Das Buch »Das große Schweigen« der Journalistin Gabriele von Arnim handelt: »Von der Schwierigkeit, mit den Schatten der Vergangenheit zu leben«, hier speziell mit denen der Nazizeit; von dem titelspendenden Zusammenhang aus Schuld, Verschweigen und Verdrängen; – daß diese Deutschen von alldem, angeblich, nichts mehr wissen wollen, ergrimmt die Autorin sehr –, und akkurat diese probehalber ihr zu unterstellende Lauterkeit ist es aber auch, die ihr Buch zum Unheil reifen läßt. Gabriele von Arnim schreibt mit vermeintlichem Furor an gegen die »zweite Schuld der Deutschen« (Ralph Giordano), gegen deren »pathologisch gutes Gewissen« (Hendryk M. Broder), gegen den deutschen »Selbstbetrug« (Sebastian Haffner).
Das Ganze, der Lesetort, lohnte nicht der Mühe, offenbarte der Buchsermon sich nicht rasch als wahrscheinlich äußerst signifikant fürs momentane Zeitgeistganze, für dessen prätendiert edlere, in Wahrheit nur dünkelseligere Version. Die Struktur des Buchs ist die der Tirade, des Schlingerns vom Hundertsten ins Tausendste. Wie der von ihr als exemplarisch vorgestellte Filmer Bernhard Sinkel will die Autorin »nicht aufhören zu rütteln«, gleichzeitig deutet sie ihr Werk als eine wohltätig selbsttherapeutische »Bußübung« – und sie unterliegt bei all diesen skurril-hehren Vorsätzen im stilistisch rapiden Wechsel zwischen einem höheren Ton (»Mit der Scham läßt sich schwer rüsten für den Kampf um Marktanteile«) und einer gleichzeitigen und sprachlich bedenkenlosen Hintertreppen-Dramatik (»Wer diese Hölle mit eigenen Augen sah, wer dem Bösen in den Schlund geschaut«) doch nur einem ebenso kuriosen wie auch bedrohlichen, machtvollen und fortschreitenden, fortschlingernden Hirnschwurbel. Nämlich massivst dem von Robert Musil her bekannten Tugut-, hier mehr noch dem Denkgut-Syndrom, welches die von ihm einmal Befallene moralisch derart aufscheucht und mit Reinheit auflädt, daß ihr etwa bei Interviews mit irgendwelchen Reaktionären »schlecht wird«. Nein, nicht daß sie bei ihren Anwürfen und ihren allerdings eher literarisch angemaßten und selbstsuggerierten Verzweiflungen so durchaus und vorab unrecht hätte; aber wie sie über Hunderte von Buchseiten drauf besteht, recht zu haben und trotz härtester innerer Schlachten durchaus gut zu sein, – das ist das Unerträgliche, das macht das durchaus adornoisch »Unwahre« des Ganzen.
Die Kraft der Stabreime
Eine besondere Vorliebe pflegt diese Autorin dabei nicht nur für alle großen und schönen und ihren Benutzer nobilitierenden Wörter (»Trauer«, »Gewissen«,, Reue« »Erinnerung«) insgesamt, sondern, wie schon oben angedeutet, speziell für den Klangreiz der titelzündenden Trias »Schweigen«, »Schwierigkeit«, »Schatten«, die dann noch – die Autorin ist offenbar infiziert, ja richtiggehend verhext durch die alte magische Kraft des Stabreims – um das Pärchen »Schuld« und »Scham« expandiert und zu einem semantisch-klanglichen Schmaddertum der Extraklasse aufblüht: »Schuld und Scham stecken in dem verwünschten Schatten«, »Zwischen Scham und Schuldbewußtsein zu lavieren, das wurde zum Balanceakt«, Ein Schambekenntnis abzulegen, damit hatte ich keine Schwierigkeiten« – nein, weiß Gott nicht, man wird im Gegenteil mit dem Zitieren nicht mehr fertig. »Auf diese meine Art bohrend« entsteht freilich eine Art Binnen-wahnsystem, dergestalt, daß beispielsweise nach der Freudschen »Trauerarbeit« und der Mitscherlichschen »Erinnerungsarbeit« im Jahre 1989 von Gabriele von Arnim ganz nebenbei auch noch die – wortwörtlich »deutsche Schamarbeit« erblüht.
Ist die Geschichte von »Scham und Schuld der Deutschen« auf einen stabreimsatten Schmarren heruntergekommen? Hat der »schweigende Schmerz der Erschütterung« mittlerweile schon allen Sinn zur Strecke gebracht? Gabriele von Arnim hat für ihre Aufzeichnungen und Deduktionen die chronologische, die Form des Tagebuchs gewählt. Die Form des Diariums stellt ihr Leben dar als ein andauerndes Pflichtpensum tagtäglicher Nazi-Bewältigung, als immerwährende Sekundärliteraturlektüre nebst Filme-Rennerei: »... begann in Cordelia Edvardsons Buch zu blättern ...« (30.3.) »Ich sehe mir den Film an, den Eberhard Fechner über den Majdanek-Prozeß drehte. Sitze Stunden im Vorführraum, bin wieder einmal entsetzt, empört, werde müde, stumpfe ab« (4.4.} »Ich lese ein Buch, das es nur noch in Bibliotheken gibt: Der Kastner-Bericht. Über Eichmanns Menschenhandel in Ungarn« (17.4.) – so ein Leben, wenn es denn nicht komplett gelogen und aufs Buch hin gebogen ist, muß einen ja rammdösig machen! Einmal wild entschlossen zu »fassungslosem Betroffensein«, hat sie darüber spätestens beim Schreiben tatsächlich die Fassung verloren. Was aber partout keine Qualität ist sondern nur das Elend rundet. »Ich schlafe schlecht, träume schrecklich, höre schon wieder Auschwitz, so schweige ich und lese und träume von Eichmann. (...) Ich beginne zu begreifen, was Verdrängen bedeutet.« Schlimmer als von Arnims Nichtverdrängen kann es aber auch kaum sein. All dieser Quatsch mit Betroffenheitssondersalbensoße: »Neben mir türmen sich Bücher von Jean Amery, Primo Levi, Saul Friedländer, Alain Finkielkraut (...) Wie gut, daß ›wir‹ jedenfalls die Mitscherlichs (...) und Carola Stern haben« – natürlich, die Schwester darf in dieser lauwarmen immergleichen Gutheits-Brühe auch nicht draußen vor der Türe bleiben. Im Kern pure Selbstbefriedigungen. Die Differenz nicht nur von Teilnahme und l'art pour l'art, sondern auch die von Betroffenheit und schierem Geschwafel hat den Grenzwert Null ja längst erreicht. Eine spezifische und vermutlich sehr aktuell-akute Mixtur aus Selbstbio- und Psychografie, aus Paratheologie und Bewältigungsbelletristik. Was ist von einer Psychologie, von einer volkstümlichen Psychoanalyse zu erhoffen, welche in der Gestalt der Margarete Mitscherlich heute, dies im Ernst aus- und von sich streut: Hitler habe seine Mutter vor dem Krebstod erretten wollen und diese seine »Phantasien« auf Deutschland übertragen – habe die Phantasien aber dann – ergo? – in ihr Gegenteil verkehrt und also Deutschland kaputtgemacht? Doch, doch, im gewappelten & gestiefelten Ernst steht dieser Unfug in den Schriften unserer allseits andächtig gefeierten Vordenkerin – ja, wenn jeder redet, wie es ihm gerade so von ungefähr einfällt, dann sind Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse wahrlich an ihrem von Freud schwerlich so erahnten Ende angekommen. »Stets war ich es doch gewesen, die uns Deutsche verdammt und zur Scham verpflichtet hatte.« Indessen: »Schwer schleppen wir an der Schuld, an der wir unschuldig sind.«
Theoretisch denkbar: Leimt uns Frau v. Arnim mit all ihrer Bewältigungsarbeit mal – der nächste Schritt – Schamkultur? Im Rahmen einer 338seitigen großdisponierten Satire? Leider nein, diese Schrullen und Unholdereien, sie sind schon als barer Ernst geschwafelt: »...das Gas, das Würgen, die Angst, das Ersticken, das Gas – es tut so weh, es klingt so wehleidig aus meinem Mund.«
Verbale Edelvignetten
Das Exempel von Arnim, noch einmal, wäre nicht darstellenswert, wiese es nicht als ein allerdings besonders strotzendes über sich hinaus auf eine Kontinuität, ja schon eine kleine Tradition von hypertropher Anmaßung und Verlogenheit, welche – mal eher aktiv lügend und heuchelnd, mal eher von der eigenen Schwindelei schwindelig geredet – von Horst-Eberhard Richters nimmersatten, unwiderleglich guten Psycho- und Sozioraunereien über Franz Alts Dümmlichkeiten betreffs Friede, Jesus & Eierkuchen bis hin und zurück zum leider sprichwörtlich gewordenen Buchtitel der beiden Mitscherlichs von der »Unfähigkeit zu trauern« (1968) sich spannt; wobei vor lauter Gutheit und Sprichwörtlichkeit nachweislich niemand mehr so ganz genau weiß, was diese verbale Edelvignette von der Trauerunfähigkeit eigentlich genau bedeutet; am wenigsten weiß es die post mortem Alexanders bei der Niederschrift angeblich dominierende Co-Autorin und Witwe – aber freilich, auch der Co-Autor war sich, gleichfalls binnentextlich nachweisbar, ja nicht ganz sicher. Plausibel, daß bei so viel immanenter Schwall- und Schwafelschwersubstanz (doch, dieses Schuld- und Scham- und Sühnezeug steckt wirklich an) in diesem unserem Lande insgesamt und speziell in diesem anscheinend unerschöpflichen Bewältigungsbrocken nicht allein die leider auch labilen Fachkräfte häufig aus den Latschen kippen; sondern nachdrücklicher noch die Nächst-Verwerter, die sich plötzlich aufgerufen fühlenden fiktionalen Tagebuch-Schreiber, welche vom Palavern, vom Salbadern, vom Selbstgespräch des eigenen Kopfunrats stracksest hingemeuchelt werden. Satire? Unfreiwillige Fertigsatire?
Vorletzte Buchseite bei Gabriele von Arnim: »10. Dezember. Die Wochen des Gedenkens sind nun vorbei. Wir gehen zur Tagesordnung über.« Genau. Eine Parodie könnt's triftiger nicht sagen. »Viel Verwirrendes« steht in dem Buch, weiß Gott; vieles schwafelt in den glatten und furchtlos mystelnden Nonsens hinüber; das faselnd sich selbst fortzeugende Gewäsch gebiert dabei, zugegeben, auch etliche reine Blüten: »Die alte Leier. Ich langweile mich inzwischen selbst in meiner Wut. ›Schon wieder Auschwitz‹ – stimmt es denn nicht? Es ist eine Irrfahrt ins Damals und ins Heute.« Und endlich, kurz vorm unseligen Beschluß, packt Gabriele von Arnim auch noch den Aphorismus, erreicht ihr Diarium endlich das Niveau des ›stern‹: »Wer meint, mit Auschwitz fertig zu werden, übersieht die Kleinigkeit, daß Auschwitz mit ihm noch nicht fertig ist.« Die »Unkrautzupferin der Nation« nennt sich Gabriele von Arnim eingangs so rinserisch kokett wie fälschlich. Nein, ihr Metier ist schon vielmehr das Säen und simultane Ernten von Kraut und Rüben. Sowie das Knacken von Nüssen, die kein anderer Hackspecht packen möchte.
Gabriele von Arnim, »Das große Schweigen«, Von der Schwierigkeit, mit der Vergangenheit zu leben«, Kindler Verlag 1989, 344. S., geb. 36.00 DM