sollen. Gleichzeitig sind solche Alltagsgeschichten für die Betroffenen im ständigen Ausnahmezustand eminent wichtig. Das Risiko der Aktivisten wird in ganz anderer Weise plastisch. Die Geschichte ist aber auch symbolisch für den Wandel des Protestes. In den letzten Wochen ist klar geworden, dass der syrische Frühling sich nicht zu einem Momentum entwickelt, wo die Kalender einfach weggeworfen werden, um alles auf die Karte des schnellen Umbruches zu setzen. Hoffentlich langfristig tragfähige Strukturen lösen den spontanen Aufstand langsam ab. Es gibt jetzt 15 lokale Komitees, über Internet und vertrauenswürdige Kontaktpersonen landesweit vernetzt. Assad hat es bislang nicht geschafft, die Proteste unter Kontrolle zu bringen. Eine Ursache liegt in dem Umstand, dass der Protest sich anders als im Iran, in Ägypten und Tunesien nicht in den Zentren abspielt, sondern über das ganze Land verteilt ist. Allein letzten Freitag gab es in über 50 Orten Syriens Demonstrationen.
Berlin, 8. Juni 2011:
Es ist vorbei. Selbst pessimistische Analysten müssen eingestehen, dass Assads Zeit abläuft. Aber es wäre naiv, darin bereits den Erfolg der Proteste zu sehen, und es wäre fahrlässig, die Stärke dieses Regimes zu unterschätzen. Nach über 1.400 Toten, nach der Folterung und Tötung des 13-jährigen Hamza, vor allem aber, nachdem die Proteste mit 50.000 Menschen in Hama erstmals eine kritische Zahl erreichten, forderten Exilsyrer auf einer großen Konferenz in Antalya am 2. Juni den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Demonstranten gaben am darauffolgenden Freitag die klare Parole aus: "Keine Gespräche, bevor das Regime nicht gestürzt ist". Wahrscheinlich ist, dass Assad den eingeschlagenen militärischen Weg fortsetzt. Zwar gibt es bereits zahlreiche Soldaten, die Schießbefehle verweigern (und oft darauf hin sofort erschossen werden), und es häufen sich Desertionen, aber es ist schwer vorstellbar, dass größere Teile der über 310.000 Mann starken Armee den Befehl verweigern würden bzw. sich auf die Seite der Demokratiebewegung stellen. Die Armee ist so aufgebaut, dass in jeder Brigade mindestens ein der Assad-Familie nahe stehender Alawit die Führung oder die Stellvertretung inne hat. Wenn es deshalb einerseits keinen Grund für großen Optimismus gibt, muss man andererseits erinnern, dass vor vier Monaten keiner einen solchen Umbruch erahnt und vorauszusagen gewagt hätte. Klar scheint nur eines: Das Regime wird fallen - es gilt jetzt daran zu arbeiten, dass es so wenig Opfer wie möglich gibt.
Elias Perabo ist ein langjähriger Klimaaktivist, der hauptsächlich in Deutschland lebt. In den letzten Jahren koordinierte er die Anti-Kohlekampagne der Klima-Allianz.
Projektstichwort
Das Netzwerk Local Coordination Committees of Syria (LCCSyria) ist eine Dachorganisation lokaler Komitees, die sich im Zuge des aktuellen syrischen Aufstandes bildeten. Die lokalen Koordinationsausschüsse organisieren Treffen sowie Demonstrationen und tragen per Web 2.0 die aktuellen Entwicklungen. Im LCCSyria arbeiten junge Internetaktivisten mit Menschenrechtlern und Oppositionellen zusammen, die schon seit Jahren im Widerstand gegen das Regime stehen. Das Netzwerk forderte unlängst, dass Baschar al-Assad endgültig abtreten müsse, damit das Land eine demokratische Chance bekommt. Eine international überwachte Konferenz solle eine neue Verfassung erarbeiten. Es müsse verhindert werden, dass Syrien ins Chaos stürze, erklärte das LCCSyria weiter. medico wird dem jungen Netzwerk der syrischen Demokratie solidarisch zur Seite stehen. Zukünftig sind auf unserer Webseite seine Nachrichten zu verfolgen. Das Spendenstichwort lautet: medico.