»Das Schöne, das Schöne unter Menschen ist seit jeher das, was ihnen verlorenging … ist, was sie ihrem Wesen nach versprechen zu sein und ihrem Wesen nach nie einhalten können.
Die natürlichen Lebensgrundlagen mögen durch künstliche ersetzt werden. Die Zerstörung der Natur macht den Menschen zweifellos erfinderisch. Zerstört man aber das anschauliche Vermögen, so wird ihm jeglicher Schönheitssinn geraubt.
Aber nein! Auch Maschinen, Fraktale, virtuelle Räume beanspruchen den Schönheitssinn und zeugen adäquat, zeugen von Vielfalt und Reichtum der Formen, welche die der verschwundenen Natur bei weitem übertreffen! Die Sinne werden nicht abgestumpft, sie werden im Gegenteil feiner und wendiger, die Artistik des Bewußtseins nimmt zu.
Alles ist künstlich und künstlich erzeugbar. Träume, Kinder, Weltbilder. An die schöpferische Naturwidrigkeit ist der Mensch gefesselt. In Wahrheit ist seine Geschichte ein unaufhörliches Programm der Verkünstlichung. Nicht eine Pflanze im Garten, wie Gott sie schuf. Alles gezüchtet, bearbeitet, veredelt. Genmanipuliert. Nun denn: veredeln wir uns! Kristallisieren wir, technifizieren, artifizialisieren wir das Beste vom Menschen und bewahren es vor seinem geschichtlichen Untergang!
Möglich, daß sie Edle erschaffen werden, deren Leben nicht mehr von äußeren Eindrücken, geschichtlichen Lagen etc. abhängt, sondern allein von inneren Vorspiegelungen und Stimulationen. Ein hermetisches, erhöhtes, zeitentbundenes Erleben, das ungerührt und ohne Widerspiegelung durch Ödnis und Chaos, Schrott und Ramsch seinen Weg bahnt.
Der Gedanke, den ich am meisten hasse: daß die Ähnlichen, die Menschenähnlichen es schaffen werden. Daß eine technische Geistigkeit, sehr hochstehend, sehr sublim, alles ablösen wird, was der Mensch mit Würde als sein Dilemma durch die Jahrhunderte schleppte. Was ihm Anlaß zu Trost und Verzweiflung, zum Nachdenken und zur Besinnungslosigkeit bot. Die Unglücklichen sind dann alle umsonst unglücklich gewesen. Nicht Auflösung, sondern Ablösung ohne Rest, ohne Mangel oder Mangelgefühle zu hinterlassen.
Die künstlerische und intellektuelle Kultur beherrscht in der heutigen Öffentlichkeit ein Majoritätsrest, die Mehrheit sind Übriggebliebene einer verfallenden Betrachtungsweise. Kein Wunder, daß ihrem Aussterben eine giftige Wut entweicht, die sich nicht gegen die Ähnlichen richtet, die unvermeidlich sind, sondern gegen den militanten Anachronisten, der in der Revolte des Abschieds (für den sie nicht das geringste Gespür besitzen) seinen Stand sucht. Vergeblich, zweifellos, und doch nach Art der Rhapsoden seit jeher, die das Vergangene, Verlorene als einziges Hab und Gut mit sich führen, Davonziehende immer, nichts anderes im Sinn als die Sonne und daß nichts Neues unter ihr.
Botho Strauss