Die andere Welt ist schon da!

21.06.2007   Lesezeit: 5 min

Soziale Kämpfe verknüpfen – Für globale Gerechtigkeit. Der Rundschreiben-Kommentar von Thomas Gebauer

Globalisierung, Gesundheit, Gerechtigkeit – betrachtet man die Begriffe kritisch, werden die komplexen Zusammenhänge des Elends in der Welt deutlich. Es ist die wachsende Ungleichheit, die den Teufelskreis aus Armut und Krankheit in Gang hält und dabei auch das Projekt menschengerechter globaler Verhältnisse gefährdet. Längst steht fest, dass die Krise der Weltgesundheit nicht vor den Grenzen der wohlhabenden Länder halt machen wird. Gesundheit ist weder punktuell, noch auf Dauer nur für wenige Privilegierte zu verwirklichen. Die konkrete Utopie weltgesellschaftlicher Verhältnisse gelingt nur dort, wo "Gesundheit für alle" gilt und allen Menschen soziale Gerechtigkeit zu teil wird.

Das hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkannt, als sie vor bald dreißig Jahren in Alma Ata das "Konzept der Basisgesundheitsversorgung", die "Primary Health Care-Strategie" (PHC) verabschiedete. Das Ringen um menschliches Wohlbefinden, so die Einsicht der WHO, verlange mehr als das Verteilen von Pflastern und Pillen. Nicht Ärzte, Krankenhäuser oder Medikamente entscheiden über die gesundheitliche Lage eines Landes, sondern dessen politische und soziale Verhältnisse.

Nicht zuletzt im revolutionären Nicaragua der früher 80er Jahre zeigte sich die Kraft, die in der PHC-Strategie steckt. Innerhalb kürzester Zeit gelangen die Senkung der Kindersterblichkeit, die Zurückdrängung der Malaria und der Aufbau eines demokratischen Gesundheitswesens. Nicaragua wurde zum Modellland der WHO, das über seine Grenzen hinaus auszustrahlen begann. Dabei geriet es freilich auch ins Visier derjenigen, die weniger die Rechte der Menschen als die Freiheit der Kapital- und Warenströme im Auge haben. Mit einem brutalen Abnutzungskrieg wurde das Projekt Nicaragua abgewürgt, um die "Gefahr des guten Beispiels", wie Noam Chomsky damals schrieb, aus der Welt zu schaffen.

Trotz der Rückschläge hat das PHC-Konzept nichts an seiner Gültigkeit verloren. Noch immer straft es all jene Lügen, die Gesundheitsförderung als ein "weiches Thema" abtun wollen, das nicht von den "harten Sphären" der Weltwirtschaft beeinflusst wird. So beispielsweise die G8-Staaten, die zwar vollmundig Krankheiten wie HIV/AIDS oder der Tuberkulose den Kampf angesagt haben, aber zugleich auf die Durchsetzung wirtschaftsliberaler Strategien setzen, zu denen auch die Umwandlung von Gesundheit in eine für Millionen von Menschen kaum noch erschwingliche Handelsware zählt.

Es ist höchste Zeit, das Bemühen um die so genannten Millennium Development Goals (Milleniums-Entwicklungsziele), die von den Staats- und Regierungschefs zum Jahrtausendwechsel feierlich verkündet wurden, vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nicht punktuelle, von oben nach unten durchgeplante Eingriffe, wie landesweite Impfprogramme bringen nachhaltige Veränderungen, sondern nur deren Einbettung in eine Strategie, die alle Ursachen von Krankheit, auch die sozialen, berücksichtigt. Es ist höchste Zeit, sich an den PHC-Ansatz zu erinnern, der in all den Jahren von kritischen Gesundheitsarbeitern weiterentwickelt wurde und weitgehend unbemerkt vom entwicklungspolitischen Mainstream soziale Basisprojekte dazu befähigt hat, eine gesündere Welt bereits heute Realität werden zu lassen.

Voller Bewunderung musste kürzlich die Weltbank feststellen, dass man von NGOs auch lernen könne. Beispielsweise von "Gonoshasthaya Kendra" (GK) in Bangladesh, das in seinem Wirkungsbereich eines der Entwicklungsziele, nämlich die Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel, bereits erreicht hat – zehn Jahre früher als geplant. 1,7 Mio. Menschen betreut GK und ist damit nach dem Gesundheitsministerium der zweitgrößte Anbieter von Gesundheitsdiensten in Bangladesh.

Gesundheit, das lehrt das Beispiel von GK, gelingt, wo die Forderungen des PHC-Konzeptes nach Integration, Partizipation, Autonomie und politischer Einbindung konsequent umgesetzt werden.

Gesundheit muss auf die Dörfer gehen und sich aktiv einmischen. Man darf nicht darauf warten, dass Arme und Kranke den Weg in irgendwelche schlecht ausgestatteten Versorgungsstationen finden. Gefragt sind entschlossenes Engagement und integrierte Ansätze, mit denen eine umfassende Antwort auf die sozialen Nöte der Menschen gegeben werden kann. GK verbindet seine Gesundheitsbemühungen mit Bildungsarbeit und der beruflichen Förderung von Frauen.

Notwendig ist die soziale Verankerung vor Ort. Im Falle von GK sorgen dafür "Dorfentwicklungskomitees", aber auch die Tatsache, dass die Gesundheitsarbeiter, die "paramedics", aus den Dörfern selbst stammen. So ist gewährleistet, dass sich Partizipation nicht auf Handlangerdienste zur Umsetzung einer von außen übergestülpten Hilfe beschränkt.

So bedeutsam ärztliches Handeln sein mag, so notwendig ist seine Entmystifizierung im Alltag. Das beginnt damit, dass die Krankenakten von den Familien selbst aufbewahrt werden und endet mit eigenen Produktionsanlagen für Arzneimittel. Ohne die Überzeugung, es nicht nur selbst tun zu müssen, sondern es auch selbst tun zu können, hätte es GK niemals geschafft, eigene Hospitäler aufzubauen, eine medizinische Fakultät zu etablieren, Kindergärten, Berufsbildungsprogramme für Frauen, Druckereien, Kleiderfabriken zu unterhalten und obendrein noch ein solidarisches Krankenversicherungssystem anzubieten.

Falsch wäre es, aus solcher Autonomie die Idee abzuleiten, man könne die staatlichen Institutionen aus ihrer Verantwortung entlassen. Mit einer eigenen, aber überaus sympathischen Variante des "Förderns und Forderns" hilft GK vernachlässigten Bevölkerungsgruppen und fordert zugleich von den Behörden, selbst Verantwortung zu übernehmen. Nicht einem autoritären Wohlfahrtsstaat wird dabei das Wort geredet, wohl aber der Schaffung eines gesetzlichen Rahmens, der an den sozialen Rechten der Menschen ausgerichtet ist.

Es ist auch die bessere Strategie, die GK und die anderen Initiativen des "Peoples Health Movement" zur Kritik an den Beschlüssen des G8-Gipfels legitimieren. Gemeinsam mit Health Action International, dem Third World Network und vielen anderen internationalen Netzwerken fordern sie nicht nur ein Ende der Kommerzialisierung von Gesundheit, sondern drängen auch auf die Durchsetzung jener globalen sozialen Rechte, die allen Menschen überall auf der Welt ein würdiges Leben ermöglichen.


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