Nicaragua/El Tanque: Ein Entwicklungsbericht von Walter Schütz aus Managua.
In diesem Jahr jährt sich zum fünften Mal der Jahrestag von Hurrikan Mitch, ein Schlüsseldatum in der jüngeren Geschichte Nicaraguas und Mittelamerikas. Denn an dem Naturereignis macht sich fest, was als strukturelle Katastrophe tagtäglich vorhanden ist. Mittelamerika, so bescheinigt eine Mitteilung des World Food Programs, stehe vor einer Hungersnot aufgrund wiederholter Naturkatastrophen und sinkender Kaffeepreise. medico hat mit der Unterstützung von Mitch-Opfern, die sich eine eigenständige Existenz als Kleinbauern aufbauen, versucht deutlich zu machen, dass es Alternativen zur um sich greifenden Armut gibt. Im nach der Katastrophe von Mitch-Überlebenden neu errichteten Dorf El Tanque zeigt sich, dass Not- und Entwicklungshilfe dann erfolgreich ist, wenn sie sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an Planzahlen und Mittelabflussdruck.
Worin aber bestehen die Bedürfnisse der Menschen? Wie und wer befriedigt sie? Und wie entstehen und entwickeln sich neue soziale Beziehungen in einer zusammengewürfelten Gemeinschaft aus Überlebenden einer Katastrophe, die Schutz und Sicherheit gewährleisten? Fragen aus den Mühen der Ebene in El Tanque.
Zum Jahresende bewegten wir uns in El Tanque wieder einmal in eines der Tiefs im Auf und Ab der Projektentwicklung. Martha, die verantwortlich ist für die Erwachsenenbildung im Dorf, registrierte, dass immer mehr Erwachsene der Fortbildung fern blieben (desertierten – wie sie es bezeichnete). Auf der monatlichen Koordinierungssitzung von Mitarbeitern des Projekts versuchten wir herauszufinden, worin die Gründe lagen. Wir stellten fest, dass das didaktische Material des Erziehungsministeriums nichts mit der Realität der Tanqueros zu tun hatte und begannen, unser eigenes Material zu entwickeln. Außerdem besuchten viele, die eigentlich an dem Kurs in Alphabetisierung und Mathematik teilnahmen, die zeitgleich stattfindende Messe der kleinen protestantischen Sekte, die mittlerweile auf dem zentralen Platz von El Tanque ihre Kirche errichtet hat. Um nicht einen Kirchenkrieg zu beginnen, beschlossen wir mit den Predigern zu reden. Wir schlugen ihnen vor, die Messe zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Sie waren einverstanden. Die Prediger wollten genauso wie wir, dass die Leute etwas lernten.
Nun stellt sich aber die Frage, warum die Taqueros so begeistert die Messe der Evangelikalen besuchen. Ich verstand das nicht. Also besuchte ich mit einer guten Freundin den Sonntagsgottesdienst in ihrem Dorf. Dort wurde mir klar, warum die Menschen dort hingehen. Sie suchen Spiritualität und Identität, die es in Nicaragua wegen seiner unaufgearbeiteten Geschichte nicht gibt. Sie singen gemeinsam, auch wenn es manchmal ein bisschen schräg klingt. Sie beten gemeinsam. Manche haben dabei ein ganz tiefes Meditationserlebnis. Sie umarmen sich, sie fassen sich an den Händen und unterhalten sich nach dem Gottesdienst vor der Kirche. So bilden sie ein soziales Netz, das ihnen Sicherheit und Geborgenheit gewährt. Sie sind eine Gemeinde.
Was hat das mit unserem Projekt zu tun? Nun, auch wir erheben den Anspruch, Gemeindeentwicklung zu fördern. Was ist uns daran nicht gelungen? Nach reiflicher Überlegung kamen wir zu dem Schluss, dass der Einfluss der Kirche in dem Moment wuchs, als die Bewohner von El Tanque ihre Landtitel erhalten hatten. Das Land besetzten, die Häuser bauen, um die Landtitel kämpfen – das war das einigende Band in der Gemeinde. Als dieses Ziel erreicht war, bestand außer diesem Erfolg keine gemeinsame Identität. Die Menschen kamen aus verschiedensten Dörfern und hatten kein gemeinsames Gemeindebewusstsein. Es gab das kollektive Trauma der Mitch-Katastrophe. Aber das wurde mit dem Kampf um die Landtitel kompensiert. Und mit dem Trauma beschäftigten sich unsere Psychologinnen. Wir fragten uns, ob wir über die Beschäftigung mit dem Aufbau der Häuser und der Entwicklung einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die wenigstens die Existenzsicherung der Familien gewährt, die Kommunalentwicklung zu sehr vernachlässigt hatten.
Um zu verstehen, welche Bedürfnisse die Evangelikalen in El Tanque befriedigen, beschäftigten wir uns mit Überlegungen des chilenischen Ökonomen Manfred A. Max-Neef. Er hat eine Theorie von menschlichen Grundbedürfnissen entwickelt, mit der er die Möglichkeit einer Ökonomie von unten begründet. Eine Barfuß-Ökonomie, wie wir sie ja auch in El Tanque anstreben. Nach seiner – hier verkürzt – dargestellten These ist es weder der staatlichen Entwicklungspolitik noch dem Neoliberalismus gelungen, die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Um zu einer »Entwicklung nach menschlichem Maß« zu gelangen, müssten marginalisierte Gemeinden und ihre Mitglieder autonom von unten agieren. Um die Bedürfnisse und Wünsche dieser Menschen festzustellen, entwickelte Max-Neef ein System von neun Grundbedürfnissen. Sie bestehen aus: Subsistenz, Sicherheit (Schutz), Affekt, Verstehen, Partizipation, Kreativität, Identität, Freiheit und Muse. Alle Gesellschaften streben danach, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Werden eines oder mehrere davon, so Max-Neef, nicht befriedigt, dann entstünden kollektive Pathologien. Max-Neef spricht von Armut oder Armuten. Auch in hochindustrialisierten Ländern gebe es einen »Kipp-Punkt«, an dem trotz Wirtschaftswachstum die Lebensqualität der Bürger abnehme, wo also auch Armuten auftauchen.
Max-Neef kategorisiert auch die Wege, wie die Bedürfnisse – manchmal auch nur scheinbar – befriedigt werden. Dazu zählen negative »Befriediger« wie der paternalistische Autoritarimus, der zwar scheinbar dem Bedürfnis auf Schutz entgegenkommt, aber den Affekt, das Verstehen, die Partizipation, Kreativität, Identität und Freiheit behindert. Zu den Pseudobefriedigern zählt er auch den chauvinistischen Patriotismus. Aber es gibt auch das Gegenteil, Synergieeffekte, bei den gleich mehrere Bedürfnisse angesprochen werden: zum Beispiel gut gemachte Erwachsenenbildung (Schutz, Kreativität, Teilhabe, Subsistenz) .
Wir haben versucht, die Überlegungen von Max-Neef auf El Tanque anzuwenden. Denn es ist klar, all diese Kategorien sind vor allen Dingen ein Mittel, um die negativen und positiven Seiten von Gesellschaften, aber auch von Individuen besser zu verstehen und daraus ableitend Ziele zu formulieren: Woher kommen wir, wo stehen wir, wohin wollen wir?
Zu El Tanque lässt sich nach diesen Kategorien folgendes sagen. Es ist klar, in der Subsistenz sind wir stark. In El Tanque gibt es Häuser, Nahrung, Arbeit, Agrarproduktion, Kleinbetriebe, Kreditsysteme, Gesundheitsversorgung. Große Probleme bereitet uns das Bedürfnis nach Schutz. Zwar bietet auch die gesicherte Subsistenz maßgeblichen Schutz. Die Übergabe der Landtitel vermittelte eine enorme Sicherheit. Dort, wo die Familien stabil sind, auch diese. Aber darüber hinaus ist das sozialen Netz eher schwach entwickelt. Es fängt bereits damit an, dass die Mütter nicht selbstverständlich wissen, bei welcher Nachbarin sie ihre Kinder lassen können, wenn sie mal schnell weg müssen. Außerdem haben die Menschen große Ängste, bestohlen zu werden. Welche reale Grundlage diese Ängste haben, darüber lässt sich spekulieren. Aber die Ängste sind vorhanden und müssen ernst genommen werden. Gefahr droht von außen, aber auch innerhalb von El Tanque. Bis heute ist es uns nicht gelungen, Nachbarschaftswachdienste aufzubauen. Es gibt gute Beziehungen zur Polizei in Posoltega. Aber die haben nicht einmal ein Fahrrad, um nach El Tanque zu kommen. Auch zu den Gerichten gibt es gute Kontakte. Aber dort stauen sich die Entscheidungen. Was den Affekt angeht, ist die Bilanz ebenfalls kritisch. In einer kleinbäuerlichen Gesellschaft ist das natürlich ein Tabu-Thema. Zugleich gibt es gerade zwischen den Lebenspartnern viel Gewalt. Außerdem stellten wir fest, dass wir viel zu wenig über die emotionalen Beziehungen der Bewohner von El Tanque wissen, um über sie reden zu können. Auch unsere Psychologen können kaum Aussagen dazu treffen, außer der von »mucha violencia«, viel Gewalt. Aber auch, wenn es um andere Affekte geht, die vielleicht nicht ganz so intim sind, gibt es wenig Wissen. Warum, zum Beispiel gelingt es dem Ehepaar in der Parzelle 142 ihre gesamt Produktion erfolgreich zu diversifizieren. Sie bauen Bananen und Maracuja an, dazu Auberginen, Papayas, drei verschiedene Bohnensorten, Hirse, Mais, Gewürze und Zitrusfrüchte. Und das alles auf biologischer Basis. Handelt es sich hierbei nicht auch um eine affektive Beziehung zur Erde? Und welche Schlüsse kann man daraus ziehen?
Das Bedürfnis nach »Verstehen«. Dazu haben wir einiges getan. Die Vorschule und die Grundschule im Dorf funktioniert gut und erreicht die Kinder. Auch die Erwachsenenbildung läuft besser, seit wir die neuen Materialien entwickelt haben.
Aber was ist mit Partizipation, Freiheit und Muse? Ganz zu schweigen von der Identität, die sich offenbar sehr gut in der Kirche vermittelt. Alles Fragen, die es zu beantworten gilt, wenn wir die Mühen der Ebene in El Tanque meistern wollen. Klar ist, dass wir uns stärker um die Gemeindeentwicklung bemühen müssen. Fortsetzung folgt.
Die Arbeit in El Tanque geht weiter. Und sie bleibt bei allen Problemen, die hier geschildert wurden, vorbildhaft. Die nicaraguanische Regierung ist an medico herangetreten in der Hoffnung, es ließen sich ähnliche Projekte bei völlig verarmten Kaffeearbeitern verwirklichen. Sie haben bei der Regierung Landtitel durchgesetzt und wollen nun auf einer Finca eine Gemeinde aufbauen. medico hat eine Studie finanziert, um festzustellen, ob und was sich von dem Modell »El Tanque« übertragen ließe. Finanziert werden kann die weitere Arbeit in El Tanque und auch mit den Kaffee-Arbeitern nur mit Ihrer Unterstützung. Deshalb Ihre Spende auf das Stichwort: Nicaragua